Die Zeit der Gesetzlosigkeit ist bald vorbei

Vor zwei Jahren regelte Schwarz-Gelb das Bundestagswahlrecht neu. Im vorigen Jahr erklärte das Bundesverfassungsgericht entscheidende Teile dieser Reform für nichtig. Nun endlich haben sich die Bundestagsfraktionen auf die Grundzüge eines neuen Wahlrechts verständigt - gerade noch rechtzeitig zum Wahljahr 2013

Hurra, wir wählen noch! Das ist ja nicht selbstverständlich. Im Juli 2012 hat das Bundesverfassungsgericht wesentliche Teile des Bundeswahlgesetzes für verfassungswidrig und nichtig erklärt. Seither haben wir in Deutschland – immerhin die bevölkerungsreichste Demokratie der Europäischen Union – kein vollständiges Wahlgesetz für den Bundestag mehr. Glücklicherweise dürfte die Zeit der Gesetzlosigkeit bald vorbei sein. Die Parlamentarischen Geschäftsführer der Bundestagsfraktionen haben sich in ihrer „AG Wahlrecht“ nach fünf Sitzungen auf die Grundzüge eines neuen Wahlgesetzes geeinigt. Wie immer steckt der Teufel im Detail, und es bleibt abzuwarten, wie der endgültige Gesetzestext lauten wird. Ohne dem Endergebnis vorgreifen zu wollen, möchte ich im Folgenden die voraussichtlichen Neuregelungen anhand der Ergebnisse der Wahl 2009 erläutern.

Summa summarum: Ein großer Wurf!

Eine Bemerkung vorab: Das neue Wahlsystem birgt ein großes Potenzial. Die parteiliche und personelle Zusammensetzung des Bundestages gerät so gerecht wie möglich. Das Verfahren zur Zuteilung der Sitze ist so anpassungsfähig wie möglich und in mancher Hinsicht – wenn auch nicht in jeder – so einfach wie möglich. Zudem entbehrt das System der Ecken und Kanten des alten Systems: Überhangmandate, negative Stimmgewichte und doppelte Stimmenerfolge sind Irritationen von gestern. Summa summarum handelt es sich um einen großen Wurf – entgegen manch anderer Unkenrufe.

Das Bundeswahlgesetz will eine mit der Personenwahl verbundene Verhältniswahl verwirklichen. Um die Ergebnisse der Personenwahl und der Verhältniswahl ausgewogen zur Geltung zu bringen, wird im neuen Wahlgesetz gegebenenfalls die Größe des Bundestags erhöht. So lassen sich die am Ende des Wahltages ausgezählten Erst- und Zweitstimmen miteinander verbinden. Nach diesem Modell wäre der Bundestag bei der Wahl 2009 von 598 Anfangssitzen auf 671 Endsitze angewachsen. Das Parlament hätte während der gesamten Legislaturperiode konstant 671 Sitze umfasst. Tatsächlich begann er nach altem Recht inklusive 24 Überhangmandaten mit 622 Sitzen und ist mittlerweile auf 620 Sitze abgeschmolzen.

Das neue Gesetz vergibt alle Endsitze genau im Verhältnis der Zweitstimmenerfolge der Parteien. Die parteiliche Zusammensetzung des Bundestages folgt also perfekt dem Wählervotum, wie es in den maßgeblichen – so versichert es uns der Stimmzettelaufdruck – Zweitstimmen zum Ausdruck kommt. Bei der Wahl 2009 wäre auf je 60 800 Zweitstimmen rund einer der 671 Sitze entfallen. Teilt man die bundesweiten CDU-Zweitstimmen durch den Wahlschlüssel, kommt der Quotient 11 828 277 / 60 800 = 194,54 heraus, also 194 ganze Sitze und 0.54 Sitzbruchteile. Die Bruchteile werden so behandelt wie im kaufmännischen Leben. Bei einem Rest größer als ein Halb kommt noch ein Sitz hinzu, bei einem kleineren Rest nicht. Die CDU hätte 194 + 1 = 195 Sitze erhalten. 

Diese Art der Sitzzuteilung heißt Divisorverfahren mit Standardrundung. Sie wird oft mit den Namen des französischen Mathematikers André Sainte-Laguë (1882 – 1950) und des ehemaligen Mitarbeiters der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, Hans Schepers, verbunden.

Wonach Journalisten niemals fragen

Da die Parteien keine Bundesliste ihrer Kandidatinnen und Kandidaten vorlegen, sondern Landeslisten, muss für die personelle Zuordnung erst noch festgestellt werden, wie viele der bundesweiten Parteisitze auf die jeweiligen Landeslisten entfallen. Dabei kommen nun auch die Erststimmenerfolge zum Tragen. Für jede Landesliste gilt die größere Sitzzahl, die sie mittels Direktmandaten oder über die Zweitstimmen erreicht. Bei der CDU-Unterzuteilung hätte es dafür eines Wahlschlüssels von 68 400 Zweitstimmen bedurft. In Schleswig-Holstein hatte die CDU-Landesliste neun Direktmandate vorzuweisen. Dem wären acht Sitze (aufgerundet von 7,6) aus der Verhältnisrechnung an der Seite gestanden. Das bessere Ergebnis hat Bestand, die Landesliste erhält neun Sitze.

Bei diesen Unterzuteilungen an die Landeslisten wird die Arbeit also etwas aufwendiger. Der Aufwand dient dazu, Erst- und Zweitstimmenerfolge zusammenführen zu können. Die Unterschiede werden im Vergleich von CDU und SPD deutlich: Bei der CDU muss angesichts von 173 Direktmandaten der Wahlschlüssel etwas größer ausfallen (68 400), um im Endergebnis die 195 Sitze genau auszuschöpfen. Bei der SPD sind die Direktmandatserfolge zu gering, um die Verhältniswahlkomponente zu übersteuern. Der SPD-Wahlschlüssel 60 500 kommt fast dem Bundesdivisor 60 800 gleich. Ganz genau gleich ist er nicht, weil es eben zwei unterschiedliche Schritte sind. FDP, Linkspartei und Grüne bedürfen analoger Unterzuteilungen, die wir hier überspringen.

Eigentlich war die Novellierung des Bundeswahlgesetzes schon seit dem Urteil zum negativen Stimmgewicht fällig, welches das Bundesverfassungsgericht im Juli 2008 verkündet hatte. Es kann nur darüber spekuliert werden, warum das Thema danach dem Dornröschenschlaf überlassen wurde. Die märchenhafte Entwicklung wurde mir durch die Bemerkung einer Abgeordneten bei einer der Anhörungen im Bundestag klar. Die Debatte drehte sich um das negative Stimmgewicht, mit dem im alten Gesetz Wähler durch die Nichtabgabe ihrer Zweitstimmen der Partei ihrer Wahl einen Sitzvorteil verschaffen konnten. Mein Einwand, so ein widersinniger Effekt sei schon allein deshalb abzustellen, um einschlägige Fragen von Journalisten klar beantworten zu können, wurde von der Abgeordneten entkräftet: „Journalisten haben mich noch nie nach dem Wahlsystem gefragt, und schon gar nicht nach einem negativen Stimmgewicht.“

In der Tat ist die schleppende Reparatur des Bundeswahlgesetzes von der schreibenden Elite dieses Landes ohne große Kritik hingenommen worden. Wenn überhaupt berichtet wurde, dann in Form einer Erwartungshaltung, der Bundestag möge „sein“ Wahlrecht geeignet reformieren. Von den Wählern war kaum die Rede. Vielleicht ist diese Haltung wieder einmal Ausdruck der deutschen Amtsgläubigkeit, dass die Institutionen für unser (und ihr eigenes) Wohlergehen schon Sorge tragen werden. Zum Glück ist die Erwartung ja auch nicht wirklich enttäuscht worden. Der Bundestag hat die Novellierung des Wahlgesetzes angepackt, mit gelegentlicher Nachhilfe vom Bundesverfassungsgericht. Die neue Lösung ist eine kanonische Fortschreibung des alten Gesetzes: Erst wird die parteiliche Zusammensetzung des Bundestages geregelt, dann die personelle.

Die Verfahrensschritte erscheinen in obiger Darstellung deshalb so transparent, weil wir direkt auf die endgültige Größe von 671 Sitzen gesprungen sind, die der Bundestag nach der Wahl 2009 gehabt hätte. Wie werden die 671 Sitze bestimmt? Nach wie vor beginnt das Gesetz mit 598 Sitzen. Der Sprung auf 671 ist das Ergebnis einer Vorabkalkulation, die sicherstellt, dass mit der endgültigen Sitzzahl Erst- und Zweitstimmenerfolge ausbalanciert werden können. Mit herkömmlicher Diktion würden wir sagen, dass die Überhangmandate alter Art und die Ausgleichsmandate neuer Art ein ausgewogenes Ganzes bilden sollen.

Es bleibt beim Zweistimmensystem

Die derzeit ins Auge gefasste Vorabkalkulation läuft unter dem Kürzel SK + A, was expandiert Sitzkontingente nach Ländern plus Ausgleich bedeutet. Diese Kalkulation umfasst vier Schritte. Im ersten Schritt werden die 598 Sitze auf die 16 Bundesländer aufgeteilt. Jedes Land bekommt doppelt so viele Sitze, wie es Wahlkreise hat. Im zweiten Schritt wird das Sitzkontingent eines Landes unter den Parteien im Verhältnis der Zweitstimmen verteilt; dieses Ergebnis nenne ich hier einmal „Verhältnisschätzung“. Im dritten Schritt wird für jede Landesliste das bessere Ergebnis von Wahlkreissiegen und Verhältnisschätzung vorgemerkt. In der Summe ergibt sich daraus die Sitzvormerkung für die Partei auf Bundesebene. Im vierten Schritt wird die Bundestagsgröße schrittweise erhöht, bis alle Partei-Vormerkungen erfüllt werden können. Am Ende dieses Marathons wären bei der Wahl 2009 671 Sitze entstanden.

Die Vorabkalkulation macht die Bundestagsgröße beweglich. Es kommt also nicht immer ein Bundestag mit 671 Sitzen zusammen. Bei der Wahl 2005 wären es 625 Sitze gewesen (statt tatsächlicher 614), 2002 nur 612 (statt 604). Natürlich gibt es mehr Möglichkeiten, Vorabkalkulationen auf die Beine zu stellen. Andere Ansätze gehen mit anderen Bundestagsgrößen einher. Die als verbesserte personalisierte Verhältniswahl (VPV) bezeichnete Kalkulation würde weniger Sitze ergeben als SK+A. Die direktmandatstreue Proporzanpassung (DirPro) wäre noch sparsamer. Weitere Optionen sind denkbar.

Den verschiedenen Vorabkalkulationen ist gemeinsam, dass sie die Struktur des Bundeswahlgesetzes beibehalten. Es bleibt beim Zweistimmensystem, gemäß welchem wir mit der Erststimme einen Wahlkreissieger küren und mit der – maßgeblichen – Zweitstimme die parteiliche Zusammensetzung des Bundestags bestimmen. Ebenso bleibt es bei der Nominierung der Bewerber über Landeslisten. All dies kann der Bundestag ändern, wenn er will. Größere strukturelle Änderungen bedürfen jedoch eines zeitlichen Vorlaufs und sind bis zur nächsten Wahl im September 2013 nicht mehr zu schaffen. Der nächste Bundestag könnte sich gleich eine strukturelle Änderung des Bundeswahlgesetzes auf die Tagesordnung setzen.

Wahrscheinlicher ist, dass dem nächsten Bundestag ein tagesordnungsfüllendes Wahlkreisbeben droht. Die abgeschlossene Volkszählung wird wohl dazu führen, dass die 299 Wahlkreise im Bundesgebiet neu eingeteilt werden müssen. Wollte man im Rahmen dieser Umstrukturierung von 299 auf 275 Wahlkreise zurückgehen und entsprechend die Ausgangsgröße von 598 auf 550 Mandate herabsetzen, so würde der Bundestag bei einer moderaten Vorabkalkulation etwa 600 Sitze umfassen. Diese Grenze war die Vorgabe für eine 1995 eingesetzte Reformkommission. Die damaligen Anstrengungen und die jetzige Gesetzesnovellierung würden dann wieder unter einen Hut passen.

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