Befreiung als Chance und Risiko

Die SPD sollte der Linkspartei nicht hinterherlaufen, sich aber auch nicht treiben lassen. Stattdessen sollte sie selbstbewusst eigene Akzente setzen, damit nicht Andere darüber entscheiden können, was Sozialdemokraten zu tun und zu lassen haben

Die SPD beginnt zu realisieren, dass sie in ganz Deutschland ein Problem hat, das in Ostdeutschland schon lange besteht: Die Linkspartei macht es schwerer, Koalitionen unter der Führung der SPD zu bilden. Man kann es beklagen und falsch finden, doch bleibt die Tatsache, dass die Linkspartei sich als fünfte Kraft im deutschen Parteiensystem etabliert. Alle Beschimpfungen und Ausgrenzungsversuche haben diese Entwicklung nicht verhindert, im Gegenteil sogar wohl noch verstärkt. Dies zu erkennen, ist die Voraussetzung für die Entwicklung einer klugen Strategie, die die Rückeroberung der politischen Führung der Sozialdemokratie zum Ziel hat.

Die CDU hat die Situation schon lange erfasst. Die berühmte „Rote-Socken-Kampagne“ des Jahres 1994 war zum einen taktisch darauf ausgerichtet, das eigene Lager zu motivieren und potenzielle SPD-Wähler zu irritieren. Zum anderen ging es strategisch darum, der SPD einen bestimmten Platz im Parteiensystem zuzuweisen, indem die Union die Zusammenarbeit mit der neuen Kraft im Parteienspektrum zum Tabu erklärte. Der SPD werden Überlegungen nicht gestattet, ob sie mit der Linken eine Politik betreiben kann, die eine Mehrheit hat und mehr sozialdemokratische Elemente enthält als Koalitionen mit der Union oder der FDP. Auf Bruch dieses Tabus steht als Strafe eine massive politische und publizistische Kampagne gegen die SPD und dadurch die Gefahr erheblicher Stimmenverluste bei jenen Wählern, die geläufig als „Mitte“ bezeichnet werden.

In welch absurde Situationen die SPD unter diesen Vorzeichen gelangt, zeigen die Landtagswahlen in Hessen und Hamburg. Angesichts der Sturheit der FDP hatte die SPD keine andere Möglichkeit, die CDU aus der Landesregierung zu verdrängen, als mit der Linken zu kooperieren. Währenddessen kann Ole von Beust in Hamburg gemütlich mit den Grünen reden – weil für die SPD die Linkspartei als Koalitionspartner ja nicht in Frage kommt. Darüber, dass die CDU die Grünen noch vor kurzem als Untergang des Abendlandes betrachtete, spricht selbstverständlich niemand mehr, am wenigsten die Union.

Die SPD muss agieren

Sicher ist eine Zusammenarbeit mit der Linkspartei in einigen Bundesländern nicht sinnvoll. Doch muss dies nicht überall so sein und so bleiben. Der kategorische, ungeprüfte Verzicht auf diese Option kettet die SPD an die CDU. Zerreißen kann diese Ketten nur die Sozialdemokratie selbst.

Die SPD kann hoffen, dass sich die Linkspartei selbst erledigt – aufgrund interner Konflikte, schlechter Parlamentsarbeit oder aufgrund von Skandalen. Vor allem aber muss die SPD agieren und ihren Teil dazu beitragen, die Linkspartei durch die eigene, engagierte, glaubwürdige und wirksame soziale Politik verschwinden zu lassen. Aber dafür muss die SPD endlich begreifen, dass sich zu ihrer Linken eine Partei im Bewusstsein jener Leute verankert, die den Sozialdemokraten das Versprechen, tatkräftig für soziale Gerechtigkeit einzutreten, nicht mehr abnehmen. Es reicht eben nicht, die Linkspartei als „Altkommunisten und Sektierer“ abzuqualifizieren. Wie gehen die Wähler der Linkspartei mit dieser Beschimpfung wohl um? Die ständigen Verweise auf die SED-Vergangenheit erscheinen ihnen vermutlich nur als Ablenkungsmanöver. Nach dem Motto: Wer das nötig hat, verfügt offenbar über wenig Argumente – und ist der eigentlich Ewiggestrige.

Vielmehr muss die SPD Antworten auf die Fragen der Menschen finden, die sich der Linkspartei zuwenden. Nur wenn sie sich mit der Linkspartei und deren Positionen erkennbar auseinandersetzt, kann die SPD Wähler zurückgewinnen. Und wenn sie selbst ein Politikangebot macht, das die Menschen überzeugt. Ausgrenzung unterstreicht nur den Protestcharakter der Linkspartei und verstärkt die Identifikation derjenigen mit der Linkspartei, die sich in der Gesellschaft ungerecht behandelt und ausgegrenzt fühlen, ja es in vielen Fällen tatsächlich sind.

Was die SPD – und ganz Deutschland – braucht, ist ein selbstbewusster und sachlicher Umgang mit der Linkspartei. Wie auch im Verhältnis zu den anderen demokratischen Parteien muss diese Strategie auf zwei Säulen beruhen: Erstens ist die Linkspartei ein politischer Gegner und zweitens ein potenzieller Koalitionspartner.

Schließlich liegen im Fünf-Parteien-System für die SPD und für eine soziale Politik in Deutschland auch enorme Chancen. Ähnliche Veränderungen in der Parteienlandschaft gab es, als die Grünen aufkamen. Auch damals wurden deren Wahlerfolge vor allem als Schwächung der SPD wahrgenommen. Tatsächlich waren die meisten Unterstützer der Grünen frühere Anhänger der SPD. Doch es kamen weitere Wähler hinzu. Nachdem die Grünen eine realpolitische, „vernünftige“ Partei geworden sind, entstand so eine neue Konstellation: Der SPD erwuchs ein neuer potenzieller Koalitionspartner. Gemeinsam brachten beide Parteien mehr Abgeordnete in die Parlamente als vorher die SPD alleine. Ohne die Grünen hätte Helmut Kohl 1998 wahrscheinlich weiterregiert.

Warum die CDU den Teufel an die Wand malt

Wie ist die Lage heute? Bei mehreren Landtagswahlen haben SPD und Linkspartei zugelegt, während die Union Stimmen verlor – auch an die Linkspartei. Im Deutschen Bundestag gibt es eine parlamentarische Mehrheit von SPD, Grünen und Linksfraktion. Alle Umfragen ergeben, dass CDU, CSU und FDP deutlich unter 50 Prozent erhalten würden, während SPD, Grüne und Linkspartei deutlich darüber lägen.

So wie es früher ein zentrales Interesse der Union und der FDP war, eine Zusammenarbeit der SPD mit den Grünen zu skandalisieren, muss sie heute aus purem Machterhaltungstrieb alle publizistischen Möglichkeiten mobilisieren, um im Falle einer rot-rot-grünen Zusammenarbeit den Teufel an die Wand zu malen. Der daraus resultierende öffentliche Druck ist für die SPD ein reales Problem. Doch anstatt sich wegzuducken und sich brav den Vorstellungen der Konservativen zu beugen, sollte die SPD selbstbewusst ihre Linie eigenständig definieren!

Es stimmt, die SPD darf der Linkspartei nicht hinterherlaufen. Aber sie darf ebenso wenig getrieben werden. Die linke Volkspartei SPD will für ihre Politik, die unterscheidbar von den anderen Parteien bleiben muss und bleiben wird, ein Maximum an Unterstützung erhalten und am Ende eine Regierungsmehrheit hinbekommen. Da ist das „Hinterherbeten“ von Koalitionstabus, die andere aus eigenem Machtinteresse definieren, kontraproduktiv.

In Berlin kräht kein Hahn mehr

Das Beispiel Berlin ist doch eindringlich genug: Die langen Jahre in der Großen Koalition haben die SPD innerlich nachgerade zerfressen. Union und FDP waren zusammen nicht stark genug für eine Koalition, doch auch für die SPD mit den Grünen reichte es nicht – eben weil es da noch die PDS gab, mit der die SPD jedoch nicht durfte. Mit jeder neuen Regierungsbeteiligung als Juniorpartner wurde die SPD kleiner und kleinmütiger, bis der historische Zufall half: der Bankenskandal. Klaus Wowereit und einige Mitstreiter hatten die Gunst der Stunde erkannt und auch gegen innerparteilichen Widerstand entschlossen zugepackt: raus aus der Großen Koalition, Wahl zum Regierenden Bürgermeister mit den Stimmen der PDS, Minderheits-Übergangssenat mit den Grünen, Neuwahlen ohne Ausschluss irgendeiner Koalition außer mit der CDU – und schließlich nach dem Scheitern der Ampel-Verhandlungen Bildung einer Koalition mit der PDS.

Damals wurde gewarnt, der SPD würden die „Scheißebrocken um die Ohren fliegen“. Doch selbst gegen die geballte Kampagne der Springer-Presse gelang das Experiment. Der Mehrheit der Berliner war die künftige Politik wichtiger als Tabus. Heute kräht in Berlin kein Hahn mehr danach. Die Leute freuen oder ärgern sich über die Regierungspolitik, aber die Linke wird im Grundsatz von anderen Parteien nicht unterschieden. Und: Die PDS wurde entzaubert. Sie hat ganz vernünftige Politik (mit)gemacht. Seit Jahren fliegt die Linkspartei überall von Wahlerfolg zu Wahlerfolg, doch bei den letzten Wahlen in Berlin im Jahr 2006 hat sich ihr Stimmanteil fast halbiert.

Das Berliner Beispiel zeigt, dass es auch gehen kann, ohne sich den Vorwurf des Wortbruchs einzuhandeln. Das ist aktuell wohl das Hauptproblem der SPD: Sie hat die Zusammenarbeit mit der Linkspartei im Westen so lange und so entschieden abgelehnt, dass die angelaufene Kampagne gegen rot-rot besser verfangen kann, weil nun die Frage der Glaubwürdigkeit damit verbunden ist. Die Öffnung zur Linkspartei ist richtig, doch der gewählte Weg dahin war nicht gut.

Aber jetzt ist die Lage, wie sie ist. Die Absage an eine Zusammenarbeit mit der Linkspartei auf Bundesebene wird der SPD kaum noch jemand glauben. Es könnte also sein, dass dieser Beschluss schneller korrigiert wird, als es sich heute viele vorstellen. Wie wird die Partei im Jahr 2013 wohl diskutieren, wenn die SPD eine weitere Legislaturperiode als Juniorpartner der Union hinter sich hat und eine eigene Mehrheit ohne Linkspartei nicht erreichbar ist?

Deshalb sollte die SPD weder ausgrenzen noch sich anbiedern, weder die Koalition mit der Linkspartei anstreben noch diese ausschließen. Stattdessen sollte sie souverän und selbstbewusst eigene Akzente setzen und sich nicht von außen diktieren lassen, was man zu tun hat. Für die eigene Politik werben und schließlich entscheiden, mit wem am besten sozialdemokratische Politik durchgesetzt werden kann. Was in Berlin, der Stadt der Teilung ging, sollte auch woanders gehen können. Schon heute sagt knapp die Hälfte der Deutschen, dass eine Koalition mit der Linken im Einzelfall geprüft werden sollte. Es ist nicht leicht. Auch im Gefängnis der Großen Koalition kann man es sich ganz nett einrichten. Doch die SPD sollte das Risiko der Befreiung gehen.

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