Die absurden Effekte des deutschen Sozialsystems

Belastung für Geringverdiener und Entlastung für Besserverdiener - das deutsche Sozialversicherungssystem hat Auswirkungen jenseits von Gerechtigkeit und Solidarität. Reformvorschläge für eine fairere Lastenverteilung machen Felix Hörisch und Joost Punstein

Seit dem 1. Juli ist das neue Rentenpaket rechtskräftig. Seither beanspruchen sowohl Befürworter als auch Gegner die Deutungshoheit über den Gerechtigkeitsbegriff. Dabei werden häufig Leistungsgerechtigkeit und Generationengerechtigkeit gegeneinander ausgespielt. Zweifellos leidet das deutsche Lohnsteuer- und Abgabensystem unter einer zunehmenden Ungerechtigkeit: Besserverdiener werden auch systematisch besser gestellt. Das untergräbt das solidarische Sozialsystem. Exemplarisch hierfür stehen zwei Beispiele: Die Struktur der Sozialabgaben für Gering- und Besserverdienende sowie die derzeitige Ausgestaltung unseres Rentensystems.

Das Statistische Bundesamt berechnete die Einnahmen aus der Sozialversicherung im Jahr 2013 auf 538 Milliarden Euro. Die Höhe der Lohnsteuer lag im selben Jahr mit 158 Milliarden Euro deutlich niedriger. Während jedoch über Reformen der Einkommenssteuer und ihre verteilungspolitischen Implikationen eifrig debattiert wird, bleibt es um die gerechtigkeitspolitischen Auswirkungen des Sozialversicherungssystems stumm. Dabei sollte hier genauer hingeschaut werden.

Jeder weiß, dass ab einem bestimmten Einkommen die Höhe der Sozialversicherungsabgaben nicht weiter ansteigt. Hierfür sorgt in Deutschland die Beitragsbemessungsgrenze. Die Sozialabgabe bleibt absolut gesehen gleich, unabhängig davon, wie stark das Einkommen zunimmt. Prozentual zum Gesamteinkommen sinkt die Höhe der Sozialabgaben ab der Beitragsbemessungsgrenze mit zunehmenden Einkommen sogar immer weiter.

Je höher das Einkommen, desto geringer die Abgaben

Bei der Krankenversicherung und sozialen Pflegeversicherung liegt der Grenzwert bei einem jährlichen Bruttoeinkommen von 48.600 Euro, bei der allgemeinen Rentenversicherung sowie der Arbeitslosenversicherung bei 71.400 Euro im Westen und 60.000 Euro im Osten. Das gesamte Bruttoeinkommen, das über dieser Beitragsbemessungsgrenze hinaus erwirtschaftet wird, ist frei von jeglicher Leistung für unser Sozialsystem. Das führt zu einer absurden Logik: Je höher das Einkommen, desto geringer wird der abgeschöpfte Sozialversicherungsanteil. So wird der Gerechtigkeitsbegriff ad absurdum geführt. Auf der einen Seite stehen wir zu einer progressiven Steuer und begründen dies mit gerechter Lastenverteilung je nach Leistungsfähigkeit. Auf der anderen Seite deckeln wir die Ausgaben für unser Sozialsystem, das viel direkter jedem Bürger zugutekommen soll. Das Solidarprinzip wird ausgehöhlt und den Normalverdienern eine höhere Last aufgebürdet, als es in einem konsequent progressiv gestalteten Sozialabgabensystem der Fall wäre.

Nicht weniger problematisch ist die Geringfügigkeitsgrenze. „Minijobber“ werden in Deutschland sozialversicherungsfrei beschäftigt. Das hat einerseits einen positiven Effekt für die Beschäftigten: Es bleibt mehr Netto vom Brutto. Andererseits steigt das Risiko erheblich, später in Altersarmut zu geraten. Minijobber können sich problemlos von der Rentenversicherungspflicht befreien lassen.

Dabei würde es sie nicht viel mehr kosten, die eigene Rentenkasse aufzufüllen. Der Arbeitgeberanteil liegt bei 15 Prozent, der Eigenanteil bei nur 3,9 Prozent. Wenn dieser Anteil nicht entrichtet wird, werden Pflichtbeitragszeiten nicht vollwertig erworben. Der Rentenanspruch sinkt. Zudem wirkt sich die Befreiung negativ auf die Erwerbsminderungsrente aus. Der zu leistende Beitrag, um einen viel größeren Schaden zu verhindern, ist also relativ gering.

Ähnlich verhält es sich mit der gesetzlichen Krankenversicherung. Obwohl Minijobber wenig Lohn erhalten, kann ihr Preis für eine Krankenversicherung deutlich höher sein als in einem regulären Arbeitsverhältnis. Mit einer geringfügigen Beschäftigung geht kein automatischer Krankenversicherungsschutz einher. Ist der Beschäftigte nicht bereits versichert, sind die Kosten für ihn mit etwa 140 Euro für eine freiwillige Versicherung immens. Das entspricht über 30 Prozent seines Lohns. In einem üblichen Beschäftigungsverhältnis liegt der Anteil vom Lohn für den Arbeitnehmer bei lediglich 8 Prozent. Bemerkenswert ist auch, dass der Arbeitgeber 13 Prozent vom Lohn als pauschale Krankenkassenabgabe an das Mini-Jobcenter zahlt. Diese Zahlung verpufft allerdings für den Minijobber, denn die Krankenversicherungskosten für den freiwillig Versicherten werden dadurch nicht geringer. Hier wird die Idee der Vorleistung und Gegenleistung ausgehebelt. Warum ist die Lastenverteilung in Deutschland so ungleich, obwohl sich diese absurden Effekte des deutschen Sozialsystems lösen lassen?

Wie wir das Problem lösen können

Hierzu müsste lediglich jeder anteilig an seinem Gesamtlohn auch Sozialabgaben zahlen. Dann würde der Arbeitgeber keine pauschalisierte Krankenkassenabgabe ohne daraus resultierenden Leistungsanspruch mehr entrichten. Auch der Anreiz für Arbeitgeber, einen Arbeitsplatz in mehrere flexible 450-Euro-Stellen umzuwandeln, würde nicht mehr bestehen. Folglich nimmt die Zahl der Vollzeitstellen zu, der anhaltenden Prekarisierung wird Einhalt geboten. Die größtenteils vom Mittelstand erwirtschafteten Sozialabgaben könnten verringert werden, da sich die Berechnungsbasis vergrößert. Die durchschnittliche Last des Normalerwerbstätigen könnte sinken. Über guten Lohn für gute Arbeit kann damit endlich wieder der eigene Lebensunterhalt gesichert werden.

Einige Länder zeigen bereits, wie Sozialabgaben gerechter und solidarischer gestaltet werden können. Beispielsweise steht die Schweiz für ein sozial verantwortungsvolleres Versicherungssystem. Bei den Eidgenossen gibt es keine Beitragsbemessungsgrenze. Auch in Belgien und Frankreich versucht man prekäre Arbeit einzudämmen, indem sozialversicherungsfreie Beschäftigungsverhältnisse unmöglich sind. Unsere europäischen Nachbarn zeigen, dass durch den Einbezug aller Schichten die Belastung für jede Einkommensgruppe fair gestaltet werden kann.

Die Schweiz hat ein vorbildliches, solidarisches Rentensystem. Es stützt sich auf drei komplementär wirkende Säulen. Dabei werden Umlageverfahren und Kapitaldeckung miteinander kombiniert. Die Alters- und Hinterlassenen-Vorsorge ist eine Bürgerrentenversicherung, in die berufstätige Personen und Privatiers ausnahmslos einzahlen müssen. Eine solche Bürgerversicherung muss auch in Deutschland das Ziel sein, in die alle in dieselbe gesetzliche Rente einzahlen. Die proportionale Zunahme der Rentenbeiträge ohne Beitragsbemessungsgrenze wirkt umverteilend. Die Auszahlung ist nach oben gedeckelt und beträgt umgerechnet rund 1.700 Euro im Monat. Die Mindestrente für die Ärmsten der Gesellschaft beträgt in etwa 800 Euro.

Neben der Alters- und Hinterlassenen-Vorsorge beruht das Schweizer Rentensystem auf zwei kapitalgedeckten Säulen. Zur zweiten Säule zählt die berufliche Vorsorge, die ab einem Monatseinkommen von rund 1.440 Euro für den Arbeitgeber verpflichtend ist. Zur dritten Säule wird die private Altersvorsorge von Berufstätigen gezählt.

Vorbild Schweiz

Auch in der Schweiz erhält nicht jeder Beschäftigte die gleichen Leistungen. Das muss auch nicht der alleinige Anspruch sein. Jedoch zeigt die erste Säule, wie ein staatliches Rentensystem gestaltet werden kann, um durch eine Maximalrente auf der einen Seite eine Minimalrente auf der anderen zu ermöglichen.

Das Schweizer Modell könnte im Wesentlichen auf Deutschland übertragen werden. Für Deutschland müssen mehrere Rechtsprinzipien betrachtet werden, die es bei einer ähnlichen Ausgestaltung zu berücksichtigen gilt: Das Äquivalenzprinzip, das Leistungsfähigkeitsprinzip sowie das Solidaritätsprinzip.

Das Leistungsfähigkeitsprinzip besagt, dass die Höhe der Beitragspflicht nach der Leistungsfähigkeit des Einzelnen gestaltet werden muss. Nach dem Äquivalenzprinzip muss die Einzahlungshöhe und –dauer mit dem späteren Rentenanspruch korrespondieren. Zahlung und Leistung dürfen in keinem groben Missverhältnis zueinander stehen.

Problematisch ist dabei, diesen Grundsatz mit dem Konzept einer Maximalrente in Einklang zu bringen. Allerdings muss die Maximalrente nicht als fixer Auszahlungswert verstanden werden. Wenn stattdessen ab einer festgelegten Höhe der weitere Anstieg nur noch gering ausfällt, besteht de facto eine Maximalrente ohne die Idee der Leistungsgerechtigkeit zu stark einzuschränken.

Da die Äquivalenz auch nach unten wirkt, würden Geringverdiener später oft nicht ihr Überleben sichern können. Hier greift das Solidaritätsprinzip schon heute und verdrängt das Äquivalenzprinzip. Der Solidaritätsgedanke kann sowohl am unteren Ende der Rentenskala als auch am oberen Ende angewendet werden, sodass eine Auszahlung ähnlich der Maximalrente möglich wäre, die zudem das Solidaritätsprinzip berücksichtigt.

Es braucht Reformen für mehr Gerechtigkeit

Im Gegensatz zu dem beitragsfinanzierten System erwächst jedoch aus einem steuerfinanzierten System kein direkter Leistungsanspruch. Daher sollte auch ein reformiertes Sozialsystem über ein Abgabensystem finanziert werden. Steuern sind nicht zweckgebunden und dienen allgemein zur Haushaltsfinanzierung. Der Konnex zwischen der individuellen Vorleistung und daraus resultierenden Gegenleistung würde entfallen.

Das Zusammenspiel zwischen Leistungsprinzip, Solidaritätsprinzip und Äquivalenzprinzip kann in seiner komplementären Struktur lediglich durch ein beitragsfinanziertes Modell realisiert werden, da dieses Modell eine adäquate Gegenleistung garantiert.

Fest steht: Wir müssen uns in Deutschland Gedanken machen, wie wir dem demografischen Wandel, der Verarmung ganzer Gesellschaftsteile, einer sich vergrößernden Kluft zwischen Arm und Reich und der zunehmenden Gefahr von Altersarmut begegnen wollen. Generationengerechtigkeit darf nicht gegen Leistungsgerechtigkeit abgewogen werden. Das kann nur gelingen, wenn alle Bevölkerungsteile zum Allgemeinwohl beitragen, und das mit ihrem vollen Gehalt und ihrer gesamten Leistungskraft. Dafür ist eine Reform des Steuersystems genauso entscheidend und unverzichtbar wie eine Reform des Sozialabgabensystems.

(Dieser Text ist am 22. Oktober 2014 parallel als Online-Spezial-Beitrag der Berliner Republik und beim Think Tank "Das Progressive Zentrum" erschienen.)