Die letzte Linie vor dem Chaos

Das Buch Tief im Osten vermittelt plastische Eindrücke vom Leben in den neuen Ländern 15 Jahre nach der Vereinigung

Roger Schaumberg ist 42 Jahre alt und hat einen Job, wie man ihn aus Fernsehserien und Werbespots kennt. Er ist Kreativdirektor einer Werbeagentur. Kreativdirektoren sind dort die Helden der neuen Zeit. Aber Schaumbergs Geschichte geht anders: In seiner Freizeit organisiert er Hartz IV-Demonstrationen. Eine Kombination, die es wahrscheinlich nur in Ostdeutschland geben kann, wo Werber und Revoluzzer die friedliche Koexistenz probieren. Schaumberg ist ein Mann mit einzigartiger Karriere. Das Elternhaus ist systemkonform, an der Schule wird Schaumberg Chefideologe, später Offiziersschüler. Doch dann bricht er aus der Staatskonformität aus. Wird Binnenhändler in einem Staatsbetrieb und lernt Vorder- und Rückseite der DDR-Wirtschaft kennen. „Wir waren die letzte Linie vorm Chaos“, sagt er selbst über die Zeit, in der er versuchte, von den DDR-Unternehmen zu retten, was nicht mehr zu retten war. Noch in der DDR wird Schaumberg arbeitslos, findet Zuflucht in der Kulturszene und Anschluss an die Oppositionsbewegung. Dann organisiert er die Revolution mit. In den neunziger Jahren macht sich unser Held selbständig. Und im Sommer des Jahres 2004 geht er wieder auf die Straße, kämpft gegen die Arbeitsmarktreformen der Bundesregierung, holt Lafontaine nach Leipzig – und spaltet damit die Sozialproteste.

Geschichten wie diese erzählt das von Michael Kraske und Christian Werner herausgegebene Buch Tief im Osten. Die acht Autoren, Mitglieder des Leipziger Journalistenbüros Mediendienst Ost, haben sich tief in den Osten vorgewagt. Sie berichten von Leuten, die alles richtig machten, die sich in die Selbständigkeit stürzten, die mobil und flexibel waren – und doch nicht zufrieden sind mit sich, mit ihrer Heimat, mit ihrem Leben. Es erzählt von Hoffnungen und Träumen ebenso wie von Frustration und Enttäuschung, von Mut und Aufbruch, vom Vorwärtsdrängen und von Rückzugsbewegungen. Die Geschichten blicken hinter die Kulissen eines Landstriches, der vielen immer noch fremd geblieben ist. Die üblichen Klischees hingegen bedient Tief im Osten nicht – das ist der große Vorzug des Buches.

Glücklich ist in Alsfeld keiner

Da ist Jörg Kondziora, der mit seinem Jugendclub-Container versucht, die Jugendlichen von Alsfeld in der sachsen-anhaltinischen Provinz aus ihrer Lethargie zu reißen. Kondziora erzählt von Leuten, die Angst haben, ihren Job zu verlieren und Leuten, die keinen Job haben. Glücklich ist in Alsfeld keiner. Und dennoch – Kondziora versucht, den Jugendlichen Mut zu machen, sie zu aktivieren und anzupacken. Das ist schwer genug. Unweigerlich denkt man an die Menschen, die seit der Wende alles – buchstäblich alles – versucht haben. Die in den Westen gegangen sind, jahrelang zwischen Familie und Arbeitsort gependelt sind – und dann doch wieder mit leeren Händen dastanden. Die sich fortgebildet und Praktika gemacht haben. Und die sich fragen, wo die 1.000 Milliarden gelandet sind, die seit der Wende in den Osten geflossen sind. Da sind Menschen, die kein Glück gehabt haben in der neuen Welt und von Tag zu Tag mehr zweifeln. Die den Traum von der sozialen Gerechtigkeit träumen, aber dann doch nur in der Schlange vor dem Arbeitsamt stehen.

Tief im Osten erzählt nicht die üblichen Jammergeschichten. Da ist die Studentin, die für ihre Karriere nach London geht – und später mit etwas Verwunderung auf ihre alte Heimat blickt. Da geht es um die Integration von Ausländern und den Wiederaufbau des von der Flut zerstörten Grimma. Michael Kraskes Geschichte über das „rastlose Chamäleon“ ist die Liebeserklärung eines Wessis an seine neue Heimatstadt Leipzig. Und ein Beispiel dafür, dass der Osten mehr beherbergt als Tristesse allerorten. Wer heute die alte Messestadt besucht, der merkt, wie sie aufgeblüht ist und fast schon weltläufigen Charme versprüht – die Ansagen in den Straßenbahnen erklingen auch auf Englisch und Französisch. Die verpatzte Olympiabewerbung hat dem Leipziger Aufbruch keinen Abbruch getan. Im Gegenteil. Sie hat Leipzig noch offener gemacht – und gezeigt, dass es sich zu träumen lohnt. Die Leipziger Gründerzeitquartiere gehören zu den schönsten Wohnvierteln, die Deutschland zu bieten hat. Und der Witz daran: Fast jeder kann es sich leisten, dort zu wohnen. Wo sonst gibt es so etwas noch? Von Abwanderung und Kinderlosigkeit ist in Leipzig nichts zu spüren. Seit einigen Jahren wächst die Stadt wieder. Rechtsextremismus? Dem stellt sich eine engagierte Bürgerschaft mit Kreativität und Ausdauer entgegen.

Wenn Depression in Gewalt umschlägt

Michael Kraske erzählt von den Leipziger Nobelmeilen, von entdeckten und noch unentdeckten Künstlern, von Lebensfreude und von der Geschwindigkeit, mit der sich die Stadt verändert. Er berichtet aber auch von den Arbeitslosen – und den Folgen, die sich einstellen, wenn Menschen jede Hoffnung verloren haben. So eindrücklich wie erschreckend ist die Geschichte über Denny S. Der bekam den ganzen Frust und die tiefe Depression seiner „Freunde“ zu spüren, die seit Jahren ohne Job ihr Dasein fristen und so zu menschlichen Zeitbomben wurden. Sie demütigen Denny, quälen ihn fast zu Tode, nehmen ihm jede Würde – bis er sich in der Schreckensnacht am liebsten selbst umbringen möchte. Die Geschichte von Denny S. ist kein Einzelfall. Schon mehrfach ist in Ostdeutschland Hoffnungslosigkeit in Aggressivität und Gewalt umgeschlagen. „Am Boden der Gesellschaft ist der Bruch mit Menschenwürde und Anstand Routine“, fasst Kraske seine Beobachtungen auf alarmierende Weise zusammen. Antworten auf diese Entwicklungen haben wir nicht. Wir werden sie aber brauchen.

Die 23 Geschichten des Buches machen neugierig. Bisweilen wünscht man sich, mehr über die Menschen im Buch zu erfahren, bisweilen hätte sich auch ein dritter und vierter Blick in die Köpfe und Seelen gelohnt. Etwas weniger Hektik hätte dem Buch da und dort gut getan. Dennoch ist es den Autorinnen und Autoren gelungen, Geschichten zu erzählen, die Menschen nicht bevormunden, die Innenansichten statt Draufsicht bieten. Es sind Berichte, die ans Herz gehen und erklären helfen, warum im deutschen Osten so vieles so anders ist. Das ist das große Verdienst des Bandes. Vor allem vermitteln die Beiträge ein Gefühl von der Heimatlosigkeit, die viele Menschen in den neuen Ländern heute verspüren. Die DDR ist nicht mehr – und keiner will sie wieder haben. Doch das Neue überzeugt die Menschen auch nicht richtig, zumindest nicht überall. Inmitten des Aufbruchs hat sich viel Ratlosigkeit breit gemacht, manchmal auch Enttäuschung. Dazwischen gibt es immer wieder Versuche auszubrechen, das Glück zu suchen – oder einfach nur einen ordentlichen Job zu bekommen.

Avantgarde sein – bloß warum eigentlich?

So liest sich das Buch als Reise durch ein Land, in dem alles auf den Kopf gestellt wurde. Ein Land, von dem Soziologen und Politiker immer wieder sagen, dass es mit seinen Erfahrungen von Umbruch und Modernität ein Bild davon vermittle, was den Westen erst noch erreichen wird. Das mag so sein, nur haben es viele Menschen in Ostdeutschland noch nicht verstanden. Und den meisten ist auch nicht klar, worin der Vorteil liegen könnte, in diesem Sinne „Avantgarde“ zu sein. Über die unterschiedlichen Facetten dieser Brüche kann man bei Tief im Osten viel erfahren.

Michael Kraske und Christian Werner (Hrsg.), Tief im Osten. Begegnungen mit der anderen deutschen Art, Berlin: Verlag Das Neue Berlin 2005, 208 Seiten, 14,90 Euro

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