Die saufen wir uns schön

Wie Sternburg-Bier angehenden Sozialarbeitern einer Berliner Fachhochschule hilft, die Krise der deutschen Sozialdemokratie zu ertragen

Was gehört zu einem gelungenen Semesterstart? Eine Kennenlernfahrt? Eine AStA-Fete? Und wie bekommt man dabei eine Juso-Hochschulgruppe zusammen? Die angehenden Sozialarbeiter einer Berliner Fachhochschule haben klare Ziele: Hier wird getrunken, ohne Schnörkel. Alles andere ist Luxus und orientiert sich auch nicht an der Lebenswelt der potenziellen späteren Klienten. Um die Gefahren des Flatratetrinkens realistisch einschätzen zu können, muss man das Problem selbst kennen lernen. Das Motto des Abends also: Feldstudie! Die Wahl fiel auf Kreuzberg, Wrangelkiez. Ein „Pub Crawl“ (früher sagte man: Zug durch die Gemeinde) ist geplant. „Teamer“ haben das Ganze vorbereitet und möchten zwei Kneipen und eine Diskothek besuchen.

Wenn man bis 19:30 Uhr an der Hochschule im Seminar sein muss, nichts gegessen hat und pünktlich zur Kneipentour möchte, muss man eindeutig Prioritäten setzen. Das Seminar früher verlassen; Essen auf morgen verschieben; unterwegs vorglühen. Vor dem ersten Supermarkt treffen wir Studenten, die ähnlich denken. Was soll man auf dem Weg trinken? Bier, selbstverständlich das billigste, also Sternburg, das im Supermarkt schon ab 35 Cent zu haben ist. Dann schnell zur S-Bahn und 20 Minuten später das nächste Getränk. Am Schlesischen Tor angekommen sind wir bereits 20 Personen, aber die ganze Truppe driftet auseinander, wahrscheinlich, weil zwischen dem U-Bahnhof und der ersten offiziellen Kneipe viele kleinere Spätkäufe liegen, in denen noch andere Studierende zum gemütlichen Vortrinken zusammengekommen sind.

Als wir die erste Kneipe erreichen, das Kvartira No.62 in der Lübbener Straße, ist sie noch leer. Nicht einmal die Teamer aus der Hochschule sind da. Am Tresen steht ein junger Mann mit vermutlich russischem Migrationshintergrund. Eine Zapfanlage ist nicht vorhanden. Hinter dem Tresen befindet sich ein großer Topf. Darüber ein Schild mit Pfeil: „Teller Essen – 2,50 Euro“. Das Lokal ist so klein, dass hier noch geraucht werden darf. Wir entscheiden uns, draußen auf den Bänken vor der Tür Platz zu nehmen und auf die anderen zu warten.

Bizarr: Kartenspiele ohne Alkohol

Diese trudeln im Fünfminutentakt ein und wollen auch erst einmal draußen bleiben, da sie noch verschiedene Getränke vernichten müssen. Nur die Kommilitoninnen aus dem ersten Semester, die keinen Alkohol trinken, betreten die Kneipe, bestellen einen Saft und suchen sich ein lauschiges Plätzchen zum Kartenspielen. Kurz vor zehn sind wir ungefähr 200 Studenten, alle fröhlich, und belagern den Bürgersteig vor der Kneipe: Manche trinken noch immer ihr eigenes Bier, andere holen sich aus der Kneipe Getränke. Man lernt sich kennen.

Um zehn Uhr erscheint dann die erste Teamerin und erklärt, dass die anderen Teamer nicht mehr kommen werden. Warum, weiß sie auch nicht. Da die zweite Kneipe, in der wir eigentlich schon längst sein sollten, mittlerweile von australischen Touristen bevölkert ist und in unserer Kneipe gerade außerplanmäßig ein Akkordeon-Duo eine Karikatur russischer Musik zu spielen beginnt, erklärt unsere einzige Führerin, dass sie für den weiteren Verlauf des Abends keine Verantwortung mehr übernehmen möchte und als Ansprechpartnerin nicht mehr zur Verfügung steht. Das mit der Verantwortung muss scheinbar noch gelernt werden. Jetzt ist Improvisation gefragt. Es geht um „Kneipe finden“ und „Gruppe zusammenhalten“. Eigentlich klassische Aufgaben von Sozialpädagogen.

Die angehenden Juso-Hochschulgrüppler stehen zusammen, halten Bierflaschen in den Händen und diskutieren über die aktuelle Krise der SPD. Eine neue Genossin kommt mit einem Bundestagsabgeordneten ins Gespräch, der ebenfalls an dem Pub Crawl teilnimmt, und erzählt von sich. Anna hat auch mit anderen politischen Gruppen sympathisiert, „aber dieses Festgelegtsein ist schrecklich“. Dass sie sich jetzt als Juso engagiere, liege allein daran, dass es noch keine andere politische Gruppe an der Hochschule gibt. Der Abgeordnete berichtigt: Selbst wenn es andere hochschulpolitische Gruppen geben würde, könne man sich doch in jedem Fall die aussuchen, die am wenigsten unsympathisch sei. Anna stimmt zu, blickt auf einen anderen Hochschulgrüppler und stellt fest, dass ihre Wahl doch schon irgendwie richtig war. „Auch wenn ich nicht jede Idee der Jusos unterstützen würde.“ Der StuPa-Präside nickt und Anna resümiert: „Aber innerhalb einer Hochschule braucht man das ja auch nicht. Man hat eigene Themen.“

Irre: Der Abgeordnete geht schlafen

Gegen halb zwölf versuchen die zwei Hundertschaften, sich auf den Weg in eine Diskothek zu machen, zu Fuß. Der Abgeordnete geht schlafen. Da zwischen dem Wrangel-Kiez und dem RAW-Tempel (auch bekannt als H4 World – Hartz IV Arena Berlin) viele Spätkäufe liegen, verliert sich die Gruppe. Erst nach einer Stunde haben die meisten die neue Location gefunden und drehen jetzt so richtig auf. Es wird getanzt, gehüpft, gesungen und sogar musiziert – ein paar Kreative haben Geige und Gitarre dabei.

Mit ein paar Juso-Neumitgliedern und einem anderen Abgeordneten, der erst in der Diskothek zu uns gestoßen ist, verabschieden wir uns irgendwann und erklären, dass wir jetzt noch auf ein Dach gehen möchten. Das ist den meisten zu hoch oder sie können nicht mehr richtig zuhören oder verstehen nichts, aber der Abschluss soll ja auch ganz exklusiv sein.

Franziska hat vorrecherchiert. Durch einen nicht verschlossenen Hauseingang eines verlassenen Berliner Mietshauses steigen wir mit zwei Sixpacks beladen durch die Dachluke und finden uns zu acht zwischen alten Kaminen mit Blick auf den südlichen Friedrichshain ein. Die Themen werden weiter und weiter gedehnt: Sozialarbeit und Sozialdemokratie und was man noch so alles politisch erreichen möchte. „Auf jeden Fall die Revolution“, sagt Franziska. Markus will eigentlich Kunst studieren und macht jetzt erstmal Sozialpädagogik. Er ist verärgert über die vielen Neonazis. „Aber eigentlich kannst du nichts machen“, resigniert er, „höchstens immer wieder Anzeige gegen Unbekannt“.

Ein ehemaliger Sozialarbeiter erzählt seinen Lebensweg. Ihn interessiere momentan mehr, wie Leute in die Situationen kommen, die Sozialarbeit bräuchten, und wie man das ändern könne. „Was lernt ihr denn im Studium und wie engagiert ihr euch?“ Tobias kann sich vorstellen, mal in einem Jugendzentrum zu arbeiten: „Man muss an die jungen Leute ran, möglichst von Klein an.“ Aber: „Irgendwie gibt es viel zu wenig Mittel.“ Wir fragen: „Braucht es denn für jedes Kind einen Sozialarbeiter?“ – Erst einmal Schweigen. Franziska hat schon einen praktischen Vorschlag, den sie in der Juso-HSG umsetzen möchte: Aufkleber für die Mülltonnen, auf denen steht, dass man die Pfandflaschen neben die Mülltonne stellt. „So können die Armen sich das Pfand zurückholen.“ Für eine Revolutionärin ist das sehr praktisch gedacht.

Es ist Herbst und schon ein wenig kühl in der Nacht. Und so trinken wir noch ein paar Whiskys an der Privatbar. „Wir wollen auf alle Fälle aktiv bleiben“, sagt Franziska, „und wenn die anderen nichts machen, dann machen wir das eben bei den Jusos.“ Auch Engagement und Revolution wollen gelernt sein.

KVARTIRA NO. 2 – Kneipe – Lübbener Str. 18, 10997 Berlin-Kreuzberg
RAW-TEMPEL, soziokulterelles Veranstaltungszentrum – Revaler Str. 99, 10245 Berlin-Friedrichshaine

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