Der nächste Schritt

Ein neues Projekt für Deutschland

Zieht man die jüngste deutsche Jugendstudie gründlich in Betracht, dann vermittelt unsere Gesellschaft einen beunruhigend immobilen Eindruck. Die Quellen, aus denen sie ihre Dynamik schöpfen könnte und früher geschöpft hat, sind nahe am Versiegen oder gänzlich ausgetrocknet. Auftrieb von unten findet kaum noch statt. Der überwiegende Teil derer, die in Elternhäuser und soziale Milieus mit unterdurchschnittlichen Bildungs- und Berufschancen hineingeboren werden, verbleibt auch dort, mit der Folge, dass sich die Nachkommen der gehobenen Mittel- und Oberschicht ernsthafter Konkurrenz von unten kaum zu erwehren haben; auch sie treten das Erbe ihrer kollektiven Eltern an.


Von Generationsspannung, einem latenten oder gar offenen Generationskonflikt ist gegenwärtig nichts zu spüren. Die Jugendlichen und jungen Erwachsenen orientieren sich in ihrer übergroßen Mehrheit an den Wert- und Zielvorstellungen der schon erwachsen Gewordenen, wollen so werden wie sie und auch ihre Kinder in deren Geist erziehen. Bruchstellen dieses Einverständnisses zeigen sich allenfalls in der Unterschicht, speziell in Ostdeutschland. Nur signalisieren sie keinen prinzipiellen Widerspruch, sondern die Unzufriedenheit mit Älteren, die das Vorbild nicht abgeben, dem man nacheifern möchte. Ein alternativer Weltentwurf, der die Erwachsenengesellschaft herausfordern würde, zeichnet sich nirgends ab.

Woran es derzeit am schmerzlichsten fehlt, ist ein Phantasie und Intellekt belebendes Projekt; eine mobilisierende Vorstellung dessen, was sein soll, einschließlich einer Verständigung über den Weg, der dorthin führt, das heißt zumindest: über den nächsten Schritt. Der Mangel ist um so spürbarer, als die Nachkriegsgeschichte beider Deutschlands Energie und Schubkraft gerade aus der Ablösung solcher kollektiven Projekte zog.


Die alte Bundesrepublik entwickelte sich unter der Ägide von wenigstens drei großen Projekten. Die fünfziger Jahre standen im Zeichen von "Wirtschaftswunder" und Westbindung, die späten sechziger und siebziger unter der Doppellosung von substanzieller Demokratisierung ("Mehr Demokratie wagen") und Aussöhnung mit dem Osten, die achtziger Jahre gebaren die Vision eines umfassenden, auch, ja gerade das Verhältnis zur Natur einschließenden grünen Zukunftsmodells. Das erste Projekt war ein Angebot von oben, das zweite lebte vom Zusammenspiel von Teilen der politischen Klasse und sozialer Bewegung, das dritte ging aus der Gesellschaft selbst hervor; sie alle waren gesellschaftlich mehrheitsfähig oder wurden es alsbald. Dabei verschoben sich die programmatischen Akzente und praktischen Angriffspunkte von der Wirtschaft auf die Politik und schließlich auf die Kultur im umfassenden Sinne des Wortes.


Auch die DDR vollzog einen Dreischritt. Dem antifaschistischen Neubeginn der späten vierziger und fünfziger Jahre folgte in den frühen sechziger Jahren der Aufbruch in eine "sozialistische Moderne" sowie, nach deren Scheitern, der sozialistische Wohlfahrtsstaat, die berühmte "Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik" der siebziger und achtziger Jahre. Anders als im Westen Deutschlands lag die Initiative durchgehend in den Händen der Regierenden; fanden die ersten beiden Projekte noch die Unterstützung engagierter Minderheiten, zehrte das dritte von der Duldung durch eine zunehmend skeptische Bürgerschaft; speziell die Jugend resignierte, hielt sich abseits oder wanderte aus. Der westdeutschen Entwicklung dagegen analog war die Verschiebung der Akzente, nur dass hier auf ein dezidiert politisches Projekt ein primär ökonomisches folgte, das seinerseits von einem sozialen abgelöst wurde.


Ein viertes Projekt ist der DDR nur insofern zuzuordnen, als es ihre Grenze markierte. Es gehörte ganz der Gesellschaft und resümierte sich in dem Verlangen nach einem radikal demokratisierten Sozialismus, einem "Dritten Weg", auf dem sich der Adressat dieser Intervention verlor.

Aber auch das neu in Existenz tretende Staatswesen hatte dafür keine Verwendung. Statt dessen lancierte das regierende Personal ein Projekt höchst fragwürdigen Charakters (das bislang letzte) - die "blühenden Landschaften". Dank dieser Verheißung hielt es sich noch zwei Amtsperioden an der Macht, hinterließ (aus unterschiedlichen Gründen) West- wie Ostdeutsche jedoch derart ernüchtert, dass sich einstweilen niemand mehr mit einem neuen Unternehmen hervorwagt. Der stets aufs Neue beschworene "Ruck" verkümmerte im politischen Alltag zu der Resthoffnung, in die gute alte Vergangenheit einer (post)industriellen Arbeitsgesellschaft mit Erwerbschancen für annähernd jede und jeden irgendwann und irgendwie zurückzukehren.


Niemand glaubt im Ernst an diese Scheinvision, und die Abkehr vor allem junger Menschen vom politischen Engagement hat neben der Selbstaufgabe eines Staates, der globale ökonomische Prozesse nur noch begleiten, aber nicht mehr effektiv beeinflussen zu können glaubt, in der durchsichtigen Schalheit dieses Versprechens ihren hauptsächlichen Grund.

Worin könnte ein neues Projekt bestehen?

 

Worin könnte nun ein neues Projekt bestehen, worin bestünde für eine der industriell fortgeschrittensten und reichsten Nationen wie Deutschland der nächste Schritt?


Die Antwort auf diese Frage fällt vielleicht leichter, wenn man sich zunächst ein Negativbeispiel vor Augen führt - die Vereinigten Staaten von Amerika. Das Angebot, das die Führungsgruppen dieses Landes ihrer Bevölkerung unterbreiten, besteht grob gesagt darin, sämtliche zu Gebote stehenden Mittel einzusetzen, um die Welt endgültig unter ihre Herrschaft zu bringen, Entwicklungsressourcen zu kontrollieren, wenn möglich zu monopolisieren und aus diesem Fonds auch jene schöpfen zu lassen (obschon in bescheidenem Maße), die daheim zu den Unterprivilegierten zählen. Die Bevölkerung der Vereinigten Staaten im Ganzen wird eingeladen, sich als eine Art Weltoberschicht zu konstituieren.


Das Projekt ist nicht neu; auch in der abendländischen Geschichte reicht es weit in die Vergangenheit zurück. Die Kulturblüte des antiken Athen, die Machtstellung Roms zur Zeit der späten Republik und des frühen Kaiserreichs verdankten sich neben eigenen Anstrengungen und Innovationen in beachtlichem Maße der Herrschaft über und gegebenenfalls auch der Ausplünderung von Bündnispartnern und politisch Schutzbefohlenen. Im imperialen Europa des späten neunzehnten, frühen zwanzigsten Jahrhunderts träumten Regierende und Regierte denselben Traum im nämlichen hegemonialen Dekor; die einen träumten von Weltherrschaft, die anderen von Teilhabe an der Beute.

Das Neue der gegenwärtigen Situation besteht darin, dass es nun erstmals eine Macht gibt, die über alle ökonomischen, wissenschaftlich-technischen und nicht zuletzt militärischen Möglichkeiten verfügt, den Traum Wirklichkeit werden zu lassen. Kein anderer Staat, keine andere Nation kann sich vermessen, damit zu konkurrieren, dasselbe Ziel zu verfolgen.

Natürlich auch Deutschland nicht.

Um mit dem US-amerikanischen Vorhaben überhaupt in Wettbewerb treten zu können, ist zweierlei erforderlich: größere Bezugseinheiten und andere Einsätze. Die erste Forderung ruft ganz generell nach einem europäischen Projekt, die zweite nach dessen Konkretisierung. Europa bleibt so lange eine Floskel, solange es seine Zukunftsinteressen nicht im Einklang mit seinen bitteren historischen Lektionen und seiner Abkunft aus Aufklärung und Französischer Revolution definiert.


Außenpolitisch gibt es dafür seit kurzem bemerkenswerte und höchst erfreuliche Vorboten. Dagegen steht die Formulierung eines sozialen und kulturellen Projekts, das den Kontinent nach innen einen, seine Teil- und Untergruppen mit tatkräftiger Leidenschaft erfüllen könnte, weithin aus. Die auf zwischenstaatliche Kooperation und friedliche Konfliktlösung gerichtete Außenpolitik wenigstens einiger großer europäischer Staaten liegt in heillosem Streit mit einer ganz und gar nicht koordinierten Sozial- und Wirtschaftspolitik, die die großen gesellschaftlichen Akteure gegeneinander aufbringt und die Kräfte verzehrt.


Wie wäre es, wenn die selben Regierungen, die dem globalen Alleinvertretungsanspruch der Vereinigten Staaten ebenso überraschend wie bislang entschlossen entgegentraten, zusammenkämen, geistigen Rat einholten und der europäischen Öffentlichkeit nach eingehender Unterredung etwa folgendes verkündeten:


Wir sind uns wohl bewusst, dass Europa vor einer historischen Weggabelung steht. Zwar verfügen wir über gemeinsame Institutionen vor allem politischer und rechtlicher Art und in weiten Teilen auch schon über eine einheitliche Währung, haben wir erst kürzlich Verträge unterzeichnet, die deren Geltungsbereich beträchtlich erweitern, doch soll der Alten Welt die Zukunft beschieden sein, die wir uns für sie erhoffen, dann bedarf es weit mehr als gemeinsamer Parlamente, Gerichtshöfe und Märkte. Unabdingbar ist eine nachträgliche Gründungsurkunde der Osterweiterung, eine politische Verfassung des Kontinents, und wie sich inzwischen herumgesprochen haben dürfte, liegt ein entsprechender Entwurf seit kurzem vor. Ohne uns in Einzelheiten zu ergehen, halten wir es angesichts der Weltlage für erforderlich, der öffentlichen Diskussion über die Voraussetzungen und Ziele einer europäischen Konstitution einen neuen Anstoß zu geben.

Interessen hängen nicht in der Luft, sondern mit Macht zusammen

Unlängst, anlässlich des Irak-Krieges, wurden wir Zeuge einer historischen Zäsur, deren langfristige Folgen momentan noch gar nicht abzuschätzen sind. Von Großbritannien unterstützt, entschlossen sich die Vereinigten Staaten zu einem Waffengang, der weder durch Beschlüsse der Vereinten Nationen gedeckt noch in ein tragfähiges Konzept der Entwicklung der gesamten Region nach dem Krieg eingebettet war. Und obwohl wir unsere Partner wiederholt und eindringlich zu Weitsicht und Zurückhaltung aufforderten, schoben sie alle mahnenden Worte beiseite und handelten auf eigene Faust. Sie ignorierten nicht nur den Willen der Völkergemeinschaft, sondern auch Geist und Buchstaben der Allianz, in der wir über viele Jahrzehnte hinweg Seite an Seite standen.

 

Wir sprechen das so deutlich aus, weil wir glauben, dass Meinungsverschiedenheiten in essenziellen Fragen gerade unter engen Verbündeten nach deutlichen Worten verlangen, und weil wir den Eindruck gewonnen haben, dass wesentliche Errungenschaften der Nachkriegsordung auf dem Spiel stehen. Wer hätte 1989 schon vorhergesehen, dass die Auflösung des Ostblocks, die wir alle begrüßten, so bald in eine Entwicklung einmünden würde, die, zu Ende gedacht, auch unser Bündnis untergräbt. Wir wünschen eine solche Wendung der Dinge nicht, müssen uns als verantwortliche Politiker aber darauf einstellen.


Das wirft die Frage nach den Interessen auf, die wir Europäer gemeinsam zu vertreten haben. Nun hängen Interessen nicht in der Luft, sondern eng mit der Macht zusammen, ihnen Gehör und Respekt zu verschaffen. Aber, wie wir schon sagten: Macht ist nicht das Letzte, wenn es um die Begründung kollektiver Strebungen geht, zumal dann nicht, wenn man es an Macht und Einfluss in der Welt mit anderen nicht aufnehmen kann. Dann hängt alles davon ab, dem Interesse ein geistiges, kulturelles Fundament zu verleihen; ein Fundament, auf dem es gedeihen, kräftig und für andere anziehend werden kann. Europa benötigt ein Projekt, und das heißt nicht nur eine Idee oder einen Plan, sondern ein Vorhaben, das von seiner Verwirklichung nicht getrennt werden kann. Ein Projekt ist schon deshalb nichts rein Ideelles oder gar Ausgedachtes, weil es seine Überzeugungskraft nur im Anschluss an die Geschichte, an kollektive Gewohnheiten und Vermögen gewinnt, die die Menschen ermutigen, mit Zuversicht und Unternehmungsgeist erfüllen.


So weit wir sehen, sind es zwei Prinzipien, die einem europäischen Projekt geschichtliche Anschlussfähigkeit und kulturelle Erdung sichern: Souveränitätsverzicht und fraglose Anerkennung.


Souveränitätsverzicht nach innen und außen ist das wohl bedeutsamste Vermächtnis unseres leidgeprüften Kontinents, seine sicherste Bürgschaft für die Zukunft. In erbitterten und verlustreichen Auseinandersetzungen mussten Einzelne, Gruppen und ganze Überlebenseinheiten lernen, ihre ungezügelten Leidenschaften und Machtansprüche zu zivilisieren, konfliktdämpfende Instanzen zwischen und über sich zu akzeptieren. Im Inneren schloss man Frieden mit dem Staat, den man seinerseits wachsender gesellschaftlicher Kontrolle unterwarf, zunächst im Westen, nach 1989 auch im Osten Europas, und was man in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts für unmöglich gehalten hatte, trat in der zweiten ein: Auch der Verkehr zwischen den Nationen gehorchte mehr und mehr überstaatlichen Regularien, Verbindlichkeiten, Rechtsordnungen, wobei der jüngste und kräftigste Schub in diese Richtung wiederum mit dem Aufbruch in Ost-Mitteleuropa zusammenfiel.

Fraglose Anerkennung, das zweite große Zukunftsversprechen des "alten Europa", umschreibt das gewohnheitsmäßige und verbriefte Recht eines jeden auf ein menschenwürdiges Dasein, und zwar einzig aus dem Grund, dass der- oder diejenige ist; hineingeboren in eine Welt, die sich für das Geschick ihrer Bürger verantwortlich fühlt.

Rückschläge werden wir nicht hinnehmen

 

Wir erlauben uns, in diesem Zusammenhang aus der Französischen Verfassung vom 24. Juni 1793 zu zitieren. Dort heißt es im Artikel 21:
"Die öffentliche Unterstützung der Bedürftigen ist eine heilige Schuld. Die Gesellschaft übernimmt den Unterhalt der in Not geratenen Bürger, indem sie ihnen Arbeit gibt oder denjenigen, welche arbeitsunfähig sind, die Mittel für ihr Dasein sichert."


Auch wir betrachten diesen Grundsatz als unantastbar. Ob es uns gelingt, die öffentliche Wohlfahrt in den nächsten Jahren merklich zu befördern, können wir heute nicht sagen; Rückschläge auf diesem Gebiet, die uns der Vergangenheit näher als der Zukunft bringen, werden wir nicht hinnehmen. Auch wollen wir uns nach Kräften bemühen, die sozial-moralischen Standards unseres Gemeinwesens in eine noch zu schaffende europäische Sozialcharta einzubringen. Denn nur im Inneren entspannte und auf Ausgleich bedachte Nationen garantieren Friedfertigkeit auch nach außen.


Wählt Europa den durch diese beiden Prinzipien eingezäunten Pfad, dann bewegt es sich im Einklang mit seiner geschichtlichen Erfahrung und in eine Richtung, die ihre Anziehungskraft auf andere nicht verfehlen dürfte. Es wird der einzig verbliebenen Weltmacht militärisch nicht die Stirn bieten können und insofern verletzlich bleiben, aber auch verführerisch, weil es der Welt ein alternatives Angebot unterbreitet.


Weicht Europa von diesem Pfad ab, lässt es sich verführen, statt selbst verführerisch zu sein, wird sich seinem machtpolitischen Bedeutungsverlust der kulturelle nur allzu bald hinzugesellen.

Deutschland - ein einziger großer Widerspruch

 

So könnten europäische Regierungen sprechen.
So sprechen sie nicht, noch nicht, weder die der Nachbarn noch unsere eigene.
Gerade Deutschland ist, politisch gesehen, ein eklatanter Widerspruch, der neues und altes Denken unvermittelt aufeinanderprallen lässt. Außenpolitisch hält man es mit dem Recht und mit jenen, die seiner bedürfen, innenpolitisch setzt man die Schwachen unter Druck und unterwirft das Recht sozialem Rückschritt.

Dabei hätte gerade die deutsche Regierung Anlass, die fiktive Botschaft der Politiker an die europäische Öffentlichkeit um eine ganze Passage zu erweitern.


Seit den frühen siebziger Jahren, so könnte sie beginnen, sehen sich die Regierenden in Deutschland mit Massenarbeitslosigkeit konfrontiert. 1975 überstieg deren Zahl erstmals die Millionengrenze, ein Jahrzehnt darauf waren schon mehr als zwei Millionen Menschen arbeitslos, und am Ende der achtziger Jahre waren es deren drei. Die frühen neunziger Jahre verzeichneten vier, die mittneunziger Jahre gar fünf Millionen Menschen ohne Arbeit, und nach einer kurzen Erholung am Ende des Jahrzehnts nähern wir uns diesem Scheitelpunkt erneut.


Nun gehört es zum parlamentarischen Geschäft, dass Regierung und Opposition einen derart kritischen Prozess gegensätzlich auslegen. Für die Opposition war die jeweilige Regierung der Hauptschuldige an der anschwellenden Reservearmee; die politisch Verantwortlichen verwiesen auf übergeordnete äußere Faktoren: auf Rohstoffkrisen (1973 und 1983), auf die abflauende Weltkonjunktur (Ende der achtziger Jahre), auf die Folgen der Wiedervereinigung (permanent seit 1990) sowie nochmals auf globalen konjunkturellen Abschwung (verstärkt seit 2001). So verständlich diese divergierenden Schuldzuweisungen auch sein mögen, so oberflächlich erscheinen sie uns, wenn man auf den gesamten Zeitraum blickt und zugleich über die deutschen Grenzen hinaus.

Einerseits wechselten in dieser Periode Regierungs- und Oppositionsparteien mehrfach die Plätze, und kaum war der Tausch vollzogen, machten sich beide Seiten die Sicht des vormaligen Gegners zu Eigen und ließen die Argumente, die sie noch kürzlich für beziehungsweise gegen schuldhaftes Regierungshandeln ins Feld geführt hatten, stillschweigend auf sich beruhen. Allein das gibt zu denken.


Andererseits bemühten sich während desselben Zeitraums Regierungen anderer europäischer und außereuropäischer Industrienationen um eine durchgreifende Lösung des Problems; auch dort sorgten Wahlen für wiederholte Positionswechsel, ohne dass das Thema von der politischen Tagesordnung verschwand.


Was der deutschen Arbeitsgesellschaft seit den frühen siebziger Jahren widerfuhr, ereilte in der einen oder anderen Weise auch die anderen großen Volkswirtschaften. Seither kamen die unterschiedlichsten ökonomischen Rezepte innerhalb der vielfältigsten politischen Konstellationen zum Einsatz, vom Neoliberalismus bis zum Neokeynesianismus, sodass man davon ausgehen kann, dass das volkswirtschaftlich derzeit Einsichtige auch praktisch versucht wurde. Natürlich gab und gibt es nationale und regionale Varianten des kritischen Prozesses, aber im Großen Ganzen setzte er sich über alle Bemühungen hinweg, seiner endgültig Herr zu werden. Für dieses Ergebnis in erster Linie wirtschafts- und finanzpolitische Mißgriffe der Regierenden verantwortlich zu machen, greift viel zu kurz.


Vielmehr spricht alles für tieferliegende Gründe und dafür, dass die Rollenverteilung im System der parlamentarischen Demokratie die Akteure geradezu systematisch daran hindert, zu ihnen vorzudringen. Außer höchst wünschenswerten Effekten wie Wettbewerb und rechtzeitiger Regeneration zeitigt sie nämlich einen Selbstblendungseffek. Das Verfallsdatum von Erkenntnissen, die man gerade dadurch gewinnt, dass man regiert beziehungsweise opponiert, fällt unglücklicherweise exakt mit dem Machtwechsel zusammen und verweist partielle Einsichten in den Gesamtprozess, die man bis gestern für die ganze Wahrheit hielt, ins Reich der unerlaubten, weil nunmehr schädlichen Gedanken.

Zwar lebt es sich mit dieser Verdrängung recht bequem, doch in der Sache wird dadurch nichts bewirkt, wie das Phänomen der Massenarbeitslosigkeit zur Genüge zeigt. Eingeschliffenen Beschwichtigungs- wie Skandalisierungsritualen gegenüber gleichermaßen resistent, nimmt es nur immer bedrohlichere Ausmaße an. Mit der Politik halbierter Wahrheiten zu brechen bedeutet für die Regierenden, auch fortan in Betracht zu ziehen, was sie als "Oppositionelle" wussten.
Und damit fangen wir jetzt an.

Noch eine ungehaltene Politikerrede. Leider

 

Wir räumen unumwunden Versäumnisse und Fehlentscheidungen ein, die eine anhaltende wirtschaftliche Belebung in unserem Land behinderten und noch behindern: Unsere Mitwirkung an Vorschriften, Verfahren und Gesetzen, die die persönliche Initiative lähmen; unsere Mitschuld am Verzug einer zeitgemäßen Forschungs- und Bildungspolitik; das allzu lange Festhalten an einer Fiskalpolitik, die der Geldwertstabilität einseitig Vorrang vor der Stimulierung privater und öffentlicher Nachfrage einräumte; die verbissene Verteidigung arbeitsrechtlicher Bestimmungen auch dort, wo sie der Begründung auskömmlicher Arbeitsverhältnisse entgegenstehen; in all diesen Fällen wollen wir schnell und konsequent für Abhilfe sorgen.

 

Nur dürfen wir dabei nicht der umgekehrten Blindheit anheimfallen und vergessen, was wir während früherer Amtsperioden widerstrebend lernen mussten - dass die gesamtwirtschaftliche, technisch-technologische Entwicklung langfristig in eine andere Richtung als die mehrheitlich angestrebte weist, ohne jede Beschönigung gesagt: in die entgegengesetzte.

Wir versprechen, nichts unversucht zu lassen, um Menschen, die aus der Arbeitswelt verstoßen wurden, neue Erwerbschancen zu eröffnen; eine Rückkehr zur Arbeitsgesellschaft im eigentlichen Sinne des Wortes, das heißt zur Vollbeschäftigung, können und wollen wir dagegen nicht versprechen.
Noch eine ungehaltene Politikerrede. Leider.
Denn mag die Formulierung einer europäischen Außenpolitik auch dort besser aufgehoben sein, wo die Eliten auf einen längeren und im ganzen glücklicheren Umgang mit politischer Souveränität zurückblicken - man denke etwa an Frankreich -: Für die Formulierung der innen -, besonders der sozial- und wirtschaftspolitischen Prinzipien eines geeinten Europa sind deutsche Regierungen geradezu prädestiniert. Sie können dabei aus einer wegweisenden Erfahrung schöpfen - die der Ostdeutschen seit 1990.

Gemeinhin spricht man dieser Erfahrung den nach vorn, in die Zukunft gerichteten Charakter gerade ab und wähnt die Ostdeutschen seit der Wiedervereinigung auf ausgetretenen Pfaden. In dieser Perspektive hat es auch mit der Massen- und Dauerarbeitslosigkeit in Ostdeutschland keine besondere Bewandtnis. Dabei genügt es, eine einzige Frage aufzuwerfen, um das Außergewöhnliche des ostdeutschen Falls zu verstehen: Warum gelang es trotz aller Anstrengungen und begünstigenden Umstände nicht, das Ausmaß dieser Arbeitslosigkeit zu mindern, warum bewegt es sich gegenwärtig sogar auf höherem Niveau als in den Jahren unmittelbar nach dem Umbruch?

 

Vor dem Hintergrund des rabiaten Deindustrialisierungsprozesses der Nachwendezeit wirkt die Rede von begünstigenden Umständen auf den ersten Blick befremdlich. Aber sie existieren, und drei Faktoren verdienen in diesem Zusammenhang ausdrückliche Erwähnung: tarifpolitische Flexibilisierung, Transfer, Abwanderung.

Im Osten ist die Wiederkehr der Arbeitsgesellschaft nicht zu erahnen

Die außer- und das bedeutet in der Regel: untertarifliche Entlohnung, die in der ostdeutschen Wirtschaft nach 1990 zum Normalfall wurde, bewirkte kein Jobwunder; langfristig gefährdet die Politik der billigen Arbeit Beschäftigungsverhältnisse sogar eher, als dass sie sie sichert. Je niedriger Löhne und Gehälter, desto geringer ist der Rationalisierungsdruck, der Anreiz zur Technisierung und Automatisierung der Fertigungsprozesse, was die Wettbewerbsfähigkeit namentlich jener Unternehmen schwächt, die international agieren. Sie sollten sich Ostdeutschland diesbezüglich nicht zum Vorbild nehmen. Die Unternehmerklage über zu hohe Lohnnebenkosten unterschlägt nur allzu gern deren Kehrseite - vergleichsweise geringe und weiter sinkende Lohnstückkosten; das Geheimnis des deutschen Exporterfolgs seit Jahrzehnten.

Auch der Finanztransfer ins Beitrittsgebiet trieb keine Beschäftigungsblüte hervor, obwohl sich dessen Gesamtsumme bereits Ende der neunziger Jahre auf mehr als eine Billion Mark belief; seit der Verabschiedung des Solidarpakts II fließt diesem Strom eine neue, kräftige Ader zu. Das Geld hat Wirkung gezeigt. Verkehrswege und Kommunikationsnetze wurden erneuert, Stadtteile und ganze Städte restauriert und die damit Betrauten auch vorübergehend mit Arbeit versorgt; dauerhaften Aufschwung vermochte es der Erwerbstätigkeit nicht zu verleihen.

Floss das Geld von West nach Ost, so strömten die Menschen wie schon zu DDR-Zeiten in die Gegenrichtung. Per Saldo verlor Ostdeutschland seit dem Spätherbst 1989 weit über eine Million Menschen, und auch dieser Prozess setzte sich in den darauffolgenden Jahren fort. Immer weniger Ostdeutsche drängen auf den Lehrstellen- und Arbeitsmarkt, partizipieren dadurch an pro Kopf steigenden Kompensationen, ohne dass sich diese Märkte sichtlich entspannen, ohne dass sich die Wiederkehr der Arbeitsgesellschaft auch nur erahnen lässt. Warum ist das so?


Um hier klarer zu sehen, muss man Struktur in das soziale Drama bringen. Eine populäre Schrift Lenins paraphrasierend, kann man von drei Quellen und drei Bestandteilen ostdeutscher Arbeitslosigkeit sprechen.

Da ist zunächst das Erbe der DDR, einer politischen Organisation, die keine rationale Wirtschaftsweise aufkommen ließ und die Verantwortung dafür trägt, dass die in den ökonomischen Wettbewerb entlassenen ostdeutschen Unternehmen der Herausforderung mehrheitlich nicht gewachsen waren, weder im innerdeutschen Maßstab noch im globalen. Dieser Ausmusterungsprozess rekrutierte das erste große Kontingent ostdeutscher Arbeitsloser.


Als nächstes kommen politische Weichenstellungen in Betracht, die das Dilemma verstärkten, in erster Linie die so gut wie übergangslose Einführung der D-Mark ins ostdeutsche Wirtschaftsgebiet. Die dadurch bedingte vierhundertprozentige Aufwertung der bisherigen Binnenwährung führte zum umgehenden Kollaps fast der gesamten exportorientierten DDR-Wirtschaft. Aus den Hinterbliebenen dieses Zusammenbruchs formte sich das zweite große Kontingent ostdeutscher Arbeitsloser.


Beide Bestimmungsgründe liefern eine Erklärung dafür, warum das Heer der Arbeitslosen im Osten Deutschlands so atemberaubend schnell anschwoll.


Um darüber hinaus zu begreifen, warum es in der Folgezeit nicht wenigstens um ein Geringes schrumpfte, muss man sich der dritten Quelle ostdeutscher Massenarbeitslosigkeit zuwenden, das Kontingent bestimmen, das ausschließlich ihr zuzurechnen ist.

Verschwendung und Produktivität

Zwei Exempel liefern näheren Aufschluss.
Das erste bringt ein historisches Datum nochmals ins Spiel, das indirekt schon genannt wurde: den 1. Juli 1990, den Tag, an dem die Wirtschafts- und Währungsunion vollzogen wurde und die bundesdeutsche Währung in der Noch-DDR Einzug hielt. Binnen vierundzwanzig Stunden verschwand das vertraute ostdeutsche Warenangebot aus den Regalen der Geschäfte, um vornehmlich westdeutscher Ware zu weichen. Die Zahl derer, die dadurch ihre Arbeit verloren, wird sich statistisch kaum jemals exakt fixieren lassen, aber geringe Einbildungskraft genügt, um an all jene zu denken, die die nun moralisch verschlissenen Produkte erzeugten, vertrieben, verkauften und, gegebenenfalls, instandsetzten.


Nur verloren sie ihre Arbeit nicht aufgrund wirtschaftlicher Ineffizienz, sondern gerade aus dem gegenteiligen Grund - weil die westdeutsche Wirtschaft logistisch auf der Höhe und leistungsfähig genug war, um sechzehn Millionen Ostdeutsche beinahe über Nacht mit allem Notwendigen und Überflüssigen zu versorgen.Das zweite Exempel weist denselben gedanklichen Weg.


Überall dort, wo sich ostdeutscher Gewerbefleiß nach dem Aderlass noch in größerem Maßstab behauptete oder neu entfaltete, geschah dies auf Grundlage des höchst möglichen technisch-technologischen und arbeitsorganisatorischen Standards. Erschließungsaufwendungen und Investitionssummen von oftmals mehreren Milliarden D-Mark waren dann gerade ausreichend, um einige Hundert, ausnahmsweise auch einmal wenige Tausend Menschen dauerhaft mit Arbeit zu versorgen, und zwar an Standorten, an denen vormals Zehntausende Beschäftigung und Auskommen gefunden hatten.


Hier, in der exponentiell gewachsenen Arbeitsproduktivität, findet man die letzte Antwort auf die Frage, weshalb es zu keinem Abschmelzen der industriellen Reservearmee in Ostdeutschland kam.

Die Ostdeutschen wurden in großer Zahl arbeitslos, weil sie aus einer Gesellschaft kamen, deren Wirtschaftsweise zu den verschwenderischsten und abenteuerlichsten der Weltgeschichte gerechnet werden muss; sie blieben arbeitslos, weil sie einer Gesellschaft beitraten, deren Wirtschaftsweise, für sich genommen, das heißt ohne auf die sozialen Kosten zu sehen, den bisherigen historischen Gipfel an Effizienz und Produktivität repräsentiert.

Gerade weil sich die Reindustrialisierung Ostdeutschlands höchst punktuell vollzog, auf den Trümmern eines beispiellosen Zerstörungswerks, geben sich Logik und Fluchtpunkt der gegenwärtigen technologischen Revolution hier ein ideales Stelldichein, zeigen sie sich gleichsam unverstellt und nackt, in ihrer ganzen imposanten Brutalität.

Vertrieben in die Zukunft

 

Die Erfahrungen, die die Ostdeutschen als Konsumenten wie als (potentielle) Produzenten seit 1990 mit der neuen Arbeitsweise sammelten, verlangt gebieterisch nach einer anderen Wahrnehmung der Arbeitslosigkeit; nach einer Wahrnehmung, die Jeremy Rifkin in diese Worte faßt:
"Die alte Logik, dass technologische Fortschritte und Steigerungen der Produktivität zwar alte Jobs vernichten, aber ebenso viele neue schaffen, trifft nicht länger zu ... Zur Mitte des 21. Jahrhunderts wird die Wirtschaft die technischen Notwendigkeiten und die organisatorische Kapazität besitzen, Güter und einfache Dienste für eine wachsende Bevölkerung mit einem Bruchteil der jetzt dort arbeitenden Beschäftigten bereitstellen zu können."

Was die gegenwärtige Lage der Ostdeutschen zum Politikum macht, ist die Tatsache, dass sie zu Teilen, obschon mehrheitlich gegen ihren Willen, in dieser Zukunft bereits angekommen sind; man könnte auch sagen: in si

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