Die deutsche Frage wird neu gestellt

Ob Eurozone oder Russland: Die für Deutschland so günstige bisherige Ordnung in Europa scheitert. In Berlin klammert man sich noch an die Reste des Status quo ante - doch zugleich wächst auch die Bereitschaft, der neuen europäischen Wirklichkeit Rechnung zu tragen

Ein weit verbreitetes Urteil lautet, mit der Eurokrise werde die „deutsche Frage“ neu aufgeworfen. Gegen diese Auffassung ist nicht viel einzuwenden, schließlich nimmt Berlin in Europa mittlerweile eine gewichtige Rolle ein. Nur über die Natur dieser neuen deutschen Frage wird immer noch gerätselt. So schrieb der britische Historiker Timothy Garton Ash 2013 in der New York Review of Books, die Herausforderung bestehe nun darin, das immense Potenzial Deutschlands zugunsten anstatt zulasten Europas zu nutzen.

Dass Deutschland zu groß ist für Europa, aber zu klein, um ohne seine Partner zu reüssieren, ist nicht neu. Aber die Russland-Krise hat ein neues Kapitel der deutschen Frage eröffnet. Für einige Beobachter steht nicht weniger als die Westbindung Deutschlands auf dem Spiel. Dafür spricht zum Beispiel eine ARD-Umfrage aus dem April 2014, wonach sich 49 Prozent der Deutschen eine Vermittlerrolle Deutschlands wünschen, während nur 45 Prozent Partei für den Westen ergreifen würden.

Die Deutschen hadern mit der neuen Lage

Was Russland und die Ukraine angeht, haben wir in den vergangenen zwölf Monaten viel Kakophonie aus Deutschland gehört: beschämende Aussagen einiger, zumeist grauhaariger Vertreter der (leider oft SPD-nahen) politischen Elite, die nicht müde wurden, dem russischen Verhalten eine Berechtigung zuzuschreiben; die mühsamen Vermittlungsversuche der Bundesregierung; bis hin zu ausgezeichneten Reden von Angela Merkel in Sydney sowie Frank-Walter Steinmeier in Jekaterinburg. Diese deutsche Vielstimmigkeit, gepaart mit der gespaltenen Meinung in der Bevölkerung, zeugte oft von Verunsicherung, manchmal von Ratlosigkeit, aber immer vom Hadern mit der neuen Realität. Es wäre allerdings falsch, dies als Abschied vom Westen zu deuten und als Rückkehr zur ursprünglichen deutschen Frage.

Im Kern ging es dabei um die Unfähigkeit Deutschlands, sich mit dem Status quo abzufinden: Es wollte entweder einen Platz unter der Sonne, mehr Lebensraum oder auch nur – ganz friedlich – nationale Einheit in Recht und Freiheit. Seitdem der „lange Weg nach Westen“ (Heinrich August Winkler) abgeschlossen ist – und spätestens seit Beginn des neuen Jahrhunderts –, hat sich Deutschland mit dem Status quo so gut abgefunden, dass es europa- und außenpolitisch nahezu unbemerkt vom change agent zur Beharrungsmacht mutiert ist. Kein Wunder: Das „Europa von Maastricht“, dessen Pfeiler stark von Berlin geprägt waren (das Konzept der Europäischen Zentralbank, die fiskalische Stabilitätskultur, die Erweiterungspolitik), schien ideale Bedingungen für die Entfaltung der deutschen Wirtschaft und Macht zu bieten. Bis zur europäischen Finanz- und Wirtschaftskrise war dies auch tatsächlich der Fall. Das zweite deutsche Wirtschaftswunder und der wachsende Einfluss ist mitnichten nur der Agenda 2010, sondern auch den Vorteilen des „deutschen Europa“ geschuldet. Zudem war die Ära der Globalisierung, der Interdependenz und des Multilateralismus für die „geo-ökonomische Macht“ (Hans Kundnani) der deutschen Exportnation wie geschaffen. So ließ sich die Sicherheitspolitik leicht „outsourcen“, zumal die Nato in Richtung Osten erweitert wurde. „Verweile doch, du bist so schön!“ – wollte man angesichts dieser Großwetterlage ausrufen.

Die Eurokrise und die Russland-Krise haben die Fundamente dieses Status quo untergraben und damit die deutsche Frage neu gestellt. Plötzlich ist das Land, das den Status quo geprägt und sich mit ihm wie kein anderes Land arrangiert hat, dazu aufgefordert, ihn zu überwinden – vor allem aufgrund seiner neu gewonnen Stärke und der Schwäche der Partner. Dies gilt für die Eurozone genauso wie für die Politik gegenüber Russland: In beiden Fällen sind wir nicht Zeugen eines sich etablierenden deutschen Europas, sondern seines Scheiterns. Institutionen und Politik, die bisher den deutschen Vorstellungen ziemlich genau entsprachen, müssen neu entworfen werden. Und in beiden Fällen, notgedrungen und mit vielen Schmerzen, übernimmt die Status-quo-Macht Deutschland bei der Gestaltung eines neuen Systems und einer neuen Politik die Führungsrolle. Eine Eurozone, in der die Zentralbank Deflation statt Inflation bekämpft, wo permanente Bail-out-Vorrichtungen geschaffen wurden und der Fiskalpakt zur Lachnummer verkommt, ist wahrlich kein deutsches Europa. Nicht der Abschied vom Westen oder von der europäischen Berufung macht die neue deutsche Frage aus, sondern der Abschied vom liebgewonnenen Status quo. Das erklärt das oft verkrampfte Verhalten Berlins auf der internationalen Bühne sowie die Verwirrung unter den Beobachtern der deutschen Außenpolitik.

Wie sich Deutschland in Europa isolierte

Deutschland muss also über seinen Schatten springen, und das ist bekanntlich keine leichte Aufgabe. Mit seinem Wirtschaftsmodell und seiner Exportobsession hat sich Deutschland in Europa – nicht ganz zu Unrecht – isoliert. Dementsprechend beschränkte sich das hegemoniale Gebaren der Deutschen während der Eurokrise darauf, die Reste des Status quo – die Fiskalregeln – zu retten, während die übrigen Schlüsselprinzipien über Bord geworfen wurden.

Während der Russland-Krise scheiterte sodann der Glaube an die Prinzipien des Wandels durch Verflechtung, Annäherung oder Handel, mit denen Deutschland sein Potenzial am effizientesten einzusetzen glaubte – und die irgendwann auch zum Maßstab der europäischen Politik geworden waren. Dieses abrupte Ende des Status quo war für Berlin nicht leicht zu verkraften – umso mehr Bewunderung und Hochachtung verdient die Bundesregierung dafür, wie sie spätestens seit dem Sommer die europäische Einheit für eine entschlossene und verantwortungsvolle Politik gegenüber Russland und der Ukraine schuf.

Zu Recht hat Hans Kundnani im Magazin Foreign Affairs darauf hingewiesen, dass Deutschlands Westbindung heute zunehmend eine Frage der Wahl und nicht – wie im Kalten Krieg – eine Frage der Notwendigkeit ist. Das liegt nicht zuletzt an den starken ökonomischen Verbindungen mit außereuropäischen Mächten, allen voran mit China. Ob dieser Befund aber ausreicht, um die Gefahr einer Abwendung Berlins vom Westen sowie von den Vereinigten Staaten an die Wand zu malen, bleibt fraglich. Wichtiger scheint zu sein, ob Deutschland bereit ist, im post-amerikanischen Europa mehr Verantwortung zu übernehmen. Die jüngsten Erfahrungen in der Russland-Krise geben Hoffnung, dass Deutschland wieder zum change agent werden könnte – diesmal zum Nutzen seiner Nachbarn und Partner.

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