Downsizing auf ostdeutsch

Wie sich die arbeiterliche Gesellschaft auflöste, was an ihre Stelle trat und worüber man ganz neu nachdenken muss. Ein Auszug aus dem neuen Buch "Die Ostdeutschen als Avantgarde"

Ostdeutschland ist nach 1989 geblieben, was es zu DDR-Zeiten war - eine Auswanderungsgesellschaft, nur dass heute nicht mehr Flucht und Vertreibung im Vordergrund stehen, keine politischen Motive, sondern, wie in gewissem Umfang früher auch, wirtschaftliche oder auf die Ausbildung bezogene. Damals waren und heute sind es wieder vornehmlich die Jüngeren, die gehen und die Zurückbleibenden im wörtlichen wie übertragenen Sinn des Wortes alt aussehen lassen. Unterdessen machen sich aber auch verstärkt reifere Jahrgänge auf den Weg nach Westen; lieber ein Neuanfang mit allen Risiken, als die Jahre bis zur Rente einfach nur abzusitzen.

Die Menschen gehen, weil sie keine Arbeit oder keine Lehrstelle finden, und sie finden weder Arbeit noch Ausbildungsplatz, weil sich im Osten zwei in ihrem Ursprung wie in ihrer Verlaufsform höchst gegensätzliche Tendenzen unauflöslich miteinander verflechten, wechselseitig verstärken und dadurch eine wahrhaft präzedenzlose Lage schaffen.
Die Ostdeutschen laborieren an den Entwicklungsschranken, die die Vergangenheit ihnen auferlegte und teilweise noch immer auferlegt und ebenso an den Entwicklungssprüngen, die sie in die Zukunft peitschten; am "Rückschritt" und am "Fortschritt" gleichermaßen.


Dass sie ihre Arbeit verloren, als mit dem politischen System die Protektion verschwand und der globale Wettbewerb zurückkehrte, war der ererbten strukturellen Rückständigkeit ihrer vormaligen Wirtschaftsweise geschul det; dass sie neue Arbeit nur punktuell und "stäubchenweise" fanden, erklärt sich nicht zuletzt aus der übergangslosen Einführung der neuesten Technik, der fortgeschrittensten Produktionsmethoden.


So lebte die gesamte Lausitz so gut wie ausschließlich von der Braunkohle und von der Energiewirtschaft und stürzte ab, als auch diese Wirtschaftszweige nach dem Systemwechsel jäh zurückgeschnitten wurden. Dann wurde inmitten des Krisengebietes das international leistungsfähigste Kraftwerk auf Braunkohlenbasis gebaut. Die Investitionssumme belief sich einschließlich aller Erschließungskosten auf 3,5 Milliarden DM und damit auf die Hälfte der für die Neubebauung des Potsdamer Platzes in Berlin verausgabten Mittel; gerade genug, um etwas mehr als 300 Menschen langfristig mit Arbeit zu versorgen.


Das krasse Missverhältnis zwischen Freisetzung und erneuter Bindung von Arbeitskräften blamiert jeden Gedanken an eine Rückkehr zur Arbeitsgesellschaft und zur Vollbeschäftigung.


Phänomenologisch nicht weniger offensichtlich, aber in sich verwickelter ist der Zusammenhang zwischen wirtschaftlichem und urbanem Schrumpfen.


Dass die Stadtbevölkerung im Osten in den letzten Jahren oftmals geradezu schwindelerregend abnahm, bemerkt jeder, der ostdeutsche Städte durchstreift. Fast hat sich der Blick schon an leerstehende Häuser, verwaiste Straßenzüge und vor sich hindämmernde Stadtquartiere gewöhnt.


"Vorbei die Zeit, dass der Abriss eines Elfgeschossers noch eine überregionale Meldung wäre. Inzwischen stehen im Osten Deutschlands über eine Million Wohnungen leer", schreibt der Architekturkritiker Wolfgang Kil, und weiter: "Vor dem Phänomen solcher Schrumpfung steht von westlicher Erfahrung getragenes Expertentum mit seinen routinierten Kalkulationsmodellen vollkommen ratlos. Weder dem Wittenberger Packhofviertel noch Neubau-Wohnstädten wie Wolfen-Nord, Schwedt oder Halle-Neustadt lässt sich durch "Diversifizierung der Wohnangebote", also Ersatz von "Platte" durch "Stadtvillen" oder durch Reihenhäuser als Lockangebote für Besserverdiener dauerhaft helfen."


Warum ist das so?

Was macht auch die urbane Problematik präzedenzlos?
Natürlich, es fehlen, wie mehrfach gesagt, Arbeits- und Ausbildungsplätze; das bekommen Städte, die Industrien beherbergten oder umlagerten, mit ganzer Wucht zu spüren.
Doch das ist längst nicht alles, was zum Städtesterben beiträgt.
Die ostdeutschen Betriebe waren weit mehr als nur große Wirtschaftskomplexe, spendable "Arbeitgeber", weit mehr auch als bloße "Vergesellschaftungskerne", wie der Soziologe Martin Kohli einmal bemerkte. Ihrem Wesen und ihrer Bestimmung gehorchend, bildeten sie wahre "Multiplexe", die mehrere Funktionen gleichzeitig versahen; die Arbeit stand im Mittelpunkt, aber um sie herum, einer Korona gleich, formierte sich eine Gesellschaft im Kleinen.
Das schon erwähnte Beispiel der Wolfener Filmfabrik veranschaulicht den allgemeinen Grundriss.
Dort wurde gearbeitet, gewiss.
Aber in die Arbeitssphäre eingelassen, der "profitablen" Vernunft ebenso abträglich wie dem Komfort der Beschäftigten und der gesamten Stadt förderlich, waren auch:

Betriebskinderkrippen und -kindergärten
Ferienheime
Vier Ambulatorien
Eine Physiotherapie
Eine Sauna
Eine Apotheke
Eine Bibliothek
Eine Buchhandlung
Ein Werkstheater
Ein Filmstudio
Ein Fotozirkel
Ein Malzirkel
Ein Chor
Ein Kinder- und Jugendballett
Sportvereine
Eine Sparkasse
Eine Werkstischlerei
Eine Werksgärtnerei
Eine Sattlerei
Eine Schneiderei.

Das Downsizing von Industrie und Landwirtschaft ließ nicht nur den ostdeutschen Arbeitsmarkt zusammenbrechen, kaum dass er sich konstituiert hatte; es beschwor, die Liste zeigt es eindringlich, zugleich einen sozialen und kulturellen Aderlass herauf, vom dem sich Ostdeutschland lange nicht erholen wird.


Die ostdeutschen Betriebe waren keine gewöhnlichen Arbeitsstätten, sondern vollständige Abbildungen des Großen im Kleinen, seiner Geburtsfehler und Unzulänglichkeiten ebenso wie seiner sozialen Philosophie.


Sie verhöhnten die elementarsten ökonomischen Notwendigkeiten, aber sie setzten die Menschen in den Stand, Beruf und Familienleben miteinander zu versöhnen, regten ihre kulturellen Interessen an und trugen den sozialen Austausch weit über die engen Grenzen der Arbeitswelt hinaus.


Dabei knüpften sie nicht selten die Fäden älterer Traditionen weiter, im Fall der Filmfabrik die der IG-Farben, doch beschränkten sie sich nicht auf Erbschaftspflege. Wo sie Hinterlassenschaften vorfanden, wurden sie energisch ausgebaut, wo nicht, schuf man Neues aus eigener Kraft.


Die Korona aus sozialen, kulturellen, sportlichen und medizinischen Einrichtungen war nicht immer so kompakt, leuchtete nicht immer so hell wie in der Filmfabrik in Wolfen, aber kaum ein größeres staatliches Unternehmen mochte auf ihren Glanz verzichten.


Als die Betriebe schlossen oder einer anderen Rationalität gehorchen lernten, kam den Menschen mehr abhanden als nur die Arbeit.
Ein altgedienter Facharbeiter aus der Wolfener Fabrik rekapitulierte in einer Dokumentation sein Arbeitsleben.
Die sechziger Jahre standen noch im Zeichen des Aufbruchs, von Innovationen, die dem Werk auch international einen geachteten Ruf eintrugen.
Die siebziger Jahre zehrten von diesen Erfolgen und zehrten sie langsam auf.
Die achtziger Jahre waren von Stagnation und Rückschritt gekennzeichnet.
Aber erst die neunziger Jahre brachten den Absturz, zuerst auf Raten:
"Es war wie bei der Haydnschen Abschiedssymphonie", sagt er, "einer nach dem anderen verschwand."
1995 wurde das Werk abgerissen; die es demontierten, arbeiteten sich Handgriff für Handgriff der eigenen Arbeitslosigkeit entgegen.


Persönlich verlor das Leben seinen Grund, sozial seine Bewandtnis, kulturell wurde es all dessen beraubt, was dem Dasein Sinn und Würze gibt; mit jedem hinzukommenden Moment drehten sich die Abwärtsspiralen schneller.
Die ersten gingen, weil sie keine Arbeit oder keine Lehrstelle fanden, und nahmen dadurch anderen die Arbeit, im Dienstleistungssektor, im Bildungssystem, in kulturellen Einrichtungen, in der Verwaltung. Das städtische Leben verarmte zusehends, und das bestimmte selbst jene zum Wegzug, die gern geblieben wären, auch ohne Arbeit.


Sie gingen, weil andere bereits gegangen waren, weil es keinen verlässlichen sozialen Austausch, kein reges kulturelles Leben mehr gab. Finanzlage, infrastrukturelle Ausstattung und kulturelles Klima von Kommunen und Landkreisen verschlechterten sich weiter, die Abwanderung hielt sich auf hohem Niveau und dadurch entfiel der letzte Anreiz, der schon ansässige Unternehmen zu Investitionen, neue zum Zuzug hätte veranlassen können.

Aber selbst damit ist der Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher und urbaner Krise noch immer nicht erschöpfend dargestellt.
Etwas Weiteres kam hinzu.
Die Betriebe waren, wie man sah, keine "normalen" Betriebe, und das bestimmte auch ihre Kooperation mit Städten und Landkreisen.
Im Grunde beschönigt das Wort "Kooperation" dieses Verhältnis, denn von Gleichberechtigung der beiden Partner konnte vielfach keine Rede sein. Die Industriekomplexe dominierten in der Partnerschaft, besonders in den kleineren und mittleren Städten sowie auf dem Land.
Auch dafür gibt es historische Gründe.


Die wirtschaftliche Struktur- und Standortpolitik der DDR setzte mit Vorliebe auf große, monoindustrielle Ansiedlungen und belieh sie gleichsam mit dem sie umgebenden Territorium. Ganze Städte wurden aus dem Nichts geschaffen, kleine Orte in wenigen Jahren zu wirtschaftlichen Ballungszentren, Hoyerswerda etwa oder Eisenhüttenstadt. Johann-Georgenstadt im Erzgebirge zählte 1945 gerade siebentausend Seelen; von der Uranförderung erfasst, vergrößerte sich die Bevölkerung bald um das Achtfache.


"Das Werk" war der Grund der Stadt, im Doppelsinn des Wortes, die Multiplexe waren oftmals zugleich Monopolisten, die das soziale Leben an und nach sich zogen, und als ihre Zeit vorüber war, büßten Menschen, Städte und Landschaften ihre Bestimmung noch schneller ein, als sie sie einst gewonnen hatten.
Die Gründerstädte traf es besonders hart; Standorte mit Tradition und breiter gefächertem Wirtschaftsleben litten jedoch in kaum geringerem Maße.
Ob ein alles beherrschender Monopolist die Tore schloss oder mehrere Unternehmen gleichzeitig schrumpften, das kam zumeist auf dasselbe hinaus: Arbeit wurde zur Mangelware, die an die Arbeitsstätten gebundenen Infrastrukturen erodierten, die Menschen suchten das Weite und überließen die Kommunen ihrem Schicksal.
Selten ist die Freiheit so schnell so kleinlaut geworden wie im Falle der munizipalen Freiheiten nach 1989; zwischen pathetischer Proklamation und faktischer Rücknahme lagen nur ein paar Monate.


Für einen winzigen historischen Augenblick von ihrer Abhängigkeit vom politischen Zentralismus und von wirtschaftlichen Zwängen erlöst und zu eigenständigem Leben erweckt, sanken die Kommunen kurz darauf und bis in die Gegenwart in eine noch weit größere Abhängigkeit zu rück.
Sie waren mit den Fabriken verwachsen, teilten mit ihnen, siamesischen Zwillingen gleich, dieselben sozialen Organe; strukturell amputiert, wie sie nunmehr waren, konnten sie weder die fehlenden Teile ersetzen, noch für sich selber sorgen.


Die Finanzkrise, von der westdeutsche Kommunen erst in den letzten Jahren existentiell erfasst wurden, definierte im Osten die Ausgangslage nach der Wende. Die hauptsächliche Einnahmequelle der Städte und Gemeinden, die Gewerbesteuer, war nahe am Versiegen; Unternehmen mit überregionaler Bedeutung und großem Umsatz zeigten sich kaum, und wenn sie investierten, dann lag der Firmen sitz zumeist im Westen; dorthin floss auch die Steuer.
Die Wirtschafts- und Steuerpolitik des neuen Staates verschärfte die Krise weiter.
Gelang es ausnahmsweise, westdeutsches oder ausländisches Kapital im Osten "festzunageln", dann bot die novellierte Steuergesetzgebung der letzten Jahre den Kapitaleignern mehr als nur eine Ausflucht.


Sie erlaubte, aktuelle Gewinne so und so lange mit früheren Verlusten zu verrechnen, bis jede Steuerschuld getilgt war; das Gesamtunternehmen als "Organschaft" künstlich in Untereinheiten aufzugliedern, so dass erneut Gewinne hier mit Verlusten dort verrechnet werden konnten, mit demselben Effekt für die notleidenden öffentlichen Haushalte.
In dieser verzweifelten Situation griffen Städte und Gemeinden, wie die Ostdeutschen im ganzen, nach dem rettenden Strohhalm, dem Danaergeschenk der deutschen Einheit - nach dem Transfer.

Sucht man auf die Frage, was nach 1990 an die Stelle der arbeiterlichen Gesellschaft trat, nach einer Antwort, die weder nur beschreibt noch nur verneint, dann kann es nur die eine geben: Ostdeutschland ist zu einer Transfergesellschaft geworden.
So zu antworten, heißt einzugestehen, dass die Volksbewegung vom Herbst 1989 politisch gescheitert ist. Darauf gerichtet, persönliche Lebensführung, Beruf und sozialen Zusammenhang aus staatlicher Vormundschaft und administrativer Direktion zu lösen, mündete sie in einen Prozess, der die Abhängigkeit des Alltagslebens vom Staat, von staatlichen Umverteilungen und Zuwendungen samt der damit einhergehenden Kontroll- und Sanktionsmechanismen über jedes damals vorstellbare Maß hinaus gesteigert hat.
Als Citoyens aus dem alten Staat hervorgegangen, den sie zerbrochen hatten, fanden sie sich im neuen Staat als Bürger wieder, die ihre Steuern zahlten und ihr Leben genossen - wenn es gutging; wenn nicht, dann tauschten sie die Rolle des Untertans gegen jene des Bürger-Klienten ein.


Jede große geschichtliche Bewegung hat ihre denkwürdigen Begebenheiten, Tage, die das Geschehen verdichten, auf den Begriff bringen sozusagen.
Denk-, merkwürdig in diesem Sinne war im deutschen Vereinigungsprozess ganz gewiss der 1. Juli 1990, der Tag, an dem die Wirtschafts- und Währungsunion in Kraft trat und die DM auch im Osten Deutschlands zum gesetz lichen Zahlungsmittel wurde.
Man kennt die Bilder, die damals um die Welt gingen: Jubelfeiern am Abend vorher und in der ganzen Nacht; lange Schlangen vor Banken und Sparkassen; Menschen, die das neue Geld wie einen Fetisch in die Höhe heben - glatte, unverschabte Oberflächen.
Zur selben Zeit beobachtete der ostdeutsche Dokumentarist Volker Koepp, wie Menschen im märkischen Brandenburg die Zäsur erlebten.
Er zeigt Leute in einer Kneipe, Stunden vor dem großen Ereignis. Einer holt die alten Geldscheine heraus und betrachtet ihre Rückseiten, als sähe er sie zum ersten Mal - lauter Motive aus der Arbeitswelt, des arbeitenden Menschen.
Andere arbeiten tatsächlich, selbst zu dieser Stunde, in einer Kaufhalle um die Ecke. Sie bestücken die leeren Regale mit neuer Ware aus dem Westen.
Am nächsten Morgen tritt ein junger Mann aus einer Sparkassenfiliale und zeigt das neue Geld ohne erkennbare innere Bewegung; er hat seine Arbeit erst kürzlich verloren wie Tausende andere in der Gegend.
Erst durch diese gegenseitige Konfrontation gewinnen die Bilder ihre Sprache zurück.
Derselbe unbeugsame Wille, der den Ostdeutschen das begehrte Geld in die Hände spielte, trennte viele von ihnen zeitweise oder für immer von den Quellen, es aus eigener Kraft stets aufs neue zu erwerben.


Dieselbe unbezähmbare Lust, die sie nach Produkten aus dem Westen greifen ließ, verbannte die heimischen aus den Sortimenten, machte ihre Erzeuger arbeitslos und führte darüber hinaus den sinnlichen Beweis, dass der größere Teil des Landes die materiellen Bedürfnisse des kleineren scheinbar mühelos befriedigen konnte. Vorausgesetzt natürlich, man stattete seine Bewohner mit Anweisungen auf Teile des gesellschaftlichen Reichtums aus, und zwar auch jene, die dafür keine Gegenleistung erbracht hatten.
Und so geschah es, im Einzelfall und auch im kollektiven, auf kommunaler wie auf Landesebene. So musste es geschehen, nachdem die Ostdeutschen im Verein mit der politischen Führung Westdeutschlands einmal entschieden hatten, sich von einem Tag zum anderen von ihren bisherigen Einkommens- und Finanzquellen abzuschneiden.
Die Insolvenz einer ganzen Teilgesellschaft wurde verhindert.


Direkte und indirekte Transfers hielten das städtische Leben aufrecht. Zwar konnten sie die sozialen und kulturellen Wunden nicht alle heilen, die das vorherige Zerstörungswerk gerissen hatte, aber Quartiere, Häuser und Wohnungen wurden in großem Maßstab rekonstruiert und renoviert, Straßen und Bürgersteige nach jahrzehntelangem Verfall wieder befahr- und begehbar gemacht.


Die Länder erhielten die Mittel, um aktive Strukturpolitik betreiben, überregionale Verkehrswege und Infrastrukturen wiederherstellen oder neu schaffen zu können.
Eine ganze soziale Gruppe, die Pensionsempfänger, kam erstmals in den vollen Genuss der Früchte eines langen Berufslebens und selbst die, die sozial gescheitert waren, konnten materiell gesehen ein einigermaßen menschenwürdiges Leben führen.
Die ostdeutsche Gesellschaft wurde sozial gestreckt und auseinandergezogen, aber sie brach nicht auseinander - durch den Transfer.
Aber man täusche sich nicht: Die Ostdeutschen sind objektiv und rein materiell gesehen in besserer Verfassung als in ihren eigenen Augen. Wohlstand ist nicht gleich Wohl ergehen, besonders dann nicht, wenn es sich um passiven Wohlstand handelt, den man sich nicht oder nicht in erster Linie selbst verdankt.
Der Transfer macht die Ostdeutschen in der Welt umhergehen, aber er macht sie nicht zufrieden und schon gar nicht glücklich.
Nur, was tun?
Welche Strategien sind zur Hand, um den Schrumpfungsprozessen Einhalt zu gebieten, passiven Wohlstand in aktiven zurückzuverwandeln?


Die erste Methode folgt dem Niedergang der klassischen Industriegesellschaft wie ein Schatten - der Tourismus. In ihrem Schlepptau operiert eine zweite und mumifiziert ausgewählte Reste der Industriegeschichte. Die Anstrengungen, die diesbezüglich im Osten unternommen wurden (und noch werden), wirken mitunter geradezu verzweifelt. Je geringer die Aussichten auf wirtschaftliche Wiederbelebung, desto kühner die Spekulation auf touristische und museale Zweitnutzung der funktionslos gewordenen Landschaft.


Touristische Rettungsversuche sind selbstwidersprüchlich, letztlich paradox. Sie werben mit dem Reiz der Landschaft, mit der Schönheit der Städte und zerstören sie in genau dem Maße, in dem die Werbung Erfolg hat, Menschen in großer Zahl anzieht; spricht sich dieses Paradox endgültig herum, hat sich die Methode erschöpft.


Die Mumifizierung und Musealisierung von Restbeständen der jüngeren Industrie- und Wirtschaftsgeschichte, in den letzten Jahrzehnten inflationär betrieben, hat in Ostdeutschland beinahe etwas Masochistisches. Sie konfrontiert die Einheimischen, die keine neue, auf die Zukunft aus- gerichtete Bestimmung finden, tagtäglich mit der Vergangenheit, wenn nicht sogar unmittelbar mit ihrer eigenen, aus der sie soeben vertrieben wurden.
Ein solcher Blick befreit nicht, selbst wenn er Kasse macht.
Bleiben, drittens, Investitionen in die Infrastruktur.
Der fortgeschriebene Solidarpakt sieht dafür in den kommenden beiden Jahrzehnten viele Milliarden Euro vor. Sie werden Arbeit in beträchtlichem Umfang flüssig machen, zumindest zeitweise, Standorte attraktiver gestalten und die Lebensqualität verbessern.


Nur, was geschieht, wenn das Schienennetz erneuert, Auto bahnen und Bundesstraßen gebaut bzw. erweitert, Schulen und Sportanlagen modernisiert sind? Werden Investoren dann wirklich verstärkt in den Osten drängen, neue klein- und mittelständische Unternehmen nach sich ziehen, schon vorhandenen zu größerem Absatz verhelfen?
Es wäre zu wünschen. Aber man muss sich auch für den Fall wappnen, dass es anders kommt, dass der Traum von der Wiederherstellung der ostdeutschen Arbeitsgesellschaft, von Vollbeschäftigung, ein Traum bleibt.
Die wirtschaftlich Mächtigen träumen ihn jedenfalls nicht.
Vor geraumer Zeit hielt ein großes deutsches Industrieunternehmen im engeren Führungskreis eine Reihe von Kolloquia zum Stand und zu den Perspektiven des Vereinigungsprozesses ab.


Auf einer dieser Veranstaltungen ging es um die künftige wirtschaftliche Entwicklung in Ostdeutschland. Die Diskussion nahm einen etwas zähen Verlauf, bis einer aus dem Management das Wort ergriff und etwa folgendes sagte:
Ich weiß aus eigener Anschauung und aus den Informationen, die ich erhalte, dass die Situation in den Neuen Bundesländern außerordentlich schwierig ist. Die Kernproblem ist natürlich die wirtschaftliche Entwicklung und oder besser gesagt Unterentwicklung des Ostens; nur kann ich vor falschen Hoffnungen nur warnen: Sowohl der Industrialisierungsgrad als auch das Beschäftigungsniveau der alten DDR gehören unwiderruflich der Vergangenheit an. So wird es nie wieder werden.


Die deutsche Wirtschaft denkt nicht daran, sich im Osten Deutschlands selber Konkurrenz zu machen. Wenn sie dort investiert, dann höchst selektiv und zu Sonderkonditionen, unter denen kräftige Finanzhilfen von Bund und Ländern ganz oben rangieren. Das ist auch unsere Strategie. Dazu gehört ferner, dass wir auf die Standortpolitik unserer wirtschaftlichen Partner, aber auch des Staates im Sinne einer Vermeidung von unliebsamer Konkurrenz Einfluss nehmen. Das klingt nicht besonders philanthropisch, ist aber unternehmenspolitisch rational.


Rational ist auch, dass viele Ostdeutsche ihre Heimat verlassen und sich dorthin begeben, wo es Arbeit gibt. Bei uns, er sprach von Bayern, sind die Arbeitsämter seit geraumer Zeit dazu übergegangen, komplexe Lösungen (Arbeit, Wohnung, Kinderbetreuung) für ganze Familien anzubieten, die vom Osten in den Westen übersiedeln wollen; so werden aus Pendlern Ansässige, und die Leute bleiben zusammen.


Statt darüber zu klagen, müsste man sich eigentlich mit ihnen freuen. Gewiss, dadurch dünnen die ostdeutschen Städte und Dörfer weiter aus. Und je mehr sie es tun, desto unattraktiver werden sie als Standorte. Nur sehe ich keine überzeugende Alternative zu diesem Prozess, und darum sind wir gehalten, das Beitrittsgebiet unter anderen Gesichtspunkten zu entwickeln.
Wie wäre es, wenn man mit der Formel von den "blühenden Landschaften" einmal Ernst machen würde, statt nur witzelnd darauf herumzureiten? Wo findet man denn mitten in Europa so reizvolle, abwechslungsreiche, weiträumige Landschaften wie in Ostdeutschland -dünn besiedelt, von Industrie, Abgasen und Beton verschont? Liegen hier nicht Ansatz und Ressourcen für eine ganz andere Standortpolitik?


Sie wird die heute dort noch lebenden Menschen nicht alle in Arbeit setzen und ernähren können. Aber wenn wir ein wenig nach vorn blicken, fünfzig Jahre weiter, wer weiß, vielleicht haben sich dann Bevölkerung und Beschäftigungslage auf einem zugestandenermaßen geringen Niveau eingependelt.


Bis dahin ist die Politik, ist der Staat gefordert, sind klare Worte vonnöten. Den Westdeutschen muss unmissverständlich gesagt werden, dass sie ihre Brüder und Schwestern im Osten während dieses langen Anpassungsprozesses alimentieren müssen, und zwar in ihrem wohlverstandenen Eigeninteresse; die Ostdeutschen müssen sich von Trugbildern verabschieden und in Geduld fassen - das Tal, in dem sie leben, ist nicht zum Durchzug, sondern zum längeren Verweilen bestimmt.

Ihrerseits von Trugbildern nicht ganz frei - Ostdeutschland als Paradiesgarten für überarbeitete Führungskräfte -, gibt die Rede doch zu denken.
Sie wirft zwei Fragen auf, für die es bisher an überzeugenden Antworten fehlt.
Gesetzt den Fall, das Szenarium hat den Realismus auf seiner Seite - welche auch nur provisorische Bestimmung ist Menschen, Städten und Landschaften für die schwer abschätzbare Zeit des Übergangs zugedacht?
Und, wichtiger noch, welche neue Bestimmung, die das Provisorium nicht nur erträglich, sondern reizvoll macht, könnten sie finden, namentlich für den Fall, dass es zum Dauerfaktum wird, dass der Ausnahmezustand zu seinen eigenen Bedingungen normalisiert werden muss?

Wolfang Englers neues Buch Die Ostdeutschen als Avantgarde ist im Berliner Aufbau-Verlag erschienen. 207 Seiten kosten 16,50 Euro.

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