Die Freiheit nehm ich mir

Warum hat die SPD in den vergangenen Jahren Wahl um Wahl verloren? Schuld war weniger der Inhalt ihrer Reformpolitik als das Fehlen einer Kultur der lebendigen demokratischen Debatte. Die Große Koalition bietet die Chance zu ihrer Erneuerung

„Gerechtigkeit verlangt die faire Berücksichtigung unterschiedlicher Interessen, die Bereitschaft und auch die Fähigkeit, sie begründet und kontrollierbar abzuwägen und sich dazu der demokratischen Öffentlichkeit, dem wichtigsten Medium einer lebendigen und stabilen Demokratie, zu stellen.“
Gesine Schwan

Die SPD hat in den letzten Jahren reihenweise Wahlen verloren – zuletzt die zum Deutschen Bundestag. Die Gründe für diesen anhaltenden Entzug von Unterstützung sind noch nicht aufgearbeitet. Es wird Zeit dafür. Will sie wieder Siege einfahren, muss die SPD mehr erneuern als die Führungsspitze.

Mit Gerhard Schröder ist nicht nur eine unpopuläre Politik abgewählt worden, sondern auch ein Politikstil. Ein Stil, der Reformtempo mit Hektik verwechselte, Standhaftigkeit mit sturem „Augen zu und durch“, Führungsstärke mit Einzelkämpfertum. Die Agenda 2010 wurde nicht nur schlecht kommuniziert. So notwendig und im Grundsatz richtig sie war: Einige Elemente der Reformpolitik waren nicht gut durchdacht und schlecht aufeinander abgestimmt. Es gab nicht nur „handwerkliche Mängel“, sondern auch echte politische Schwachstellen. Natürlich: Fehler passieren, das ist kaum zu vermeiden. Doch das eigentliche Problem war, dass die Fehler systematisch im Willensbildungsprozess angelegt waren. Es mangelte an Debattenkultur.

Jeder, der Verantwortung trägt, kennt das Phänomen: Irgendwann hat man keine Lust und keine Kraft mehr zu debattieren. Alles ist schon im kleinen Kreis durchgekaut worden. Dann tagt die Mitgliederversammlung oder die Fraktion, und dort fangen die Leute von vorne an zu diskutieren. Die Reaktion der Führung ist programmiert: „Die kommen doch aus dem Mustopf.“ – „Die sehen das Große und Ganze nicht.“ – „Wenn man jetzt das Paket aufschnürt, kriegt man es nie wieder zu.“ – „Unpopuläre Entscheidungen müssen nun einmal durchgezogen werden.“ – „Die Gegenseite darf nicht die Chance bekommen, sich zu formieren.“ Auch der Verweis auf tatsächlichen oder vermeintlichen „Zeitdruck“, auf die „Sachzwänge“ fehlt in solchen Situationen selten.

Schlecht, ungerecht oder wirkungslos?

Nach diesem Muster wurden Vorhaben durch den Bundestag gebracht. Innerhalb der Fraktion, den Ausschüssen und im Plenum fanden Diskussionen häufig nur noch der Form halber statt. Allein der Vermittlungsausschuss durfte mitwerkeln – und verschlimmbessern. Das Resultat: Viele richtige Maßnahmen, aber auch viele kritische Entscheidungen. Im Ergebnis konnte die Reformpolitik wahlweise als handwerklich schlecht gemacht, ungerecht oder wirkungslos beschrieben werden. Die Kritiker behielten an einigen Stellen Recht. Von der neuen Arbeitsvermittlung über die berufliche Qualifizierung bis zum Umgang mit älteren Arbeitslosen: Es lief teilweise einfach nicht gut. Mit mehr Ruhe und einem ordentlichen parlamentarischen Beratungsverfahren wäre das vermeidbar gewesen. Manche Schwachstelle brachten Parlamentarier bei den wenigen Gelegenheiten zur Sprache – meist ohne Wirkung. Statt die Entwürfe der Exekutive in einer ernsthaften Debatte zu prüfen, wurde die Loyalität der Regierungskoalition strapaziert. Wer die Gefolgschaft verweigerte, den stempelte man zum „Abweichler“, der fahrlässig das „rot-grüne Projekt“ gefährde. Und immer musste alles ganz schnell gehen. Wohl auch, damit im Wahljahr 2006 Ruhe herrschen und erste Erfolge sichtbar würden. Die Folge dieser Strategie: Neuwahlen schon 2005.

Ist es altmodische Politromantik, sich einen Willensbildungsprozess mit ehrlicher Debatte und begleitet durch die kritische Öffentlichkeit vorzustellen? In der Praxis sehe ich vier große Hürden. Ich nenne sie das Demokratieproblem, das Ehrlichkeitsparadox, den Beschleunigungszwang und die Durchsetzungsfalle.

Das Demokratieproblem. Konflikte kommen in Deutschlands Öffentlichkeit generell nicht gut an, nicht einmal solche zwischen konkurrierenden Parteien. Deshalb verwundert es nicht, dass die Mehrheit der Bürger die Große Koalition gut findet: Endlich arbeiten die Politiker „vernünftig“ zusammen, anstatt sich zu zanken. Die demokratische Debatte bestrafen die Wähler mit Vertrauensentzug. Die Medien blasen ins gleiche Horn. Sie berichten über „Streit“ statt über „Diskussion“. Ihr Unterton lautet: Die Politiker wissen nicht, was sie wollen, sie können das Land nicht führen. Vorherrschend ist eine zutiefst undemokratische Grundeinstellung, die jede Kultur des Nachdenkens untergräbt, in der auch Offenheit, Zweifel und Lernbegierigkeit gefragt wären.

Das Ehrlichkeitsparadox. Politiker werden verachtet, weil sie als „unehrlich“ gelten. Andererseits: Wer „ehrlich“ ist, bekommt Probleme. Im Wahlkampf 1990 haben das die Wähler eindrucksvoll demonstriert. Helmut Kohl wollte die Einheit aus der Portokasse bezahlen, Oskar Lafontaine beschrieb hohe Lasten. Gewählt wurde Kohl. Und war nicht auch Angela Merkel „zu ehrlich“? Dabei lebt die demokratische Debatte davon, dass ehrliche Ansagen gemacht, Probleme klar beschrieben und die Konsequenzen des (Nicht-)Handelns deutlich aufgezeigt werden.

Der Beschleunigungszwang. Demokratie braucht Zeit. Zeit, die der Politik nicht gegeben wird: von den Menschen nicht, weil sie die Lösung der drängenden Probleme erwarten; auch von den Medien nicht, die „Handeln“ anmahnen – nicht selten unabhängig davon, ob ein zusätzliches Gesetz überhaupt hilfreich sein kann. Oft werden erneute Initiativen schon gefordert, kaum dass das jüngste Gesetz zur Behebung des Problems in Kraft getreten ist.

Die Durchsetzungsfalle. Häufig werden die in Deutschland in besonderem Maße auf Konsens orientierten Entscheidungsprozesse beklagt, ebenso wie die vermachteten Strukturen, in denen Interessengruppen so viel Widerstand organisieren können. Und tatsächlich soll ja nicht nur debattiert werden. Am Ende muss eine Entscheidung stehen, die Blockaden durchbricht. Debatten dürfen nicht folgenlos bleiben, Interessen nicht zu Veto-Positionen werden.

Als Loyalität und Disziplin zur Neige gingen

Problem und Paradox, Zwang und Falle: Dieser Hindernisse der demokratischen Debatte muss sich die Politik bewusst sein. Aber auch die hohen Kosten eines autoritären Regierungsstils muss sie kennen. Denn genau darunter leiden Qualität und Legitimation. Nicht von ungefähr stieß das Modell der „Kanzlerpartei SPD“ zunehmend auf Widerstand. Der Vorrat an Loyalität und Disziplin ging zur Neige, immer geringer wurde die Bereitschaft, Beschlüsse der Führung wider anderen Willen mitzutragen. Das war der eigentliche Grund für den Neuwahl-Befreiungsschlag von Schröder und Müntefering. Fraktion und Partei wären nach dem Wahlergebnis in Nordrhein-Westfalen auseinander geflogen. Die Regierungspolitik war zu angreifbar geworden, und es fehlte an Rückhalt im Volk.

Der jüngste Konflikt um die Besetzung der Position des Generalsekretärs ist eine Spätfolge der Entwicklung seit 2003: Große Teile der Partei haben den Wunsch, sich endlich wieder in die politische Debatte einzuschalten und die Rolle zu spielen, die ihnen gebührt. Gerhard Schröders bleibender Verdienst ist, dass er konsensdemokratische Entscheidungsblockaden überwunden hat. Zu häufig haben früher verschiedene Seiten diejenigen gehindert, die etwas verändern wollten. Und zu selten wurde ehrlich diskutiert. Doch Schröder hat die Debatte nicht geöffnet, sondern Parlamentarismus und Demokratie mit den Mitteln der autokratischen Zuspitzung letztlich einen schweren Stand bereitet.

Wie lassen sich die beschriebenen Hürden für die demokratische Debatte überwinden? Debatten müssen mit einem verabredeten Endpunkt geführt werden. Dann müssen Entscheidung fallen, die anschließend konsequent zu vertreten sind. Dafür benötigt natürlich auch die Demokratie Führungspersönlichkeiten. Doch Führungsstärke ist, sich vor Debatten nicht zu fürchten, sondern sie voranzutreiben. Wir müssen Tabus brechen, statt sie zu etablieren. Politik darf nicht nur aus Machtkampf bestehen. Im Gegenteil: Auf lange Sicht erhöht sich ihre Durchsetzungskraft, wenn sie in der Lage ist, sich eine breitere Legitimationsbasis zu verschaffen. Die Politik kann die Menschen nur überzeugen, indem sie Probleme löst und dabei berechtigte Interessen berücksichtigt. Beides gelingt auf lange Sicht nur durch die demokratische Debatte. Auch in der Wissenschaft sorgt eher selten ein einzelner genialer Kopf für bahnbrechende Entwicklungen. Wichtiger ist der Diskurs, das Lernen voneinander. Und für die Abwägung der gesellschaftlichen Interessen wurden Parlamente erfunden – sie sollten entscheiden, nicht mehr Monarchen. Das Parlament ist der Ort des Austausches vieler. Hier können die Dinge breiter diskutiert werden, als es der Regierungsapparat je vermag, und genau das ist die Aufgabe der Volksvertreter. Die Demokratie ist nicht das Problem und das Parlament keine Quasselbude!

Parlamentarier, sprengt eure Ketten!

Aber kann die demokratische Debatte für die Wähler attraktiv gestaltet werden? Ja, sie kann. Wenn es stimmt, dass die Stammwählerschaften schwinden, dass die traditionellen Milieus erodieren, dann kann eine Volkspartei nur durch die Abbildung verschiedener Positionen und Interessen in ihrer Größe und Komplexität überleben. Und gerade in Zeiten des Wandels muss die Politik besonders sorgfältig überlegen und eine vertrauensvolle Kommunikation mit den Bürgern pflegen. Die Menschen müssen erkennen können, dass ihre Anliegen aufgenommen und geprüft werden. Und sie müssen das Vertrauen haben können, dass es für unpopuläre Entscheidungen gute Gründe gibt.

Es mag verblüffen: Die Große Koalition bietet die Chance, den Parlamentarismus in Deutschland zu beleben. Die Mehrheit der Großen Koalition ist so groß, dass Parlamentarier sich ein offenes Wort viel eher erlauben können – und müssen. Denn der umgehende Verlust der Regierungsmehrheit ist ja nicht zu befürchten. Der Drang, jenseits der Koalitionsräson eigene Konzepte in die Debatte einzuführen, dürfte bei SPD wie auch bei CDU und CSU gleichermaßen ausgeprägt sein. Und das ist gut so. Das Parlament insgesamt sollte diese Chance ergreifen und seinen neuen Freiraum zu ernsthaften Debatten nutzen. Skeptiker sagen, das Parlament werde an Bedeutung weiter verlieren. Kanzlerin, Vizekanzler und Fraktionschefs müssten sich wegen der übergroßen Mehrheit nicht so sehr um die Abgeordneten bemühen – weil sich schon immer genügend von ihnen finden würden, die den Vorleuten folgen. Wir werden sehen. Wie es weiter geht, liegt an den Parlamentariern. Sie sind es, die das Verfahren in der Hand haben – so nämlich steht es im Grundgesetz.

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