Die Suche nach der rot-grünen "Note" ist eröffnet

Gerhard Schröder hat seine Memoiren vorgelegt, Hans-Joachim Schabedoth seine Erinnerungen an die Schröder-Jahre

Rot-Grün hat das Land verändert – aber wie? Die Debatte darüber, wie weit die sieben Jahre der Regierung Schröder das Land von seiner Bonner Nachkriegsgeschichte entfernt haben, steht noch am Anfang. Wer war dieser Kanzler, der das Land zwischen 1998 und 2005 geführt hat? Was für eine Politik wurde in dieser Zeitspanne betrieben? Womit hat sie gebrochen? Wohin hat sie geführt? In welchen Punkten sorgte sie für Kontinuität? Wo hat sie Neues aufgebaut?

Zwei erste Annäherungen an das, was erst aus der Distanz richtig zu bewerten sein wird, sind im vorigen Jahr erschienen: Das Buch Entscheidungen von Altkanzler Gerhard Schröder sowie Unsere Jahre mit Gerhard Schröder von Hans-Joachim Schabedoth, Leiter der Grundsatzabteilung beim DGB-Bundesvorstand.

Gerhard Schröder hat sich also nur wenig Zeit gelassen, um seine Jahre als Kanzler zu beschreiben und zu kommentieren. Damit bleibt er ganz der Alte: Er überlässt das Feld der Deutung nicht einfach anderen. Herausgekommen ist jedoch ein Buch, das seinem Politikstil eigentlich widerspricht, ein ruhiges, besonnenes und politisch korrektes Werk. Schröder beschreibt seine Beweggründe bei wichtigen Entscheidungen im Dreiklang von Verantwortung, Pflicht und Versöhnlichkeit. Ihm geht es um die Anerkennung seiner Lebensleistung. Zwar erfährt der interessierte Zeitgenosse kaum wirklich Neues. Doch die Widersprüche der rot-grünen Jahre werden auch hier wieder greifbar. Denn Schröders Regierungsarbeit war alles andere als ruhig und versöhnlich. Kaum je ist seine Regierung in wirklich ruhiges Fahrwasser gekommen.

Nie in der bundesdeutschen Geschichte waren in so kurzer Zeit so viele abrupte, unerwartete Politikwechsel zu verzeichnen wie unter Gerhard Schröder. Zu Beginn seiner Amtszeit 1998 pflegte er noch den alten deutschen Sozialstaat und machte die Kürzungen im Sozialbereich der Regierung Kohl aus dem Jahr 1996 wieder rückgängig. Später setzte sich Schröder an die Spitze einer sozialstaatlichen Umbaupolitik, die zunächst kaum jemand für möglich gehalten hatte. Mit dem Bündnis für Arbeit signalisierte Schröder den Tarifparteien, sie könnten den Umbau des Sozialstaates mitgestalten – um dann in der Agenda-Rede vom 14. März 2003 einen Reformplan vorzulegen, der mit niemandem abgestimmt war.

Drastische Kurswechsel in der Außenpolitik

Ebenso drastisch waren die Kurswechsel in der Außenpolitik: Mit den Kosovo- und Afghanistan-Einsätzen der Bundeswehr hat die Bundesregierung die Vereinigten Staaten so aktiv unterstützt wie nie zuvor in der deutschen Geschichte. Beim Irak-Krieg stellte sie sich dann aber gegen die USA – und dies ebenfalls so entschieden wie nie zuvor. Der größte Überraschungscoup gelang Schröder am 22. Mai 2005 mit der Ankündigung von Neuwahlen. Die anschließende knappe Niederlage, von ihm ignoriert und als Sieg interpretiert, führte ihn ein letztes Mal in die schopenhauersche Welt des Willens und der Vorstellung.

Nicht nur die unerwarteten Politikwechsel lassen erahnen, wie hart diese Zeit des Regierens gewesen sein muss. Auch die Liste der Personen, die gehen mussten, geopfert wurden, flüchteten oder einfach resignierten, deutet darauf hin. Den Anfang machte Oskar Lafontaine, es folgten Hombach, Schreiner, Andrea Fischer, Funke, Klimmt, Jagoda, Däubler-Gmelin, Scharping, Gerster, Schröder selbst (als Parteivorsitzender 2004), Scholz und schließlich Müntefering.

Welche wichtigen rot-grünen Themen weisen über diese Zeit hinaus? Die am 1. August 2003 formulierte Absage an den Irak-Krieg mag dazu gehören, vielleicht ist diese Einschätzung aber viel zu oberflächlich. Denn was dieses Vorgehen wirklich für die deutsch-amerikanischen Beziehungen bedeutet, welche langfristigen Konsequenzen es für die europäische Konstellation hat, lässt sich gegenwärtig kaum seriös beantworten.

Wie schwer sich dieser Kanzler mit perspektivischen Fragen immer getan hat, kann man an seinem Verhältnis zu Europa ablesen, das er als eine gegebene, bestenfalls im deutschen Interesse einzuschränkende Macht betrachtete. Dass für die europäische Frage ein historischer und zugleich zukunftsorientierter Horizont notwendig ist, dämmerte ihm erst im Laufe der Zeit: „Für mich schien Europa anfangs etwas fast Selbstverständliches zu sein, für das ich keine Visionen brauchte“, schreibt er.

Die Zukunft des Sozialstaates hingegen trieb Schröder von der ersten bis zur letzten Amtshandlung um. Jedoch entwickelte er für sie jenseits von Kostendämpfung im Rahmen von undifferenzierter Globalisierungs- und Demografierhetorik kaum ein Gespür, geschweige denn passende Begrifflichkeiten. Was tatsächlich die Basis einer modernen Sozialstaatlichkeit sein könnte, beispielsweise eine kinderorientierte Familienpolitik, verspottete er lange Zeit als „Gedöns“. Die Lehrer als mögliche Träger einer modernen Integrationspolitik hatte er früher gern als „faule Säcke“ bezeichnet. Beide Positionen revidierte er zwar. Doch mehr als Standortrhetorik fiel Gerhard Schröder zum notwendigen Wandel des Sozialstaats meist nicht ein.

Ein dezisionistischer Anti-Korporatist

Gestartet war Schröder als Moderator für eine neue Reformpolitik. Zwar initiierte er das „Bündnis für Arbeit“, aber korporatistische Kompetenzen entwickelte er nicht. Im Grunde seines Herzens war Schröder ein dezisionistischer Anti-Korporatist, der in der Entscheidung seine Aufgabe sah. So besiegelte der 1. August 2002 das, was Schröder selbst als die „relative Unabhängigkeit von den USA“ bezeichnete. Der Agendatag am 14. März 2003 und der Neuwahlcoup vom 22. Mai 2005 sind weitere entscheidende Daten, die Schröders Politikstil umreißen. Mutig bis wagemütig, kampfesfähig und in diesen Anliegen jeweils standfest bis zur Unbeweglichkeit war Schröder ohne Frage. Dass er dabei immer die längerfristigen Konsequenzen gesehen hat, kann sicherlich bezweifelt werden.

Wie ein roter Faden zieht sich Schröders spannungsreiches Verhältnis zur eigenen Partei durch das Buch. Die SPD schätzte ihn als Wahlkämpfer und verschmähte ihn als dezisionistischen Kanzler. Schröder sucht die Ursache dafür, dass es ihm nicht gelang, „die Agenda 2010 als ein zukunftsträchtiges Reformprojekt zur Sicherung der Substanz des Sozialstaates darzustellen“ bei seinen „lautstarken“ innerparteilichen Kritikern, vor allem bei jenen Funktionären, „die Festigkeit in der Politik mit Starrheit im Denken verwechseln“. Damit meint er besonders die Gewerkschaften, die sich von seinen treuesten Wahlhelfern zu den größten Kritikern entwickelten. In ihnen sieht er daher eine wesentliche Ursache für das Scheitern von Rot-Grün. Schröders Verhältnis zu den Arbeitnehmervertretern ist wohl einer der spannendsten Aspekte seiner Regierungszeit. Auch wenn Schröder übertreibt, wo er den Gewerkschaften eine Vetoposition zuspricht – vielleicht markieren sie tatsächlich die Grenzen seines Regierungsstils.

Hans-Joachim Schabedoth fasst die Spannungen zwischen der Regierung Schröder und den Gewerkschaften in der Metapher der Bergwanderung. Unsere Jahre mit Gerhard Schröder ist das Tagebuch einer konfliktreichen Beziehung, die sich zwischen Auf- und Abbruch bewegt. Während der Autor Gerhard Schröder das Geschehen in einen ruhigen Fluss einbettet und historisch und moralisch überhöht, gelingt es Schabedoth, das Abrupte, Schnelllebige, Facettenreiche und Widersprüchliche dieser Zeit einzufangen. Den Beginn des tief greifenden Entfremdungsprozesses zwischen Kanzler, SPD und Gewerkschaft sieht er in der Agenda 2010: „Getreu dem Motto ‚If you can’t beat them, join them‘ übernimmt der Kanzler Implantate aus dem Glaubensvorrat des Neoliberalismus, wie sie bislang in der SPD für nicht mehrheitsfähig galten. Hier liegt der Kern fortschreitender Entfremdungsprozesse zwischen Kanzler, SPD-Fraktion, SPD-Mitgliedschaft und den Wählern vom 22. September 2002.“ Aus dieser Perspektive vertreten die Gewerkschaften nicht nur ihre eigenen Positionen und Interessen, sondern stellvertretend auch die der SPD-Mitglieder und Wähler.

Die WASG sorgt für neue Konflikte

Seit der Gründung der WASG im März 2004 wurden die Konflikte für Regierung und Gewerkschaften unübersichtlicher – ein Ereignis, das sich sicher längerfristig auswirken wird. Weitere Etappen des Konflikts waren die Hartz-Proteste und die Serie verlorener Landtagswahlen. Schabedoths tour d’horizon durch die Schröder-Jahre hört nicht bei den Entscheidungen der Bundesregierung und des Bundesrates auf. Ihm gelingt eine gut lesbare, mehrdimensionale Zusammenschau der Schröder-Jahre, eine Chronologie des Wechselverhältnisses zwischen Regierung, Bundesrat, Parteien, Wirtschaft, Verbänden und Gewerkschaften.

Die hier besprochenen Bücher sind erste Steinbrüche für die historische Bewertung der rot-grünen Regierung. Sie sind ein guter Ausgangspunkt, um Fragen und Zusammenhänge zu präzisieren und die Tiefen, Wirkungen und Widersprüche dieser Zeit künftig besser zu durchdringen. Ob Rot-Grün nur eine kurze Übergangsperiode war oder doch mehr, darüber ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Kanzler Schröder war, wie es Erhard Eppler ausdrückte, ein „political animal“. Er konnte mutig kämpfen, jedoch war er weniger stark in den Disziplinen Moderieren, Überzeugen und Vermitteln. Auch konzeptionelle Entwürfe zählten nicht zu seinen Stärken. Die Arbeit am neuen Grundsatzprogramm der SPD, die in der rot-grünen Zeit begonnen hat und jetzt zum Abschluss kommt, sollte sich daher immer im Lichte einer Erkenntnis vollziehen: Politik braucht kommunikative Orientierung. Das zumindest kann man aus der Ära Schröder lernen.

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