Die Perspektiven des Gordon Brown

Im Juli wird die zehnjährige Ära Blair zu Ende gehen. Was haben Großbritannien und Europa von seinem Nachfolger zu erwarten? Welche neue Idee für New Labour bringt Brown mit? Und kann der dröge Schotte seiner Partei einen weiteren Sieg sichern?

Das Erbe könnte üppiger sein: Wenn Gordon Brown im Juli das Amt des britischen Premierministers übernimmt, steht er vor einer schwierigen Situation. Die Labour Party liegt in den Umfragen deutlich hinter den Tories und erreicht inzwischen so niedrige Zustimmungswerte wie in den frühen achtziger Jahren. Weil der Überdruss der Briten an Tony Blair tief sitzt, wird die gesamte Leistungsbilanz seiner Partei negativ wahrgenommen: In einer Umfrage stellten die Briten kürzlich der Regierung Blair auf zehn von elf Politikfeldern ein schlechtes Zeugnis aus; einzige Ausnahme war die von Schatzkanzler Gordon Brown verantwortete Wirtschaftspolitik. Ein Wahlforscher sagte kürzlich, nur im Mai 1997, kurz vor dem Erdrutschsieg der Labour Party, habe er im Land eine vergleichbare Stimmung der Ablehnung gegenüber politischen Führungsfiguren beobachtet.

Was kann Gordon Brown tun, um das Blatt zu wenden? Ihm stehen nur begrenzte Mittel und Wege zur Verfügung. Zu sehr hat der Schatzkanzler die Regierungszeit Labours aktiv mitgestaltet, als dass er seinen Amtsantritt als einen echten Neuanfang verkaufen könnte. Auch aus inhaltlicher Sicht würde es keinen Sinn ergeben, sich zu stark von der Ära Blair abzugrenzen. Denn Brown und seine Mitstreiter sind überzeugt davon, dass die Grundidee der Labourpolitik des vergangenen Jahrzehnts – ökonomische Effizienz kombiniert mit einem aktivierenden Sozialstaat – richtig und erfolgreich war. Dieser Lesart zufolge hat sich Blairs Third Way in den vergangenen zehn Jahren als das dominierende politische Paradigma in Großbritannien etabliert und die Konservativen unter Führung David Camerons zu einem „Linksruck“ gezwungen: Auch sie stellen heute die Bedeutung des öffentlichen Sektors sowie einer aktiven staatlichen Investitionspolitik in den Schlüsselbereichen Bildung, Gesundheit und Infrastruktur nicht mehr in Frage. Eine Distanzierung von diesem Konzept wäre für Brown also weder sinnvoll noch wünschenswert; die politische Aufgabe besteht jetzt vor allem darin, dem Grundkonzept neue politische Inhalte zu geben und Fehler bei der politischen Durchsetzung zu korrigieren.

Browns Vorteil: Er ist nicht Tony Blair

Vor allem wird Premierminister Brown neues Vertrauen der Menschen in die Politik erarbeiten müssen. Auf diesem Feld hat Tony Blair die größten Flurschäden hinterlassen. Brown kommt dabei zunächst einmal zugute, dass er nicht Tony Blair ist. Weder hat er den Irak-Krieg zu verantworten, noch hat er eine ähnlich exaltierte mediale Politik- und Selbstinszenierung betrieben wie Blair. Browns wichtigstes Pfund ist sein dröges Image als ernsthafter und erfolgreicher Sachpolitiker. Wenn er schon nicht für einen Neuanfang stehen kann, wird er zumindest auf eine substanzielle Änderung von Regierungsstil und -methoden setzen.

Schon bald nach seinem Amtsantritt wird Brown deutlich machen, dass er Parlament und Kabinett stärken will, zwei Institutionen, die unter Tony Blair an Einfluss verloren haben. Im Rahmen der anfänglichen Offensive ist auch mit Initiativen für die stärkere Dezentralisierung von Verwaltung und öffentlichen Einrichtungen zu rechnen – ein symbolischer Bruch mit Blairs Politik des kleinteiligen Mikromanagements der Staats- und Verwaltungsapparate aus der Londoner Zentrale heraus.

Brown scheint klar geworden zu sein, dass der traditionell zentralistische Regierungs- und Verwaltungsaufbau Großbritanniens nicht mehr den Realitäten und Erwartungen im Land entspricht. Institutionelle Reformen, die die Rolle und Verantwortung der Kommunen stärken, dürften daher fest vorgesehen sein. Einige Beobachter erwarten bald nach der Amtsübernahme eine Initiative, die den National Health Service einer unabhängigen Regulierungs- und Kontrollbehörde unterstellt und damit dem direkten Zugriff der Regierung entzieht.

Viele dieser Initiativen klingen zunächst überraschend, denn gerade Brown steht in dem Ruf, ein control freak zu sein, der Macht ungern teilt und einmal getroffene Entscheidungen mit großer Rücksichtslosigkeit auch gegen den Widerstand von Kabinettskollegen durchsetzt. Andererseits sollte man Browns Phantasie nicht unterschätzen: So hat er 1997 bei der Entlassung der Bank of England in die Unabhängigkeit gezeigt, dass er durchaus überraschende und weitreichende Entscheidungen fällen kann.

Bildungspolitik als Schwerpunkt

Die inhaltlichen Schwerpunkte der Regierung Brown sind noch nicht absehbar. Wahrscheinlich wird Brown die Zeit bis 2009 nutzen, um die im Wahlprogramm der Labour Party angekündigten Gesetzesinitiativen zu verwirklichen. In der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik sind ohnehin keine substanziellen Veränderungen zu erwarten, schließlich hat Brown diese Politikfelder auch bisher schon bestimmt. Einen Schwerpunkt wird der künftige Premier vor allem in der Bildungspolitik setzen, dem einzigen Politikfeld, auf dem in der Haushaltsplanung für die kommenden Jahre substanzielle Zuwächse vorgesehen sind.

Auch dabei könnte sich Brown von den Dogmen der Blair-Regierungen absetzen. Brown war immer skeptisch gegenüber der Rolle von Pseudo-Märkten für öffentliche Dienstleistungen – nicht zuletzt im Bildungssektor. Während Blair die Bildungsqualität durch mehr Wettbewerb zwischen konkurrierenden Anbietern verbessern wollte (die so genannte Choice-Agenda), dürfte Brown stärker auf Reformen und Verbesserungen von Prozessen im Rahmen des bestehenden Systems setzen. Dabei wird vor allem die Individualisierung des Bildungsangebotes eine Rolle spielen, also die bessere Berücksichtigung der individuellen Fähigkeiten, Bedürfnisse und (sozialen) Ausgangslagen der Schüler im Schulalltag.

Ferner dürfte bei der Regierungsarbeit die Innere Sicherheit eine wichtige Rolle spielen. Brown wird die bisherige Linie grundsätzlich beibehalten, das Thema womöglich aber breiter fassen und systematischer als Querschnittsaufgabe mit der Arbeit der Fachministerien und dem Außenministerium verknüpfen. Bei der zentralen Herausforderung der Terrorismusbekämpfung wird Brown vermutlich versuchen, die politische Zusammenarbeit der Regierung mit den muslimischen Immigrantengemeinschaften zu intensivieren.

Allerdings wird Brown keinen Zweifel an der „tough-on-crime“-Position der Regierung lassen; ein Zurück zu den liberalen Positionen der traditionellen Linken wird es unter Brown nicht geben. Denkbar ist jedoch, dass er sich von der einseitig repressiven Logik der Blair-Regierungen absetzen und die Rolle von Rehabilitation, Resozialisierung und Prävention stärken. Dazu passt die bereits beschlossene Aufteilung des Home Office in ein Justizministerium und ein Ministerium für Sicherheit. Als Sicherheitsminister wäre dabei der gegenwärtige Innenminister John Reid in Frage gekommen, was eine der führenden Figuren des blairistischen Parteiflügels in die Kabinettsdisziplin eingebunden hätte. Reid hat jedoch seine Entscheidung bekanntgegeben, sich auf die back benches des Unterhauses zurückziehen zu wollen.

Was Brown wirklich umtreibt

Damit verbunden könnte in Browns Regierungszeit ein weiteres Thema eine größere Bedeutung erlangen: die Frage der nationalen Identität. Der Begriff „Gesellschaft“ ist aus der Rhetorik Labours weitgehend verschwunden und durch das kommunitaristische „communities“ ersetzt worden. Von Brown hingegen weiß man, dass ihn seit längerem die Frage umtreibt, was die sozial, kulturell, religiös und ethnisch immer stärker ausdifferenzierte britische Gesellschaft in Zukunft zusammenhalten kann.

Browns vorläufige Antwort ist ein eher vages Konzept von „Britishness“, einer auf gemeinsamen „britischen“ Werten und Idealen basierenden Identität. Dies ist zwar sehr viel unspezifischer, inhaltlich aber nicht weit vom deutschen Verfassungspatriotismus entfernt: Die Nation wird als Wertegemeinschaft begriffen, nicht als historisches Schicksals- oder Abstammungskollektiv. Viel deutet darauf hin, dass Brown diesem Thema relativ große Bedeutung einräumen und mit Initiativen aufwarten wird, die den Bürgern des Landes, vor allem Einwanderern, ein aktives gesellschaftliches Teilhabeangebot machen, etwa in Form von obligatorischem sozialem Engagement.

Die verspätete Entdeckung der Ökologie

Gleichzeitig wird Brown versuchen, die Einwanderung von außerhalb der EU stärker zu steuern, etwa durch die Einführung eines Punktesystems wie in Australien. Ob dies genügen wird, um der ablehnenden Haltung der Bevölkerung gegenüber weiterer Immigration die Spitze zu nehmen, wird sich zeigen. Die negative Stimmung hat sich infolge der hohen Einwanderung aus den neuen EU-Mitgliedsländern entwickelt.

Sehr viel größer als bisher dürfte für die Regierung Brown die Bedeutung der Umweltpolitik werden – ein Thema, dass Labour bisher sträflich vernachlässigt hat und bei dem Großbritannien der deutschen Politik um Jahre, wenn nicht Jahrzehnte hinterher hinkt. Auf die schöne rhetorische Frage Jürgen Trittins, weshalb eigentlich Großbritannien den ganzen Wind, Deutschland aber die ganzen Windkraftwerke habe, gibt es ein simple Antwort: „Bad politics“.

Auf diese schlechte Politik hatte Gordon Brown als Wirtschafts- und Finanzminister nicht unerheblichen Einfluss. Erst in den vergangenen zwölf Monaten, als die wissenschaftlichen Studien zu den Folgen des Treibhauseffekts immer alarmierender wurden und die Konservativen das Thema erfolgreich für sich reklamierten, ist Labour aufgewacht. Seither versucht die Partei, ihr umweltpolitisches Profil zu schärfen. Als Teil dieser Strategie wird nun ein neues Ministerium für Umwelt und Energie geschaffen, das als schwergewichtige Institution unter Führung des Hoffnungsträgers David Miliband ernsthafte Umwelt- und Energiepolitik betreiben soll.

Außenpolitisch stellt sich die Frage, wie Brown das Land gegenüber Europa und den Vereinigten Staaten positionieren wird. Die britische Öffentlichkeit ist keineswegs glücklich über Blairs Nibelungentreue zu George W. Bush, erst recht nicht nach dem Desaster des Irak-Kriegs. Brown weiß, dass die Außenpolitik ein wichtiges symbolisches Feld ist, auf dem er einen gewissen Bruch mit der Blair-Amtszeit vollziehen muss.

Deshalb werden die außenpolitischen Erklärungen Browns vermutlich die Eigenständigkeit der britischen Außenpolitik betonen und die nationalen Interessen Großbritanniens in den Vordergrund rücken, was zumindest implizit eine Distanzierung von der Sonderbeziehung Bush-Blair wäre. Rasch wird Brown die Präsenz britischer Truppen im Irak klären müssen. Zwar ist nicht mit einem vorgezogenen Truppenabzug zu rechnen, Brown wird aber alles daran setzen, um die Truppen bis spätestens Ende 2008 vollständig aus dem Irak zurückzuholen, so wie es die Planungen vorsehen.

Siegt jetzt die Europaskepsis?

In Bezug auf Browns künftige Europapolitik gibt es viel Rätselraten. Sein bisheriges Verhalten im europäischen Kontext lässt viele Beobachter auf einen europaskeptischen Kurs schließen. Dies muss aber nicht so sein. Vielmehr ist zu erwarten, dass Brown die EU als zentrale politische Bezugsgröße anerkennen wird, die für Großbritannien als Handlungsrahmen in wichtigen Bereichen – Klimawandel, Verteidigungspolitik, Handelspolitik – von strategischer Bedeutung ist. Großbritannien, so könnte Browns Botschaft lauten, will in einer sich reformierenden EU konstruktiv mitwirken.

Hier liegen aber bereits die Grenzen des Brownschen europapolitischen Ansatzes: Brown betrachtet die EU als Instrument zur Verfolgung nationaler Interessen, die unter den Bedingungen der Globalisierung von einer Mittelmacht nicht mehr alleine gesichert werden können. Diese Denkfigur wird auch die Haltung der Regierung Brown zum Thema EU-Verfassung bestimmen: Mehr als einen „Optimierungsvertrag“, der kein Referendum erfordert, sondern auf parlamentarischem Weg verabschiedet werden kann und lediglich effizientere Regeln für eine weiterhin intergouvernementale Europäische Union schafft, hat Brown nicht im Sinn.

Die Frustration über Labour sitzt tief

Für eine insgesamt konstruktive Haltung Browns spricht allerdings, dass das Thema EU – zusammen mit dem Klimawandel – ein wahltaktischer Vorteil für Labour zu werden verspricht. Denn der globale Klimawandel ist ein Problem, bei dem nationale Initiativen allein offensichtlich keine Wirkung haben. Erfolg verspricht nur gemeinsames Vorgehen. Somit untergräbt die Europafeindlichkeit der Konservativen ihre eigene Glaubwürdigkeit bei ausgerechnet dem Thema, das sie in den Mittelpunkt ihrer Strategie zu einem Imagewandel gestellt haben. Brown wird es sich nicht nehmen lassen, diese Inkonsistenz gnadenlos anzuprangern. Dafür muss Labour aber europapolitisch selbst ein Mindestmaß an Glaubwürdigkeit besitzen.

Wird all dies für den Wahlsieg 2009 genügen? Vielleicht. Viele der angepeilten Initiativen gehen in die richtige Richtung und legen den Finger in große Wunden der bisherigen Regierungsbilanz. Gleichzeitig wird man aber das Gefühl nicht los, dass diese relativ moderaten, in vieler Hinsicht nur stilistischen Korrekturen nicht ausreichen könnten.

Einiges deutet darauf hin, dass die Frustration über die Politik Labours tiefer reicht. Die Briten sind unzufrieden darüber, dass Labour die öffentlichen Dienstleistungen in den vergangenen Jahren trotz massiver Investitionen tiefer in die Krise manövriert hat. Zudem herrscht ganz grundsätzlich Verdruss über das gesellschaftliche Projekt New Labour: eine im Kern optimistische Erzählung von den zahlreichen Segnungen der liberalen Wirtschaft, der offenen Grenzen und der Globalisierung für Großbritannien. Auf New Labours glücklicher Insel kann jeder am Wohlstand teilhaben, solange er immer schön fleißig lernt. Diese Erzählung scheint dem Lebensgefühl vieler Bürger immer stärker gegen den Strich zu gehen. Eine Mehrheit hält das Land heute schlicht für einen schlechteren Ort zum Leben als vor zehn oder auch zwanzig Jahren. Gut möglich, dass Brown seinen Diskurs sehr viel stärker wird ändern müssen als geplant, um Labour für die unzufriedenen Teile der Bevölkerung wieder attraktiv zu machen.

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