Die unkalkulierten Nebenwirkungen der "inneren Schulreform"

Festrede zum 25-jährigen Bestehen eines Gymnasiums in der Provinz

Versetzen wir uns zurück in das Jahr 1975. Helmut Schmidt ist Bundeskanzler. Der Linksterrorismus steht, nach den Attentaten von München und Stockholm, kurz vor seinem Höhepunkt. Die Anti-Atomkraft-, die Ökologie- und die Friedensbewegung, die in den achtziger Jahren eine ganze Generation von Schülern politisieren werden, sind noch nicht voll entfaltet, die Nachwehen der Studentenbewegung noch nicht ganz abgeklungen. In den Charts finden sich Titel wie SOS von ABBA, Lady Bump von Penny McLean oder Griechischer Wein von Udo Jürgens. Die Mode ähnelt durchaus einigem, was man heute wieder kaufen kann, etwa Schlaghosen, Häkelpullis und muschelbestickte Umhängebeutel.


Deutschland ist ein geteiltes Land. Und kaum jemand glaubt, dass sich das je ändern könnte. Von Begriffen wie "Globalisierung" oder "Internet" hat kein Mensch gehört. Aids ist noch nicht einmal ein drohender Schatten am Horizont. Dass 25 Jahre später das menschliche Genom entschlüsselt sein wird, scheint unglaublich, ein Stoff für Zukunftsromane.

Die Bildungsreform der sechziger Jahre, mit der die Große Koalition der "Bildungskatastrophe" wehren wollte, trug 1975 schon erste Früchte. Durch zahlreiche Schul- und Universitätsneugründungen war es gelungen, den Anteil der Schulabgänger mit Hochschulreife von sechs Prozent eines Jahrgangs im Jahr 1960 auf rund zwanzig Prozent zu steigen. Heute liegt dieser Anteil bei 36 Prozent; mehr als die Hälfte der Absolventen sind Mädchen. Den quantitativen Ausbau des Schulsystems kann man also als uneingeschränkten Erfolg betrachten.


Es ist vielleicht interessant, sich noch einmal den Tenor der Sechziger-Jahre-Debatte zu vergegenwärtigen, weil er in manchem an die heutige Diskussion erinnert. Zwar ging es vielen, vornehmlich den linken Bildungspolitikern dieser Zeit, um den emanzipatorischen Charakter der Bildung. Die Landarbeitertochter, die nun endlich studieren durfte, wurde zum beliebten, vielzitierten Bild für die Einlösung dieses Anspruchs. Doch ebensoviel, wenn nicht mehr Gewicht hatten die Argumente derjenigen, die eine Erhöhung der Bildungsbeteiligung vor allem aus ökonomischen Gründen forderten - damit Deutschland im internationalen wirtschaftlichen Vergleich nicht durch Fachkräftemangel ins Hintertreffen gerate.

Die aktuelle bildungspolitische Debatte - von der Ruck-Rede des ehemaligen Bundespräsidenten Herzog bis zu den unzähligen Symposien der Parteien und Stiftungen - ist auf eigentümliche Weise ebenso ökonomistisch, arbeitsmarktorientiert und auf Verwertbarkeit fixiert wie jene frühen Diskussionen: Fast scheint es einem heute, als habe es 68 mit der notwendig folgenden freien Entfaltung der Persönlichkeit gar nicht gegeben.

Nun spricht überhaupt nichts dagegen, dass sich die Schulen und alle sie umgebenden Institutionen Gedanken um die berufliche Zukunft ihrer Schüler machen; wahrscheinlich hat man das in den Jahren der "Schule-muss-Spaß-bringen"-Bewegung viel zu wenig getan.


Trotzdem ist es etwas sonderbar, wie selten heute mit Blick auf die Schüler noch von "Persönlichkeit" die Rede ist. Und trotzdem geht es mir selbst so, dass ich dem neuen modischen Gerede von "Flexibilität", "lebenslangem Lernen" und "Teamfähigkeit", dem technokratischen Glauben an die heilsbringenden Kräfte des Internet und den Bemühungen um "Qualitätssicherung" (ein Begriff übrigens aus der industriellen Fertigung von Autos) zutiefst misstraue. Warum? Weil ich glaube, dass diese Art von Rhetorik eine tiefer liegende Krise des Bildungswesens maskiert. Eine Krise, die man heute schon in den USA und in Großbritannien besichtigen kann, wo die staatlichen Schulen zunehmend Analphabeten produzieren, während jeder, der es sich leisten kann, seine Kinder auf Privatschulen schickt. Eine Krise, über die nicht gesprochen werden soll, weil sich sonst dreißig Jahre Bildungspolitik als teilweise irregeleitet erweisen könnten. Eine Krise, der weder mit einem Zentralabitur noch mit Leistungsvergleichsstudien noch mit Outward-Bound-Kursen für Lehrer beizukommen ist.

Ich will versuchen, einige Elemente dieser Krise, die krisenhafte Bildungspolitik zu beschreiben, ohne dabei auch nur ansatzweise Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben.


Dem zunächst notwendigen, später grenzwertigen quantitativen Ausbau der höheren Bildungseinrichtungen folgte sehr schnell, befördert durch die 68er-Bewegung, ein Kampf um die "innere Schulreform": um die Frage, wie man überhaupt einen fachlichen Kanon rechtfertigen könne; um die Notwendigkeit von Zeugnisnoten; um die Verwirklichung nicht-autoritärer Erziehungsmethoden. Es setzte eine Phase des permanenten Infragestellens ein: So wie die Schule war, durfte sie auf keinen Fall sein - nie mehr. Wie sie statt dessen aussehen sollte, war aber auch 1970 oder 1975 nicht ganz leicht zu sagen. Und so entstand die Figur der Dauerreform - nicht zuletzt befördert durch Pädagogen, die dem harten Alltagsgeschäft dadurch entgehen konnten, dass sie sich auf Bürokratie-Posten retteten. Was natürlich zur Folge hatte, dass sie gezwungen waren, Reformpapiere in großer Zahl zu produzieren, um ihre Existenz zu rechtfertigen.

Man darf nicht ungerecht sein: Der reformerische Eifer dieser Jahre war von idealistischen Vorstellungen getragen. Man wollte die unbestreitbare Ungerechtigkeit der Welt mit Schulpolitik heilen. Diese Hoffnung ist grausam enttäuscht worden. Auch die Gesamtschule als höchster Ausdruck dieser Hoffnung hat die soziale Spaltung der Gesellschaft nicht aufheben können. Die Gesamtschule war ein Symbol des Machbarkeitsglaubens, sie war der Traum vom social engeneering, mit dem man sowohl angeborene wie sozial bedingte Begabungsnachteile auszugleichen hoffte. Aber Schule ist nur ein sehr begrenzt taugliches Mittel der Sozialpolitik; und wenn sie sich zu sehr in sozialen Aufgaben verzettelt, ohne mit den entsprechenden Ressourcen ausgestattet zu sein, dann enthält sie allen, die eigentlich ein Recht auf Bildung, auch auf Charakterbildung, und auf die Vermittlung von Wissen haben, etwas vor.

Der Zustand der Dauerreform, die permanente Bildungsbaustelle spiegelte sich inhaltlich in der Vorstellung wieder, es gehe vor allem anderen darum, Schülern "Kritikfähigkeit" zu vermitteln. Nun ist echte Kritikfähigkeit eine hohe, aber auch schwer zu erlernende Kunst: Setzt sie doch genaue Kenntnis dessen voraus, was es zu kritisieren gilt, und darüber hinaus noch Erfahrung im Fällen von Urteilen, Meinungsfreudigkeit und Argumentationslust.

Die Notwendigkeit, die Quellen genau zu kennen, bevor man mit dem Studium der Sekundärliteratur und schließlich mit der Formulierung einer eigenen Position beginnt, haben die Bildungsreformer vom Kindergarten bis zur Hochschule gründlich relativiert. Indem sie die "Paukschule" denunzierten, leiteten sie eine kaum noch aufzuhaltende Erosion des Basiswissens ein, das überhaupt erst ein freies Urteil ermöglicht.

Der Hamburger Anglistikprofessor Dietrich Schwanitz beschreibt am Beispiel des Faches Geschichte - ein wenig zugespitzt, aber im Kern korrekt - den vorläufigen Tiefpunkt dieser Entwicklung: "Die große Erzählung unserer Geschichte ist das Gerüst, in das wir alle anderen Kenntnisse einfügen: Unser Bildungswissen ist historisch geordnet, nicht systematisch. Und diese Schematisierung der Geschichte erfolgt über die Chronologie. Man muss deshalb einen Überblick über das Zeitgerüst haben. Dabei muss man den Schwachsinn vergessen, mit dem die Bildungsreformer die chronologische Ordnung als Leitfaden des Geschichtsunterrichts zerschnitten und durch solche Trümmer wie Unterrichtseinheiten über die "mittelalterliche Burg" oder den "Reisanbau in Vietnam" ersetzt haben. Indem man gegen die Paukerei von Geschichtszahlen polemisierte, gab man zu erkennen, dass man den Verstand verloren hatte: Jahreszahlen sind nicht einfach Zahlen, sondern Vergleichspunkte für weit Auseinanderliegendes, Markierungen für die Gliederungen von Abschnitten, Bojen auf der See der Ereignisse, erleuchtete Straßenschilder in der Nacht, die den Weg der Geschichte erst ordnen."

Wer die Straßenbeleuchtung mutwillig ausknipst, oder die Schilder willkürlich umstellt, produziert gerade nicht Kritikfähigkeit, sondern das Gegenteil: totale Meinungsfinsternis. Die wenigsten Menschen beziehen nämlich gern Stellung zu etwas, von dem sie das dumpfe Gefühl haben, es gar nicht richtig zu verstehen. So entsteht die von manchen Älteren dann wieder heftig als "unpolitisch" kritisierte Jugend: Man hat ihr erst systematisch die Urteilsgrundlage entzogen und klagt nun darüber, dass sie sich eines Urteils enthält, ja, dass sie es geradezu als Zumutung betrachtet, ein Urteil haben zu sollen.

Weder mit der sozialen Gerechtigkeit noch mit der allgemeinen Kritikfähigkeit sieht es also nach 25 Jahren Dauerreform besonders gut aus. Und die Liste von Dingen, mit denen es im Bildungswesen nicht zum Besten steht, ließe sich fortsetzten: Da hat man, im Namen der nicht-autoritären Erziehung, den Lehrern nahezu sämtliche Disziplinierungsmittel aus der Hand genommen, um sie nun - denn die Disziplinprobleme haben erstaunlicherweise nicht aufgehört zu existieren - in manipulativen Psychotechniken zu schulen, damit sie mit ihren Schülern zurande kommen. Da hat man den Grundschulunterricht entgrenzt, vom "starren 45-Minuten-Takt" befreit und Kuschelecken und Bilderbücher und Spielsachen im Unterricht erlaubt - und die Kinder können nicht einmal mehr zehn Minuten stillsitzen.

Mit anderen Worten: Schlechte Konzentrations-Voraussetzungen aus den Elternhäusern hat man nicht mit mehr Ruhe beantwortet, sondern mit mehr Unruhe. Mit dem Ergebnis scheint niemand so recht glücklich zu sein, aber wer stellt die Methode in Frage? Da hat man so viel für das "soziale Lernen" getan, oder jedenfalls gefordert, dass etwas dafür getan werde - und die Kinder haben mehr Kommunikationsprobleme als je zuvor. Vielleicht liegt das ja am stundenlangen Fernsehkonsum zu Hause; dann täte die Schule gut daran, dazu ein totales Kontrastprogramm zu bieten. Stattdessen soll sie nun die Kinder im Internet-Zappen unterweisen.

Was ich mit all dem sagen will, ist nur dies: Die "innere Schulreform" in diesem Land hat unerwünschte, unkalkulierte Nebenwirkungen gehabt. Der emanzipatorische Anspruch der Bildungsreform ist nur in Teilen eingelöst worden. Die soziale Spaltung der Gesellschaft ist nicht aufgehoben, weil die Schule sie nicht aufheben kann. Die desolaten Familienverhältnisse haben zugenommen: Auch daran kann die Schule wenig ändern, außer vielleicht Familienwerte zu vertreten und vorzuleben, die gegenwärtig weitgehend als reaktionär gelten. Die Schüler wissen heute nichts gründlicher als früher, weil sich kaum noch jemand zu sagen traut, was man überhaupt wissen muss. Meinungsfreudiger oder politischer als ihre Eltern sind junge Leute, die durch die entgrenzte Schule der letzten 25 Jahre gegangen sind, auf keinen Fall.

Und die Lehrer? Die Lehrer sind erschöpft - vermutlich weniger von den Schülern, die schließlich eine Art Berufsrisiko darstellen, als von der permanenten Umwertung aller bildungspolitischen Werte.

Über diese Dinge mögen unsere Achtundsechziger in den Institutionen des Bildungswesens nicht allzu gerne sprechen - müssten sie sich doch bei einiger empirischer Ehrlichkeit eingestehen, relativ lange relativ stramm in die falsche Richtung marschiert zu sein.
Statt dessen stürzen sie sich mit Begeisterung in die nächste Modernisierungswelle, auf die bereits erwähnte Flexibilisierung-Digitalisierung-Teamfähigkeit. Es liegt eine gewisse Ironie darin (wenn es kein Zynismus ist), dass sie damit genau jenem, heutzutage nennt man ihn "flexiblen", Kapitalismus in die Hände arbeiten, den sie einst bekämpfen wollten: einem Kapitalismus, der nicht gebildete, kritikfähige Charaktere braucht, sondern anpassungsfähige gedächtnislose Leute ohne eigene Meinung.

So gesehen ist die permanente "innere Schulreform" der größte Verrat an den Idealen von 68, den man sich vorstellen kann. Und ganz in der Tradition der berufrevolutionären Recken von einst möchte ich denn auch den Schluss dieses kleinen Geburtstagsstündchens für das Gymnasium E. mit einem Aufruf zum Widerstand verbinden: Die nächsten 25 Jahre Ihres Bestehens sollten Sie der reformerischen Totalverweigerung widmen! Bei jedem Versuch einer organisatorischen Umstrukturierung sollten Sie sich hungerstreikend an Ihre bis dahin hoffentlich installierten PCs ketten und überhaupt nur noch eine einzige Diskussion dulden: Was muss ein Mensch im 21. Jahrhundert lernen, um gebildet und klug, höflich und glücklich und dann gewiss auch kritikfähig zu werden?

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