Die universale Nation

Die ganze Welt liebt Baywatch - doch woher kommt dann der Hass auf Amerika? Warum die Amerikaner nicht verstehen, wie der Rest der Welt sie wahrnimmt

Die Anschläge des 11. September haben viele Beobachter zu der Bemerkung veranlasst, nun seien die Vereinigten Staaten mit Gewalt in die Angelegenheiten der restlichen Welt hineingezogen worden. Ein paar Opportunisten erklären zufrieden, jetzt wüssten die "Herrschenden" in Washington vielleicht endlich, wie sich das Leiden der - je nach individueller Vorliebe - Israelis, der Serben, der Nicaraguaner oder der Einwohner von Bagdad anfühle.

Derweil machten sich maßvoller und nüchterner denkende Kommentatoren darüber Gedanken, dass der Terrorismus in Großbritannien, in Indien, in der Türkei und anderswo seit langem zum alltäglichen Leben gehört. Und darüber, dass es schon deshalb sehr wahrscheinlich gewesen sei, dass Amerika früher oder später die Illusion seiner Unverwundbarkeit einbüßen werde - wenn auch vielleicht nicht so plötzlich und auf derart grauenvolle Weise.

Aber die Reaktionen auf die Anschläge haben auch daran erinnert, dass es nicht nur die Amerikaner selbst sind, die Amerika für etwas Besonderes halten. Selbst in Ländern, die selbst viel stärker unter Gewalt und Zerstörung gelitten haben als New York, begegneten die Einheimischen amerikanischen Bürgern auf einmal mit Mitgefühl. Die amerikanische Botschaft in Peking, während des Krieges gegen Serbien vor ein paar Jahren noch heftigen Angriffen eines aufgebrachten Mobs ausgesetzt, war jetzt der Schauplatz einer spontanen Trauernachtwache. Der Name "World Trade Center" war durchaus kein größenwahnsinniger Fehlgriff gewesen. Jenes brennende, in sich zusammenstürzende Gebäude stand eben nicht einfach nur auf einer Insel ganz am Rande von Nordamerika. Vielmehr befand es sich mitten in der Heimat der globalisierten Vorstellungen und Träume von Menschen überall auf der Welt. Es stand für Macht, für unbegrenzte Möglichkeiten - und für eine merkwürdige Art von Unschuld.

Doch während die Vereinigten Staaten jetzt die internationale Gemeinschaft in einen Feldzug gegen den islamistischen Terrorismus führen, hat die einzige globale Supermacht im Grunde noch immer keine rechte Klarheit über ihren Ort in der Welt gewonnen. Das festzustellen ist durchaus nicht dasselbe wie jenes gesinnungslose Begleichen alter Rechnungen mit Amerika, das wir - als abstoßendste aller Reaktionen - nach dem 11. September erlebt haben. Es ist auch keiner jener grotesken Versuche, die Motive der Terroristen buchstäblich verstehen zu wollen; dergleichen Spekulationen mögen zukünftige Schriftsteller in ihren Romanen anstellen. Das alles führt nur in die Irre. Sehr wohl aber bleibt festzuhalten, dass der neue Konflikt in einer Welt stattfindet, die tief geprägt ist durch neue Formen amerikanischer Macht - und neue Formen von Verdruss und Groll gegenüber eben dieser Macht. Je mehr eine aggressive amerikanische Außenpolitik diese Stimmungen im Kampf gegen den Terrorismus ignoriert, je mehr die Vereinigten Staaten statt dessen auf die alten Gewissheiten aus der Ära des Kalten Krieges setzen, desto unwahrscheinlicher ist es, dass sie langfristig erfolgreich sein werden.

Seit etlichen Jahren nun schon werden in allen Winkeln der Welt Stimmen laut, die von einem amerikanischen Imperium sprechen. Die große indische Zeitschrift Frontline überschrieb im Jahr 1999 eine Titelgeschichte über die amerikanische Außenpolitik mit der Schlagzeile "Die Wege des Imperialismus". Ein südafrikanischer Journalist beschreibt das Leben in "den äußeren Provinzen des Reiches". Ein arabischer Gelehrter untersucht - ganz sine ira et studio - die Integration Ägyptens in "das amerikanische Reich". Und die Franzosen beklagen sich bitter darüber, "von den Amerikanern globalisiert" zu werden. Dergleichen hört man keineswegs nur vom linken Rand des politischen Spektrums, es ist nicht bloß die verspätete Rhetorik des Kalten Krieges oder die Propaganda verbitterter Regime. Vielmehr sind diese Äußerungen Ausdruck der heute fast universellen Wahrnehmung, dass das amerikanische Gebot heute fast überall gilt - nicht als direkte Weltherrschaft, wohl aber als Anspruch darauf, die Spielregeln des globalen 21. Jahrhunderts zu bestimmen.

Anhaltspunkte dafür gibt es viele. Amerikanische Ökonomen überwachen die Politik armer Schuldnerstaaten. Die amerikanische Wirtschaftsordnung mit ihrer Ethik der kreativen Zerstörung dringt immer weiter vor - nach Europa, Ostasien und Indien. Amerikanische Juristen und Politologen schreiben für neue Regierungen in Afrika und Zentralasien die Verfassungen. Und Amerikaner vom Open Society Institute des Spekulanten George Soros wenden viel Geld auf, um in diesen Regionen zivile Gesellschaften auf die Beine zu bringen. Englisch ist zweithäufigste Sprache der Welt. Für 350 Millionen Menschen ist sie die Muttersprache. Aber mehr als eine Milliarde sprechen sie gut genug, um ein Geschäft abzuschließen oder über ein Basketballspiel zu diskutieren. "Amerikanisch" ist die andere globale Zweitsprache, ein Dialekt, zu dessen Vokabular Michael Jordan ebenso gehört wie Hiphop oder Baywatch, die beliebteste Fernsehserie der Welt. Jeder Immigrant, der heute auf einem amerikanischen Flughafen landet, hat ein vorgestelltes Leben zwischen New York und Los Angeles schon hinter sich.

Wir sind ein gutmütiges Volk - sagen die Amerikaner

Aber was bedeutet das alles eigentlich? Für viele Menschen überall auf der Welt ist die Diagnose klar. Doch Amerikaner reagieren auf die Vorhaltung, sie repräsentierten eine imperiale Macht, mit Erstaunen. Für sie ist das amerikanische Imperium unsichtbar. Ihnen ist schleierhaft, wie man ausgerechnet ihr Land für eine imperiale Macht halten kann. Sie sind fest von der Unschuld ihrer Nation überzeugt: Wir sind ein gutmütiges Volk, das nur mit denen in Streit gerät, die selbst Streit anfangen! Der Begriff des Imperiums steht aus amerikanischer Sicht für die Bosheit der Alten Welt. Er entspricht etwa dem, was Europäer im 19. Jahrhundert unter orientalischer Despotie verstanden.

Nach amerikanischer Vorstellung bedeutet "Imperium" Eroberung. Die Spa-nier seien in Amerika Eroberer gewesen, sagen wir - und bestehen darauf, dass wir selbst dessen nördliche Hälfte "besiedelt" haben. Die spanische Eroberung, ihr Gemetzel, ihre Sklaverei - das war Imperialismus. Ebenso die Aufteilung Afrikas unter den Europäern oder die britische Unterwerfung Indiens. Mit uns Amerikanern hätten diese blutigen Kapitel der Weltgeschichte nichts zu tun.

In gewisser Weise stimmt das sogar. Wer heute über Amerikas globale Sonderrolle nachdenkt, benutzt deshalb gern den Begriff der soft power. Er soll besagen, dass die amerikanische Macht nicht aus Kanonenrohren kommt. "Aber kann denn weiche Macht auch imperiale Macht sein?", fragen die Amerikaner dann ungläubig. Ja, lautet die Antwort, sie kann. Und sie ist es auch. Die amerikanische Idee, dass Imperien stets von der Macht des Schwertes leben, zeugt von historischer Ignoranz. Und sie ist heute weniger richtig denn je.

Nehmen wir das Römische Reich. Müsste ein alter Römer die heutige Lage inspizieren, würde er ohne weiteres imperiale Verhältnisse diagnostizieren. Denn das Römische Reich funktionierte ähnlich: Es herrschte nicht mittels Terror, sondern dadurch, dass es den Geltungsbereich des römischen Rechts ausdehnte. Und dadurch, dass es immer mehr Untertanen das römische Bürgerrecht zusprach. Den Rest leistete die Kultur: Römische Sitten und die lateinische Sprache setzten sich überall im Reich durch. Römische Bürger mögen ihre regionalen Sprachen behalten, ihre lokalen Loyalitäten gepflegt haben. Aber sie waren, qua Gesetz und Kultur, zugleich Angehörige eines universalen Reiches. Sie beteiligten sich am Handel, der das gesamte römische Herrschaftsgebiet verband. Die Autorität des Reiches begann mit dem Schwert, doch sie setzte sich fest im Bewusstsein, in der Sprache, selbst in der Seele.

Ohnehin griff Rom nur zum Schwert, wenn es wirklich nötig war. Wo immer möglich, bevorzugten römische Gouverneure die indirekte Herrschaft durch fügsame lokale Monarchen, durch Allianzen mit vormals unabhängigen Städten und sogar mit germanischen Stämmen, die ihre traditionelle Ordnung weitgehend bewahrten. Die Energie anderer für die eigenen Zwecke zu nutzen - das verspricht mehr Erfolg als der Versuch, sich gegen harten Widerstand durchzusetzen. "Es war eine langsame Art der Eroberung", schreibt Montesquieu in seiner Geschichte Roms. Neue Loyalitäten und die graduelle Verschiebung von Macht verwandelten Alliierte in beherrschte Völker, "ohne dass irgendwer hätte sagen können, wann diese Herrschaft begann". Jeder, der beobachtet, wie seine Regierung den IMF hofiert oder wie in seiner Stadt ein neues Cineplex eröffnet wird, versteht, was Montesquieu meinte. Soft power ist nichts Neues, sondern bloß ein neuer Begriff für Macht in ihrer wirksamsten Form.

Es ist kein Wunder, dass sich die Formen imperialer Herrschaft im Laufe von 2000 Jahren verändern. Heute, da Wohlstand aus der Macht über Märkte und Ideen hervorgeht, ist die Herrschaft über Territorien keine Bedingung historischer Größe mehr. In einer Welt der ungeduldigen Bürger und rastlosen Minderheiten ist sie oft sogar eine Belastung, wie die ethnischen Konflikte in Russland oder die Probleme Chinas mit seinen armen Regionen zeigen. Der kluge Herrscher der Gegenwart bevorzugt die römische Methode. Er baut ein Reich, in dem alle Märkte nach Rom führen, das seine Wege aber bei Bedarf sperren kann.

Microsoft und Baywatch: Die zwei Quellen amerikanischer Macht

Trotzdem kommt Amerikanern Kritik an ihrer imperialen Macht unverständlich oder komisch vor. Voll naiver Ratlosigkeit weisen sie darauf hin, dass sich schließlich die ganze Welt nach amerikanischem Wohlstand sehne, nach amerikanischem Entertainment und amerikanischer Mode. Das ist nicht einmal falsch. Doch schon die Römer wussten, dass die Macht über Begierden und Loyalitäten die wichtigste Art der Macht überhaupt ist. Nach genau diesem Muster übt Amerika heute zwei Arten von Macht aus, die mit Blut und Eroberung nichts zu tun haben.

Die erste davon könnte man "Microsoft-Macht" nennen. Microsoft ist überall - aber nicht, weil das Unternehmen den Computernutzern sein Betriebssystem aufzwingt. Vielmehr hat, wer Microsoft-Produkte kauft, sehr reale Vorteile. Wo alle einen Typ Küchenherd besitzen, fährt trotzdem nicht schlechter, wer ein anderes Modell kauft. Wer sich dagegen für ein anderes Betriebssystem entscheidet, kann keine Daten austauschen und keine Dokumente versenden. Microsoft ist das Vokabular, mit dem sich Menschen am globalen Strom der Kommunikation, der Information und des Handels beteiligen können. Sich für Microsoft zu entscheiden ist deshalb völlig rational, löst aber Abwehrreaktionen aus: Wer Microsoft wählt, weiß, es gibt andere Möglichkeiten, dieselben Dinge zu tun - doch er weiß auch, dass diese Möglichkeiten marginal sind. Und eben weil sie marginal sind, werden sie es bleiben. Ökonomen bezeichnen den Vorteil großer Informationssysteme als "Netzwerk-Effekt". Microsoft-Macht ist die Macht des großen Netzwerks, groß zu bleiben, weil es die Sprache erschafft, in der Menschen zueinander finden.

Microsoft ist die eine Sprache, Englisch ist die andere. Englisch ist weltweit verbreitet, weil es ist wie Microsoft: ein Mittel, mit dem Menschen über Entfernungen und Kulturen hinweg in Verbindung treten können. Dasselbe gilt für die Handelsbestimmungen der WTO - Regeln, die ferne Orte einander öffnen. Die Welt ist voller alternativloser Netzwerke, denen beizutreten die Menschen allen Anlass haben. Und diese Netzwerke sind amerikanisch. Ihre Herkunft ist amerikanisch, ihre Sprache ist es auch. Eine Ordnung wie diese kann Amerikanern völlig unsichtbar bleiben - dem Rest der Welt steht ihre Macht umso klarer vor Augen.

Microsoft-Macht steuert freie Entscheidungen so, dass sie dennoch wie Zwang erscheinen. "Baywatch-Macht" dagegen nimmt direkten Einfluss auf die Begierden. Amerikanische Unterhaltung ist allgegenwärtig, ihre Bilder sind die Währung der reichsten und mächtigsten Nation der Welt. Die amerikanische Kulturindustrie sammelt seit 100 Jahren Erfahrung darin, den kleinsten gemeinsamen Geschmacksnenner des Massenpublikums zu verstehen. Heute wissen Kinder in Delhi, welche amerikanischen Basketballspieler den Ball in welchem Bogen werfen, und die Kurven der Darstellerinnen von Baywatch kennen sie auch.

Baywatch-Macht erzeugt subtile Bitternis. Einerseits wird das Begehrte zum Teil der eigenen Identität; aus freiem Willen strebt man es heiß an. Andererseits ist das amerikanisierte Verlangen für die meisten Menschen auf der Welt ein fremdes Empfinden: So sind sie selbst - und so sind sie doch nicht. Macht dieser Art formt die Sehnsüchte und die Sprache. Sie prägt das Bild, das die Menschen von Schönheit haben, sie bestimmt deren Gedanken darüber, was gerecht ist und was nicht. Bald können sie sich dieser Macht nicht mehr entziehen, die Teil ihrer selbst geworden ist. Genau das macht selbst ihren hartnäckigsten Widerstand wirkungslos.

Die leuchtende Stadt auf dem Hügel

Das alles bleibt Amerikanern verschlossen, weil sie sich für die universale Nation schlechthin halten. Ohne es auszusprechen, glauben sie, alle Menschen würden gleichsam als Amerikaner geboren. Dass sie danach in verschiedenen Kulturen aufwüchsen, sei nur ein reparables Versehen. Die Geschichte dieser Idee ist alt. Die ersten englischen Siedler, Angehörige protestantischer Sekten, deuteten ihren neuen Kontinent als city upon a hill, als "Stadt auf einem Hügel", deren Licht die Welt inspirieren werde. Thomas Jefferson, der Urvater der amerikanischen Demokratie, schrieb, dass die Menschen in Amerika nun endlich die universellen Gesetze in ihren Herzen verspüren würden, was geschriebene Gesetze überflüssig machen werde. Amerika sollte die Heimat einer universellen Ordnung sein.

Daneben wurde Amerika zur Heimat des Rechts, frei drauf los zu reden, aus Gewissensgründen oder einfach nur so. Im 18. und 19. Jahrhundert herrschte tiefer Pessimismus hinsichtlich der Frage, was der Aufstieg der Massenkultur für den menschlichen Charakter bedeute. Skeptische Künder der neuen Gesellschaft wie Adam Smith oder Alexis de Tocqueville sagten voraus, dass die Gleichheit nur um den Preis von Mittelmaß und geistiger Trägheit zu haben sein werde. Darauf antworteten die Propheten des amerikanischen 19. Jahr-hunderts, dass das Ende von Aristokratie und Hierarchie die Menschen endlich dazu befreie, nach Anmut, Würde und Harmonie in der eigenen Seele zu suchen. Sie würden dort mehr davon finden, als das höfische Raffinement der alten Ordnung je geboten habe. Die Schriftsteller Ralph Waldo Emerson und Walt Whitman sahen in den Amerikanern die "erste Nation von Menschen", das erste Volk, dessen Leben sich in der Entfaltung von Individualität vollziehe.

Diese Idee importierte Amerika aus der europäischen Romantik, die den jungen Künstler voller Leidenschaft und Gefühl idealisierte. Doch in der Neuen Welt fand die Idee der Entfaltung der Persönlichkeit ihren Platz auf dem Markt. Der Held der amerikanischen Individualität war nicht der Künstler, sondern der Erfinder, der Pionier, besonders der Unternehmer. Für Amerikaner ist der Markt der Ort der Freiheit. Hier finden wir unsere Helden, ja selbst unsere Heiligen.

Erst die amerikanische Welt wird endlich menschlich

Deshalb kämen Amerikaner auch nie auf die Idee, die globale Ausbreitung ihrer Version der Marktwirtschaft könnte die völlige Umkrempelung anderer Kulturen und Lebensformen bedeuten. Dass sich überall durchsetzt, was höfliche Europäer "das angelsächsische Modell" nennen, erscheint ihnen einfach nur als Fortschritt des modernen Lebens. Wenn sie hören, Baywatch sei die beliebteste Fernsehserie im Iran, fällt ihnen nicht auf, dass eine islamische Kultur hier mit ganz fremden Vorstellungen von weiblicher Schönheit, von erotischem Reiz und gutem Leben konfrontiert wird. Natürlich übernimmt die ganze Welt unser Marktmodell! Natürlich liebt die ganze Welt Baywatch! Das entspreche doch selbstverständlichen Bedürfnissen, die aufgrund abwegiger europäischer Politik oder wegen der Macht des Schadors bisher nur noch nicht zum Ausdruck kommen durften. Indem sie sich Amerika angleiche, werde die Welt endlich menschlich.

Diese Haltung könnte man den provinziellen Universalismus der Amerikaner nennen. Er bezieht seine Bestätigung auch aus der Ökonomie. In ihrer aktuellen neoklassischen Variante erklärt die Wirtschaftswissenschaft die empirischen sozialen Tatsachen der amerikanischen Marktgesellschaft - Individualismus, Vertragsfreiheit, der Staat als Garant privater Zwecke - zu Axiomen einer universellen Lehre vom menschlichen Verhalten. In Amerika hat die Wirtschaftswissenschaft ihre Hegemonie ausgebaut und hält heute selbst bei politischen, juristischen oder privaten Diskussionen das angesehendste Vokabular bereit. Welche Vorzüge IMF und WTO auch immer haben mögen - auf jeden Fall spiegeln sie den globalen Aufstieg einer ökonomischen Einheitslogik wider. Die amerikanischen oder in Amerika ausgebildeten Experten, die diese Institutionen dominieren, sind sicher, dass sie einer rückständigen Welt zu wahrer Menschlichkeit verhelfen. Die Sorge, sie könnten die gesamte Menschheit nach dem Bilde einer einzigen Nation formen, teilen sie nicht.

Heute meint man zu wissen, dass von Imperien nichts Gutes zu erwarten ist. Das mag so sein oder nicht. Klar ist immerhin, dass es nicht richtig sein kann, die Existenz eines Imperiums zu leugnen, wenn dieses Imperium doch existiert. Bei näherer Betrachtung stellt sich heraus, dass sich als das eigentlich Verblüffende am amerikanischen Imperium - wenn dieser Begriff der zutreffende ist - dessen Großzügigkeit erweisen könnte. Andere Staaten haben die ökonomischen Ressourcen der ihnen untergebenen Volkswirtschaften ausgebeutet. Die Vereinigten Staaten hingegen haben es akzeptiert, dass ihre Partner durch wechselseitigen Handel reicher werden - wie der Fall des Erwerbs des New Yorker Rockefeller Center durch japanische Käufer demonstriert hat, mit manchmal geradezu deprimierender Wirkung auf die amerikanische Psyche. Obendrein hat sich die Regierung der Vereinigten Staaten an dieselben Richtlinien der Welthandelsorganisation gebunden wie andere Staaten der Welt. Über die Weisheit des Neoliberalismus mag man streiten. Man mag auch auf Widersprüche hinweisen wie die riesigen und dauerhaften amerikanischen Agrarsubventionen. Aber der Gesamteindruck ist doch, dass die Vereinigten Staaten versuchen, als fairer Partner zu agieren.

Das einzige Bild einer friedlichen Zukunft, das wir haben

Dasselbe gilt für die Sphäre der Kultur. Die Spanier erzwangen den Übertritt ihrer Untertanen zum Katholizismus mit dem Schwert, Macauley beschwor "braunhäutige Engländer": Alle modernen Imperien haben den von ihnen beherrschten Gesellschaften ihren Stempel aufgedrückt. Nur die Amerikaner nicht. Obgleich versteckt hinter einer Nebelwand von unsinniger Freiheitsrhetorik, gehören originäre Offenheit und echte Toleranz doch zu den großen Leistungen der amerikanischen Zivilisation. Zumindest unserem Bekenntnis nach begrüßen wir Vielfalt der Kulturen und sind nicht darauf aus, die Welt nach unserem Muster umzukrempeln. Darin liegt freilich eine unglückliche Ironie. Denn indem wir ganz selbstverständlich unterstellen, dass Amerikaner zu sein so etwas wie der natürliche Wesenszweck aller menschlichen Existenz ist, fällt es uns schwer zu begreifen, dass es Menschen gibt, die heftig an völlig anderen nationalen Zugehörigkeiten, Sprachen oder sozialen Ordnungsvorstellungen festhalten.

Amerika bietet ein - nein, Amerika ist ein mögliches Bild von der Zukunft der Welt. Diese Welt ist eine tolerante lebenswerte Welt, in der keine Bindungen oder Traditionen die Einzelnen allzu sehr einschränken, in der es nur wenige Überzeugungen gibt, die irgendwen zur Anwendung von Gewalt veranlassen würden. Paradoxerweise dient die militärische Mobilmachung, die wir derzeit erleben, gerade dem Zweck, diese Version der Zukunft zu verteidigen - eine Welt mit größerem Wohlergehen und weniger Anlässen, in den Krieg zu ziehen. Irgendeine Variante von Zukunft nach diesem Muster dürfte die gerechteste und beste Zukunft sein, die die Moderne überhaupt zulässt. Aber das wäre zugleich eine Zukunft, die grundsätzlich anders ist als jene extrem fragmentierte, sich auf unübersichtliche Weise verändernde Welt, in der Milliarden von Menschen heute leben. Es könnte sein, dass ein seiner ganzen Veranlagung nach zur imperialen Machtentfaltung im Grunde ganz ungeeignetes Volk wie das amerikanische am besten dazu in der Lage sein wird, jene neue Welt zu errichten. Es könnte allerdings auch sein, dass genau dieses Volk - aus demselben Grund - dazu am wenigsten im Stande ist. Und doch ist Amerika, wie unbeholfen auch immer, der einzige Anwärter darauf, den Versuch zu unternehmen. Eine Welt aus dem Geiste Amerikas ist die einzige friedliche Zukunft, die wir haben.

Aus dem Amerikanischen von Tobias Dürr

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