Die Mitte ist schon besetzt

Gute Regierungsbilanz hin oder her - in Baden-Württemberg hat die SPD eine krachende Niederlage eingesteckt. In den nächsten fünf Jahren muss die Partei unermüdlich um ehemalige Unterstützer, Nicht- und Erstwähler kämpfen sowie Wege finden, um in ihren früheren Hochburgen wieder mehr Menschen zum politischen Mitmachen zu aktivieren

Warum wurde die SPD bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg derartig abgestraft? Fest steht: An der grün-roten Regierungsbilanz hat es nicht gelegen. Im Gegenteil, sie kann sich durchaus sehen lassen: In den vergangenen fünf Jahren verzeichnete Baden-Württemberg hohe Wachstumsraten und eine niedrige Arbeitslosigkeit, auch im Vergleich zu anderen westdeutschen Flächenländern. Der Haushalt war mehrfach ausgeglichen. Und die grün-rote Landesregierung war sehr beliebt. Hinzu kommt, dass die SPD klassische sozialdemokratische Politik betreiben konnte, die auf die (Industrie-)Arbeitnehmerschaft zielte, etwa beim Tariftreuegesetz, der Grunderwerbssteuererhöhung oder beim Ankauf von Steuer-CDs. Viele dieser Maßnahmen zielten darauf ab, die Einnahmeseite des Landeshaushalts zu stabilisieren, ohne bei den Ausgaben für Bildung, Verwaltung oder Integrationspolitik kürzen zu müssen. Das schlechte Wahlergebnis von 12,7 Prozent hat vor allem zwei strukturelle Ursachen, die weit über Baden-Württemberg hinaus von Bedeutung sind.

Erstens: der Juniorpartner-Effekt. Eingeklemmt zwischen einem populären Ministerpräsidenten und der Opposition ist es immer schwer, als kleiner Koalitionspartner einen erfolgreichen Wahlkampf zu führen. Dies hat auch die SPD in Baden-Württemberg deutlich zu spüren bekommen. Der alte Leitspruch der empirischen Wahlforschung „It’s the economy, stupid!“ gilt zwar nach wie vor, allerdings nicht mehr für beide Koalitionspartner gleichermaßen. Im Zuge der zunehmenden Konkurrenz um Aufmerksamkeit hat es die Landespolitik ohnehin schwer, öffentlich wahrgenommen zu werden. Die Folge: Positive Entwicklungen und wirtschaftlicher Aufschwung werden verstärkt dem Regierungschef und seiner Partei und nicht der Koalition insgesamt gutgeschrieben. Davon abgesehen hat es ein Juniorpartner naturgemäß schwerer, sich im Wahlkampf zu profilieren, als er dies aus der Opposition heraus hätte. Deshalb ist stets aufs Neue zu prüfen, zu welchem Preis eine Partei bereit ist, als Juniorpartner eine Koalition einzugehen. Trotz der zunehmenden Fragmentierung des deutschen Parteiensystems sollten Große Koalitionen besser die Ausnahme bleiben. Die stärkere Zersplitterung des Parteiensystems sollte Anlass sein, innovative Koalitionsmodelle und institutionelle Neuerungen wie Minderheitsregierungen auszuprobieren. Gefordert sind dabei alle Parteien des demokratischen Parteienspektrums. Die Jamaika-Koalition im Saarland, Schwarz-Grün in Hessen und die rot-rot-grüne Koalition in Thüringen sind erste Anzeichen dafür, dass dieser Prozess bereits begonnen hat. Eine weitere Möglichkeit, mit den strukturellen Schwierigkeiten eines Juniorpartners umzugehen, bestünde darin, mit einem Spitzenkandidaten anzutreten, der nicht dem Kabinett angehört. Auf Landesebene könnte dies zum Beispiel ein erfolgreicher Oberbürgermeister sein. Dieser könnte im Wahlkampf mit erfolgreichen Projekten aus seiner Stadt eigene Akzente setzen, hätte einen Amtsinhaberbonus und wäre nicht an die Kabinettsdisziplin gebunden.

Die neuen Kretschmann-Milieus der Grünen

Die zweite strukturelle Ursache für die Wahlniederlage der SPD ist der asymmetrische Rückgang der Wahlbeteiligung, von dem die SPD stärker betroffen ist als andere Parteien. Zwar stieg die Wahlbeteiligung im Südwesten leicht von 66 auf 70 Prozent. Damit liegt sie jedoch weiterhin deutlich unter dem Niveau früherer Wahlen. Wie der Politologe Armin Schäfer gezeigt hat, folgt der Rückgang der Wahlbeteiligung einem asymmetrischen Muster: In den achtziger Jahren lag die Beteiligung an Bundestagswahlen in den oberen, mittleren und unteren Einkommensschichten jeweils noch bei mehr als 90 Prozent. In den vergangenen Jahrzehnten hat sie vor allem in den unteren Schichten abgenommen. Im unteren Einkommensdrittel machen nur noch zwei von drei Wahlberechtigten am Wahltag ihr Kreuz. Dies gilt wohlgemerkt für Bundestagswahlen; bei Landtags- und Kommunalwahlen fällt der Effekt zum Teil noch stärker aus. Unter dieser Entwicklung leidet die SPD besonders stark. Deshalb ist davon auszugehen, dass die SPD bei einer niedrigeren Wahlbeteiligung sogar noch schlechter abgeschnitten hätte.

Die derzeitige Struktur des Parteienwettbewerbs verstärkt diesen Effekt. Winfried Kretschmann ist es gelungen, die Grünen auf einen Mitte-Kurs einzustimmen und so neue Wählermilieus zu erschließen. Eine großflächige Wahlabstinenz und das Abwandern großer Teile des linken Lagers hatte er – anders als die SPD – nicht zu befürchten. Schließlich gibt es keine Partei, die gleichzeitig linker und ökologischer als die Grünen wäre – und damit auch weniger direkte Parteienkonkurrenz für die Grünen. Anders stellt sich die Situation für die SPD dar. Der Versuch, Wähler anderer Parteien und der Mitte anzusprechen, kann demnach nur ein Aspekt einer erfolgreichen sozialdemokratischen Strategie sein. Mindestens ebenso wichtig ist es, ehemalige SPD-Wähler, Nichtwähler und Erstwähler für die SPD zu gewinnen, wozu eine Steigerung der Wahlbeteiligung in ehemaligen sozialdemokratischen Hochburgen erforderlich ist. Es kommt also nicht nur auf die Mitte der Gesellschaft an, in der sich nahezu alle Parteien tummeln. Stattdessen muss es oberste Priorität der SPD sein, die verlässliche Unterstützung der linken Mitte (wieder) zu gewinnen. Dazu bedarf es eines gezielten Einsatzes in den Bezirken, in denen die SPD traditionell stark ist. Dies muss sich sowohl in inhaltlichen Entscheidungen als auch im Wahlkampf selbst widerspiegeln.

Wie verschafft sich eine vierte Kraft Gehör?

Allerdings besteht die Gefahr, dass sich eine weitere Zunahme der sozialen Spaltung in Bezug auf die Wahlbeteiligung und allgemeine gesellschaftliche Spaltungsprozesse gegenseitig verstärken. Die sinkende Wahlbeteiligung ist deshalb nicht nur eine Herausforderung für die SPD, sondern für die gesamte Gesellschaft. Aus diesem Grund sollten wir auch über institutionelle Innovationen zur Steigerung der Wahlbeteiligung debattieren – etwa die Einführung einer Wahlpflicht, wie sie Armin Schäfer vorgeschlagen hat. Eine andere Möglichkeit könnte ein positives Anreizsystem etwa in Form einer geringen Aufwandsentschädigung für die Wahlteilnahme sein. Auch über eine Vereinfachung des Wahlmodus oder längere Öffnungszeiten der Wahllokale ist zu diskutieren.

Die baden-württembergische SPD sollte die bevorstehende Regierungszeit von Grün-Schwarz dazu nutzen, sich als konstruktive Opposition links von der Koalitionsregierung zu positionieren. Um die Unterstützung ihrer Kernklientel und weiterer Wählergruppen wiederzugewinnen, muss sie sozial-demokratische Alternativen anbieten. Die CDU wird es als kleiner Partner in der Koalition schwer haben, sich zu profilieren. Die SPD täte daher gut daran, die neue Struktur des Parteien-wettbewerbs für sich zu nutzen. Die Herausforderung wird darin bestehen, sich neben der AfD als vierte Kraft im Landtag Gehör zu verschaffen – mit durchdachten und konstruktiven sozialdemokratischen Alternativvorschlägen.

Dies kann allerdings nur gelingen, wenn sich die SPD den strukturellen Ursachen für ihre Wahlniederlage stellt. Dann wird sich erfolgreiche Regierungsarbeit auch wieder an der Wahlurne auszahlen.

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