"Du musst Dein Leben ändern!"

Harald Welzer war Wissenschaftsjournalist und Galerist. Heute leitet der Professor für Sozialpsychologie das Center for Interdisciplinary Memory Research am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen. Bekannt wurde er durch seine Forschung zu Erinnerungskultur, Holocaust und Gewalt. Zudem hat er sich in den vergangenen Jahren intensiv mit dem Klimawandel und den Grenzen unseres Wirtschaftsmodells auseinandergesetzt. »Berliner Republik«-Redakteur Michael Miebach sprach mit ihm über die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft, mentale Hürden für den Wandel und die Notwendigkeit politischer Visionen

Der „Spiegel“ sieht in den Protestierenden gegen Stuttgart 21 den Phänotyp des „Wutbürgers“, der sich gegen jeden Wandel wehrt. Ist unsere alternde Gesellschaft zukunftsvergessen geworden?

Das würde ich unterschreiben. Immer mehr Menschen haben den größeren Teil ihrer Lebenszeit bereits hinter sich. Ihnen geht es eher um die Sicherung des Status quo, als dass sie für Zukunftsinvestitionen zu gewinnen sind. Die Rückwärtsgewandtheit ist doch allgegenwärtig: Warum sonst bauen wir die Fassaden verschwundener Schlösser wieder auf? Warum haben wir einen 91-jährigen Kettenraucher zur politischen Lichtgestalt erhoben? Andererseits gibt es den Wutbürger natürlich nicht. Dafür ist die Protestbewegung in Stuttgart viel zu uneinheitlich. Nein, die Bürger haben einfach die Nase voll von technokratischer Bevormundung, sie fühlen sich nicht ernst genommen als Gestalter ihrer eigenen sozialen Wirklichkeit. Denn diejenigen in der gesellschaftlichen Elite, die sich gern als Sachwalter der Zukunft gerieren, sind es ja in Wirklichkeit nicht. Das Energiekonzept der Bundesregierung ist auch so ein Beispiel: Dem Beschluss ging eine Anzeigenkampagne der Atomindustrie voraus. Unterzeichnet hatten Top-Manager und Prominente, überwiegend Männer im Alter über 60 Jahren. Nur weil sie gegenwärtig zur gesellschaftlichen Elite gehören, behaupten sie, irgendetwas mit Zukunft zu tun zu haben. In Wirklichkeit passen viele großtechnologische Projekte – etwa Stuttgart 21 oder die Atomkraft – einfach nicht mehr ins 21. Jahrhundert. Oder hängt eine gute Zukunft etwa davon ab, elf Minuten schneller nach Ulm fahren zu können? Dass die Leute sich dagegen wehren, wirkt doch nur deswegen ungewöhnlich, weil wir eine zwanzigjährige Entpolitisierungsphase hinter uns haben. Nun ist die Duldsamkeit am Ende.

Uns geht es doch so gut wie nie: Die Wirtschaft boomt, unsere Flüsse sind sauber und auf den Straßen kann man sich sicher fühlen. Woher kommt also der verbreitete Fortschrittspessimismus?

250 Jahre lang war unser Lebens- und Wirtschaftsmodell grandios erfolgreich. Es brachte Freiheits- und Menschenrechte, Wohlstand und Bildung, soziale Sicherung und Demokratie. Seine Gesetze lauteten: Bildung schafft Aufstieg, Wachstum bringt Wohlstand, die Zukunft ist besser als die Gegenwart. Dummerweise basierte diese Wirtschaftsform darauf, dass einem kleinen Teil der Menschheit die Ressourcen des gesamten Planeten zur Verfügung standen. Wir hatten immer ein Außen, aus dem wir unsere Ressourcen bezogen. Leider ist diese Methode nicht globalisierungsfähig. Das Modell ist an eine Funktionsgrenze gestoßen. Wir versuchen das zu kaschieren, indem wir die Ausbeutung des Planeten einfach zunehmend vom Raum in die Zeit verschieben. Die Gegenwart konsumiert die Zukunft – die Zukunft derjenigen, die heute Kinder oder noch gar nicht geboren sind. Das fängt an bei den Kohlendioxid-Emissionen und setzt sich bei der Überfischung der Meere und der Überdüngung der Böden bis hin zur Staatsverschuldung fort. Wir tolerieren ein Ausmaß an Generationenungerechtigkeit, das in der Moderne einzigartig ist. Damit gehen wir aber ein großes Risiko ein: Ungerechtigkeit zwischen Generationen kann radikale soziale oder gesellschaftliche Veränderungsprozesse auslösen. Vergessen wir nicht, dass der Nationalsozialismus und der Sowjetkommunismus in erster Linie Generationenprojekte waren.

Das klingt sehr apokalyptisch. In den vergangenen Jahren hat die deutsche Politik auf verschiedenen Gebieten Reformen durchgeführt, um unser System zukunftsfester zu machen – von der Arbeitsmarktpolitik über die Rente mit 67 bis zur Energiewende.

Im Kern geht es der Politik aber immer darum, den alten industriekapitalistischen Modus am Laufen zu halten. Aber das ist unter den gewandelten Bedingungen unmöglich. Das beste Beispiel sind die Konjunkturprogramme während der Finanz- und Wirtschaftskrise. Auf Pump haben wir die Zeit des Wirtschaftswunders nachgespielt: Leute, deren Jobs mit Kurzarbeitergeld gerettet wurden, standen vor kreditfinanzierten Baustellen im Innenstadtstau – in Autos, die mit der Abwrackprämie bezahlt waren. Der Soziologe Norbert Elias hat argumentiert, dass sich die Identitätskerne von Gesellschaften stets um deren glanzvollste Phase zentrieren. In Österreich hat dieses Selbstbild mit Habsburg und Obrigkeit zu tun. Die Niederländer sind die ehemalige Seemacht. Und der Habitus der Deutschen geht auf die Nachkriegsmoderne zurück: Ruhrgebiet, Stahlproduktion, Arbeit, Autos, Konsum. Das ist der tiefere Grund dafür, warum wir mit der Abwrackprämie einen Industriezweig gepäppelt haben, der aus klimapolitischen Gründen in Zukunft eine ganz andere Rolle spielen wird als heute. Begriffe wie „erneuerbar“ oder „dezentral“ gehören leider nicht zum deutschen Identitätskern.

Viele Fachleute meinen, dass Deutschland angemessen auf die Krise reagiert hat. Es musste ja schnell gehen. Dass da nicht alle Maßnahmen zuerst dem Umweltschutz dienen können, ist evident.

Völlig falsch. Beispielsweise lag im Umweltministerium unter dem Titel „Die dritte industrielle Revolution“ ein Programm mit einem kompletten Instrumentenkasten vor. Man hätte sich daraus nur bedienen müssen. Südkorea und China haben Konjunkturprogramme aufgesetzt, die viel stärker auf Green Technology und Nachhaltigkeit abzielten als unsere. Warum hätte so etwas in Mitteleuropa nicht möglich sein sollen?

Als Rezept gegen Klimawandel und Ressourcenverschwendung fordern Sie, dass wir uns vom Zwang des beständigen Wirtschaftswachstums verabschieden müssen. Woher soll ohne Wachstum eigentlich das Geld für mehr Energieeffizienz und andere Zukunftsinvestitionen kommen?

Permanent Wachstumsraten zu produzieren bedeutet permanente Ressourcenübernutzung.  Außerdem brauchen wir ja gar kein zusätzliches Geld für den Klimaschutz. Für eine nachhaltige Lösung der Probleme benötigen wir nicht weniger als eine kulturelle Revolution. Wir müssen unseren Lebensstil ändern! Es gibt kein Menschenrecht, nach Mallorca fliegen zu können.

Aber Verzicht wird den Bürgern nur schwer vermittelbar sein.

Der Verzichtsbegriff ist lediglich eine Verteidigungswaffe, um sich nicht verändern zu müssen. Derzeit verzichten wir doch auch auf sehr viel, zum Beispiel auf keine Lärmbelästigung, aufs Kinderkriegen, auf Freizeit, auf Wohlbefinden. Besonders schlimm: Der Verzicht auf Lebensqualität ist dann umso größer, wenn man zum unteren Teil der Gesellschaft gehört. Wer wenig Geld hat, muss die Wohnung an der Autobahn mieten.  

Um eine kulturelle Revolution in Gang zu setzen, müsste zunächst wohl das Problembewusstsein geschärft werden.

Wir haben kein Erkenntnisproblem. Man kann unendlich viel wissen, ohne daraus irgendeine Konsequenz für die eigene Lebenspraxis zu ziehen. Wissen und Handeln, aber auch Einstellungen und Handeln sind zwei fundamental verschiedene Dinge. Warum? Zum einen gibt es dieses Phänomen, das ich shifting baselines nenne: Menschen verändern ihre Wahrnehmung parallel zu einer sich verändernden Umwelt. Vor wenigen Jahren war es noch gängige Praxis, dass beim Essen im Restaurant am Nachbartisch geraucht wurde. Heute würde das niemand mehr ertragen. Das ist ein positives Beispiel, aber die meisten shifting baselines sind Hürden für jede Form von Nachhaltigkeitsmaßnahmen, weil die Leute den Problemdruck nicht spüren. Irgendwann halten sie warme Winter für normal. Zum anderen – und dieser Punkt ist noch relevanter: Jeder von uns erfüllt pro Tag im Durchschnitt 15 verschiedene Rollen. Ich muss mich vollkommen anders verhalten, wenn ich in einer Eltern-Kinder-Feier im Kindergarten bin, als wenn ich eine Besprechung im Beruf habe oder ich beim Arzt im Sprechzimmer sitze. All diese Rollen haben zum Teil vollkommen widersprüchliche Anforderungen, aber über diese Widersprüche sehen wir souverän hinweg. Das Menschenbild, wonach wir konsistent nach einem Einstellungsmuster oder einer normativen Überzeugung handeln, ist total falsch. Hinzu kommt drittens noch ein anderer wesentlicher Punkt: Unsere Infrastrukturen haben eine unglaubliche Schwerkraft des So-Seins entwickelt. Die suggerieren ständiges Funktionieren. Das So-Sein ist in gewisser Weise die normative Kraft des Faktischen und führt zu einer Apokalypse-Blindheit. Nach dem Motto: Wo ist denn die Krise, von der sie in den Nachrichten sprechen? Wo ist denn der Klimawandel? Der Thunfisch stirbt aus? Kann gar nicht sein, ich hab ihn doch auf dem Teller!

Wie können diese mentalen Hürden überwunden werden?

Es wird auf die Praxis ankommen. Eine autofreie Innenstadt ist viel anschaulicher als 40 Jahre Nachhaltigkeitskommunikation. Es gibt ja unglaublich viele tolle Ansätze und Vorzeigeprojekte: Konsumgenossenschaften, Energiegenossenschaften, Firmen mit nachhaltigen Unternehmensstrategien. All diese Dinge zeigen, dass Veränderungen positiv sind und Spaß machen. Und dass wir Handlungsspielräume haben. Wir können heute und hier anfangen, Dinge anders zu machen. Das ist die Utopie des 21. Jahrhunderts: Die Handlungsspielräume zu nutzen, um in der Praxis eine andere Form von Lebensqualität, von Verantwortlichkeit, von Gerechtigkeit zu entwickeln. Träger dieser Utopie sind die Bürger vor Ort, die ihre Interessen selbstbestimmt verfolgen. Denn die Zukunft wird sehr kleinteilig sein.

Was meinen Sie damit?

Die Dinge werden sich nicht mehr so einfach von oben planen lassen. Vieles wird nur noch dezentral funktionieren: Energie, Mobilität, Konsum. Es wird stark auf Flexibilität, auf Korrekturmöglichkeiten, auf Fehlerfreundlichkeit, auf die demokratische Partizipation und das Alltagswissen der Bürger vor Ort ankommen. Auf lokaler und regionaler Ebene wird sich ein neuer Typus von Gesellschaft entwickeln. Die Transformation, die ansteht, wird in der Tragweite den Übergängen von der Agrar- in die Industriegesellschaft gleichen.

Wenn der Bürger wichtiger wird, welche Rolle spielt dann noch die parlamentarische Demokratie?

Demokratie braucht ein aktives politisches Gemeinwesen, deshalb fehlt bei einer entpolitisierten Öffentlichkeit, wie wir sie heute haben, der permanent artikulierte Auftrag an die Volksvertreter. Das Vakuum, das dadurch entstanden ist, wird durch Lobbys gefüllt. Ich teile Colin Crouchs Diagnose von der Postdemokratie: Was professionelle Politik tut, ist nicht mehr substantiiert durch das, was die Gesellschaft macht. Politiker-Bashing ist aber Blödsinn. Meines Erachtens kann die Politiker-Politik nur so gut  sein wie die Zivilgesellschaft, die ihr den Auftrag gibt.

Dennoch kennzeichnet gerade die Parteien eine regelrechte Visionslosigkeit.

Das stimmt. Den Parteien geht es vor allem um die Bewahrung des bestehenden, nicht mehr zukunftsfähigen Lebensmodells. Am stärksten rückwärtsgewandt ist übrigens die Linkspartei. Konkrete Visionen sind aber unabdingbar: Wie wollen wir eigentlich in zehn, zwanzig oder dreißig Jahren leben? Ohne einen solchen Zukunftsentwurf lassen sich keine Pläne schmieden, keine Vorstellungen entwickeln, keine Hoffnungen schüren – und erst recht keine politischen Entscheidungen treffen. Unsere Parteien erzählen keine Geschichte darüber, was unsere Gesellschaft einmal sein soll, sondern träumen davon, was sie einmal gewesen ist. Zeitgemäße Politik muss sich daran messen lassen, inwieweit sie Zukunftshorizonte überhaupt wieder öffnet.

Herzlichen Dank für das Gespräch. «

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