Don't look back in Anger

Die SPD sollte damit aufhören, sich an ihrer früheren Regierungspolitik abzuarbeiten. In ihrer aktuellen Verfassung wäre die Partei nicht in der Lage, eine neue Koalition anzuführen. Bis spätestens 2013 muss das anders werden

Ein Jahr nach ihrer desaströsen Niederlage bei der Bundestagswahl hat die SPD keine Zeit mehr für den Blick zurück im Zorn. Will die Partei ihre Regierungsfähigkeit im Bund wieder erlangen, sollte sie vielmehr einen Tempo- und Perspektivwechsel vornehmen: Neben der programmatischen Versöhnung mit sich selbst geht es darum, sich auch organisatorisch, strategisch und inhaltlich wieder als Regierungspartei aufzustellen.

Denn erstens hat sich unsere Parteiendemokratie durch das neue Fünf-Parteien-System und die schleichende Transformation der Parteien stärker verändert, als viele es wahrhaben wollen. In der neuen Konkurrenzsituation verändern sich die Integrations- und Mobilisierungskraft der großen Parteien sowie ihr Verhältnis zu den mittleren und kleinen Parteien. Die demoskopische Talfahrt der FDP auf derzeit um die fünf Prozent und der parallele Höhenflug der Grünen mögen Momentaufnahmen sein. Dennoch zeigen sie, wie schnell und unberechenbar sich die Wähler neu orientieren können.

Ein wesentlicher Faktor des veränderten Parteienwettbewerbs ist die relativ stabile Ausdifferenzierung des linken Lagers in drei Parteien, die untereinander auf Bundesebene noch nicht koalitionswillig sind. Die mickrigen 23 Prozent der SPD im vergangenen September werden aus Sicht der großen Parteien vermutlich kein Ausrutscher bleiben, das Ergebnis markiert eher den Beginn einer neuen Normalität. Natürlich sind in Zukunft auch wieder bessere Wahlergebnisse möglich, und die SPD kann durchaus wieder an die Bundesregierung kommen. Aber es geht eben nicht mehr primär um die Alleinregierung oder die Koalition mit einer kleineren Partei, sondern darum, in einer Konstellation mit einem größeren und einem kleineren Partner zur Übernahme der Führungsrolle in der Lage zu sein. In einem Fünf-Parteien-System können die großen Parteien ihre Dominanz nur noch durch ihre relative Größe aufrechterhalten – und durch ihre strukturelle Fähigkeit, Lager (und perspektivisch Koalitionen) zu bilden und anzuführen.

Gegenwärtig befindet sich die SPD in einem Zwischenstadium. In den vergangenen Jahren hat sie ihre gesellschaftliche Repräsentationsfähigkeit verloren, was sich in sinkenden Mitgliederzahlen, einer dramatischen Überalterung der Mitgliedschaft und der Erosion der kommunalen Basis niederschlägt. Angesichts dieses Ressourcenschwundes steht die Partei gleichsam vor einem nachholenden Strukturwandel im Bund und in der Fläche – einem Strukturwandel, den ihre Milieus oft bereits erfahren haben. Ein Beispiel dafür sind die immer größeren Probleme der Parteigliederungen, kommunale Mandatsträger zu gewinnen. Auch die demografische Realität macht der SPD zu schaffen: Von den rund 10 Millionen Wählern, die der SPD zwischen 1998 und 2009 auf Bundesebene abhanden gekommen sind, sind 0,5 Millionen schlicht verstorben.

Perspektivisch steht die Existenz der SPD infrage

Diese Tendenzen lassen sich unschwer in die Zukunft projizieren: Perspektivisch ist die Existenz der SPD als eine relevante politische Kraft infrage gestellt, die gesellschaftliche Widersprüche im Sinne ihrer eigenen Ideen und Ziele auflösen kann. Will sie diese gefährliche Entwicklung abwenden, muss die SPD den Widerspruch zwischen linker Gesinnung einerseits und innerem Strukturkonservatismus andererseits überwinden. Dazu gehören die (zumindest partielle) Öffnung der Partei bei Meinungsfindungsprozessen und Wahlen auf allen Ebenen, eine Strategie der Öffnung für politische Quereinsteiger als Amts- und Mandatsträger sowie Elemente direkter Demokratie.

Eine solche konditionierte Öffnung ist alternativlos (aber nicht ohne zusätzliche Gefahren und Belastungen zu haben). Um sie zu bewältigen, benötigt die neue Parteiführung ein hohes Maß an Führungskompetenz. So hat Parteichef Sigmar Gabriel vorsichtige Sympathien für eine Öffnung der SPD erkennen lassen, während die Basis sich bei der letzten Ortsvereinsbefragung skeptisch äußerte. Die Zukunft der SPD als Führungspartei wird sich maßgeblich auch daran entscheiden, ob und wie die Partei Differenzen zwischen den Interessen von Bürgern und Mitgliedern, aber auch zwischen denen von Mitgliedern und potenziellen Mitgliedern ausbalanciert. Fest steht jedoch auch: Ohne Mitglieder gibt es keine Mitgliederpartei. Und genau das will die SPD zu Recht bleiben.

Zweitens ist die SPD strategisch gegenwärtig nicht in der Lage, eine linke Lagerkoalition anzuführen. In den vergangenen zehn Jahren brachten nicht weniger als zwei Bundestagswahlen und fünfzehn Landtagswahlen eine Mehrheit der linken Parteienfamilie, ohne dass die Ergebnisse von der SPD in eine Regierungsmehrheit umgemünzt wurden. Aus strategischer Perspektive ergibt sich daraus – jenseits aller normativen Begründungszusammenhänge – ein struktureller Nachteil für die SPD im Parteienwettbewerb. In dieser „asymmetrischen Lagerstruktur“ (Joachim Raschke) ist das bürgerliche Lager eine reale machtpolitische Option, das linke Lager jedoch nur eine Chimäre.  

Die Alternative dazu ist eine lagerübergreifende Strategie, wie sie die SPD etwa in Form der Großen Koalitionen verwirklicht hat, allerdings ohne – als Juniorpartner – glücklich zu werden. Auch die sozial-liberale Koalition und die „Ampel“ existieren heute weder auf Bundes- noch auf Landesebene. Und das, obwohl sie rechnerisch nicht selten möglich waren. Für die SPD haben Linkspartei und FDP am Ende einen spiegelbildlichen Effekt: In beiden Fällen kann sich nur eine Minderheit innerhalb der Partei eine solche Koalition vorstellen. Der Rest der Partei lehnt eine Zusammenarbeit jeweils vehement ab.

Gleichzeitig deuten die krisenhaften Entwicklungen innerhalb der schwarz-gelben Regierungsparteien bereits die nächste Veränderung des Parteiensystems an: Dass Schwarz-Gelb im Jahr 2013 einen echten Lagerwahlkampf führt, wird immer unwahrscheinlicher. Vielmehr verdichten sich die Anzeichen, die FDP könne sich angesichts ihrer verheerenden bisherigen Regierungsbilanz von der orthodoxen Lagerpartei – gewissermaßen der Linkspartei des bürgerlichen Lagers – zu einer Scharnierpartei ähnlich den Grünen entwickeln, um künftig mehrere Koalitionsoptionen zu besitzen.

Inhaltlich derzeit keine Volkspartei mehr

Damit verschlechtern sich die strategischen Perspektiven der SPD aber gar nicht zwangsläufig, zumindest solange sie sich alle Koalitionsoptionen offen hält. Wie das funktionieren kann, zeigt das Beispiel Ostdeutschland. Tatsächlich ist Ostdeutschland auch mit Blick auf die Parteienlandschaft „Avantgarde wider Willen“ (Matthias Platzeck) und damit auch für die SPD nolens volens ein Labor für die Zukunft. Gerade in den ostdeutschen Flächenstaaten sind die großen Parteien nie Volksparteien im westdeutschen Sinne gewesen. Ein wesentlich niedrigerer Organisationsgrad, ein von Beginn an etabliertes Fünf-Parteien-System mit deutlich nivellierten Mehrheitsverhältnissen und ein funktionsfähiges linkes Lager verschaffen der Ost-SPD andere strategische Optionen, die sie auch zu nutzen weiß: Die SPD regiert erfolgreich in vier der fünf neuen Länder – sowohl mit der Linkspartei in Potsdam und Berlin als auch mit der CDU in Erfurt, Magdeburg und Schwerin. In Brandenburg stellt die SPD seit nunmehr 20 Jahren Regierung und Ministerpräsidenten und hat bereits in drei verschiedenen Koalitionen bestätigt, dass die Wahl des Koalitionspartners auch eine Frage der Gelegenheiten und der Führungskraft ist.

Drittens ist die SPD derzeit auch inhaltlich keine Volkspartei, weil sie längst nicht mehr auf jedem Politikfeld kompetent vertreten, geschweige denn dominant ist. Um sich inhaltlich-strategisch neu zu positionieren, muss sie ihren Markenkern stärker herausstellen: Die SPD ist in ihrem Gesellschafts- und Gerechtigkeitsdenken dem Leitbild der solidarischen Arbeitnehmergesellschaft verpflichtet. Sie präferiert gesellschaftliche Integration durch Erwerbsarbeit. Integration durch Transferzahlungen ist für sie bestenfalls die zweitbeste Möglichkeit. Auf dieser Basis erhebt die SPD den Anspruch, sich als hegemoniale Partei im linken Lager zu festigen, ohne ihre Koalitionsfähigkeit zu den Parteien der rechten Mitte einzuschränken.

Gefragt ist eine Politik, die sich wieder unmittelbar zur Arbeitnehmerschaft als Kern und Magnet einer solidarischen Gesellschaft bekennt und den Zugang zu ihr organisiert – unabhängig von Alter, Herkunft und Geschlecht. Die strategische Chance liegt für die SPD mithin darin, zwischen den sozialstaatlichen Maximalpositionen – Ausbau des Transfersystems einerseits und radikaler Rückbau des Staates andererseits – eine konstruktive Zwischenposition einzunehmen, aus der wieder neue machtpolitische Perspektiven entstehen können.

Die Negation der Agenda ist noch keine Politik

Als Führungspartei muss die SPD auch ihre inhaltlichen Positionen auf die Höhe der Zeit bringen. Im Herbst 2010 scheint sie von diesem Ziel noch weit entfernt. Die Aufarbeitung und teilweise Abwicklung ihrer Regierungspolitik bis 2009 absorbiert alle Energie. Seit den Bundestagswahlen bezieht sich die stolze Sozialdemokratie zu stark auf das Gestern – mal Erfolge reklamierend (Kurzarbeitergeld, Bankenrettung), mal Absolution suchend (Hartz, Rente mit 67, Afghanistan). Ausgeschiedene Fachpolitiker, weggefallene Ministerial-Apparate und fragwürdige Schwerpunkte haben auf manchen Gebieten zu fachpolitischen Leerstellen und schmerzhaft mangelnder Expertise geführt. In zentralen Fragen ist die SPD schlicht nicht auf dem Platz – oder wenn, dann nur mit Einzelkämpfern. Doch wer zuspitzen will, braucht eine Mannschaft. Die SPD muss über die Agenda hinausgehen, darf sich aber nicht in der Negation der Agenda-Politik erschöpfen. Sie braucht neue Konzepte.

Denn unsere Gesellschaft steht vor großen Herausforderungen: Die demografische Revolution ist im Begriff, unsere Sozialversicherungs-, Gesundheits- und Rentensysteme ebenso wie unsere Arbeits- und Industriegesellschaft fundamental umzuformen. Der dramatisch ansteigende Fachkräftemangel ist schon heute ein ökonomisches Problem ersten Ranges, ohne dass sich die Langzeitarbeitslosigkeit dadurch von selbst erledigen würde. Hinzu kommen öffentliche Haushalte, die in den nächsten zehn Jahren aufgrund der Maastricht-Kriterien, der Schuldenbremse, wegfallender europäischer Fördermittel oder zurückgehender Solidarpaktzahlungen um bis zu 30 Prozent schrumpfen werden. Mehr denn je sind überzeugende Antworten und politische Gestaltungskraft gefordert. Ebenso kostspielige wie fragwürdige Instrumente suggerieren nur Sicherheiten, wo es keine geben kann.

Keine zeit für ausgiebige Rekonvaleszenz

Dasselbe gilt für die Einwanderungspolitik. Die Sarrazin-Debatte macht das Problem der SPD deutlich: Zwischen entschlossenem Schweigen, moralischer Empörung und politischer Auseinandersetzung findet die SPD zu keiner schlüssigen, abgestimmten Argumentation und Haltung. Währenddessen boykottieren in Berlin die eigenen Bezirksbürgermeister, in deren Bezirke viele Migranten leben, das Integrationsgesetz des SPD-geführten Senats. Will die SPD als Führungspartei spätestens 2013 wieder Regierungsverantwortung übernehmen, wird sie mehr, eindeutigere, kompetentere und selbstbewusstere Antworten geben müssen, als sie es heute vermag.

Viertens muss die SPD in einem Fünf-Parteien-System dies- und jenseits des linken Lagers zu einer selbstbewussten Linie finden, um wieder mehrheits- und regierungsfähig zu werden. Ein Jahr nach der jüngsten Bundestagwahl ist klar: Die Partei kann sich eine ausgiebige Rekonvaleszenz nicht leisten. Sonst scheitert sie aufgrund ihrer eigenen Unzulänglichkeit daran, das große schwarz-gelbe Missverständnis abzulösen. Zu groß sind die gesellschaftspolitischen Herausforderungen, aber auch die organisationspolitischen, strategischen und inhaltlichen Defizite der Sozialdemokratie. Nicht nur der Parteivorsitzende, auch die Partei insgesamt muss sich auf den Weg machen, um zu einer selbstbewussten Führungspartei im linken Lager zu werden, die strategisch und organisationspolitisch in der Lage ist, mit weniger Mitgliedern politisch effizient und partizipatorisch attraktiv zu agieren, wechselnde Koalitionen zu dominieren und zunehmend volatile Wählermärkte anzusprechen. Auf dem bevorstehenden Parteitag sollte der Startschuss fallen. Jetzt muss sich die Sozialdemokratie bewegen und den Blick nach vorne richten. «







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