Die Chancen und das Machbare

Einen Gegensatz zwischen effektiver Volkswirtschaft und sozial gerechter Gesellschaft gibt es nicht. Warum wir im 21. Jahrhundert eine erneuerte Theorie der sozialden Demokratie und eine neue Politik der Solidarität brauchen

Historische Epochen haben die Eigenschaft, dass man ihre prägenden Merkmale erst dann wirklich erkennt, wenn sie unwiderruflich vorbei sind. Als in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts deutlich wurde, dass die Weltgesellschaft in eine neue Entwicklungsphase eintrat, suchte man in allen Ländern der Welt nach Bezeichnungen für die vergangenen drei Jahrzehnte: In Frankreich verfiel man auf Les trentes glorieuses (die glorreichen Dreißig), in England und Amerika setzte sich die Bezeichnung Golden age durch, während man in Deutschland (etwas unpräzise) vom "Wirtschaftswunder" sprach. Bezeichnet wurde damit überall eine historisch einmalige Phase wirtschaftlicher Prosperität, die den Menschen in den Industriegesellschaften ein bis dahin unbekanntes Ausmaß an Wohlstand beschert hatte. Ein UN-Bericht behauptete 1972: "Es gibt keinen Anlass zu bezweifeln, dass sich die dem Wachstum zugrunde liegenden Trends in den frühen und mittleren siebziger Jahren nicht auf die gleiche Weise fortsetzen sollten, wie sie es in den sechziger Jahren getan haben."

 

Schon ein Jahr später kam die Ölkrise und leitete den Niedergang des Goldenen Zeitalters ein. Zwischen 1950 und 1970 hatte sich die Industrieproduktion in den westlichen Ländern mehr als vervierfacht - zwischen 1980 und 2000 verdoppelte sie sich nicht einmal. Burkart Lutz sprach schon 1984 vom Ende des "kurzen Traums immerwährender Prosperität". Doch noch immer beherrscht das Denken der Boom-Dekaden unsere wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Vorstellungen. Die Ausnahme wird zum Normalfall erklärt, und die Erfolgsrezepte der Vergangenheit leiten das politische Denken und verstellen den Blick auf die notwendigen strukturellen Reformen.


Zu den wichtigsten Fragen der Gegenwart gehört die, wie sich unter den Bedingungen schrumpfender Verteilungszuwächse noch soziale Gerechtigkeit organisieren lässt. Diese Debatte ist nicht neu; sie dominiert schon seit den achtziger Jahren die politisch-feuilletonistische Diskussion. Neu ist der Aggregatzustand dieser Debatte, der sich zu einem Krisenabgesang entwickelt hat. Niedergang und Reformunfähigkeit des Staats sowie das Versagen der Politik sind die wichtigsten Struktur-werte der aktuellen Zeitdiagnose. Diese "schwarze Pädagogik", das ständige Bekenntnis: "Wir müssen uns ändern", wird parteipolitisch überwölbt zum Streit über die Gerechtigkeitsfrage, aus der, je nach politischer Couleur, eine Gerechtigkeitskasuistik als Instrument der politischen Auseinandersetzung entwickelt wird.

Die Bedingungen haben sich geändert

Das traditionelle Verständnis sozialer Gerechtigkeit ist unter dem Druck von Globalisierung, Aufbau Ost, Strukturkrise und andauernder Rezession an seine Grenzen gestoßen. Und das nicht nur finanziell, sondern auch in seiner Akzeptanz durch die Mehrheit der Menschen im Land. Eine Umfrage vom Februar 2003 stellte fest, dass nur noch vier Prozent der Deutschen die sozialen Sicherungssysteme für zukunftsfest halten, 40 Prozent sehen sie kurz vor dem Zusammenbruch, 56 Prozent halten sie für gefährdet. Umgekehrt gilt aber auch: Der Wohlfahrtsstaat war und ist eine der wichtigsten Errungenschaften der Bundesrepublik. Die Politik des sozialen Ausgleichs war jahrzehntelang ökonomisch und sozial sinnvoll. Dabei haben sich in Deutschland drei Bereiche wohlfahrtsstaatlicher Politik entwickelt: Sozialpolitik im Produktionsbereich, also die Regulierung von Arbeitsverhältnissen und die betriebliche Mitbestimmung; Sozialpolitik im Verteilungsbereich, also die Absicherung von Lebensrisiken wie Gesundheit, Pflege, Arbeitslosigkeit, Alter sowie Sozialpolitik im Reproduktionsbereich, also Bildung, Wohnungsversorgung et cetera.


Doch die Rahmenbedingungen für ein Gerechtigkeitsmanagement haben sich gründlich geändert. Die ursprüngliche Vision sozialer Gerechtigkeit sah vor, dass die oberen Etagen der Gesellschaft von ihrem Wohlstand abgeben, damit dieses Geld in ein funktionierendes Gemeinwesen investiert werden kann. Die direkte Fürsorge für die Ärmsten der Gesellschaft war, gemessen am Ausmaß der Umverteilung, der kleinste Ausgabeposten. Der Ausbau des deutschen Sozialstaats erfolgte in den fünfziger, sechziger und siebziger Jahren unter in der Wirtschaftsgeschichte einmaligen Bedingungen, zu denen eine wachsende Bevölkerung, ein überproportionales wirtschaftliches Wachstum und eine überdurchschnittliche internationale Wettbewerbsfähigkeit gehörten, die zudem durch Deutschlands technologische Spitzenstellung flankiert wurden.

 

Die Gesellschaft erwirtschaftete unter diesen Bedingungen Zuwächse, die ohne große Konflikte verteilt werden konnten. Der Bielefelder Soziologe Franz-Xaver Kaufmann hat gerade in einer beeindruckenden Studie über die Varianten des Wohlfahrtsstaats nachgewiesen, dass die Expansion des Sozialstaats zwischen 1960 und 1985 stets im Einklang mit dem Wirtschaftswachstum erfolgte. So stellten sich zwischen Wirtschafts- und Sozialpolitik Synergien ein: Durch soziale Umverteilung wurde die Kaufkraft der breiten Bevölkerung verbessert, was wiederum über die Binnenkonjunktur die Wirtschaft am Laufen hielt. Das war die Grundlage des Modells Deutschland, dessen Ende spätestens in den achtziger Jahren erreicht war. Das Wachstum stockte, die Sozialausgaben stiegen. Wirtschafts- und Sozialpolitik verloren ihre synergetische Verbindung. Eine Anspruchskultur etablierte sich, soziale Wohltaten wurden zu verbrieften Rechten. Der Standortwettbewerb um Steuern und Abgaben, personelle Ressourcen, technologische und infrastrukturelle Leistungsfähigkeit verschärfte sich. Der staatliche Ausgaben-Mix geriet aus dem Gleichgewicht. Immer mehr Geld fließt heute nicht in Investitionen, sondern in rein konsumtive Sozialtransfers. Die demografische Wende hin zu einer Gesellschaft der Alten, die in Deutschland unmittelbar bevorsteht, wird die alten sozialen Sicherungssysteme endgültig aus der Bahn werfen.

Ohne Investitionen keine Verteilung

Für Zukunftsinvestitionen, den Ausbau des Gemeinwesens, bleibt angesichts dieser Gemengelage wenig übrig: Schwimmbäder verfallen, Bibliotheken schließen, Behörden und Schulgebäude verrotten. Das Land erlebt eine Baisse und droht auf den internationalen Zukunftsmärkten den Anschluss zu verlieren.


Die Prämissen des bundesdeutschen Sozialstaates stimmen heute nicht mehr. Deswegen brauchen wir ein erneuertes Verständnis von sozialer Gerechtigkeit. Der deutsche Wohlfahrtsstaat benötigt neue Prinzipien, er darf sich ökonomischer Rationalität nicht länger verweigern. Wir dürfen nicht weiter darüber räsonieren, was wem unter momentanen Bedingungen zumutbar ist und welche Maßnahmen einen Einschnitt in jahrzehntelang als gesichert erscheinende Besitzstände darstellen, während der Staat angesichts immer neuer Schulden nicht mehr in der Lage ist, die infrastrukturellen Voraussetzungen für die Wirtschaft des 21. Jahrhunderts zu schaffen.


Wenn Gerechtigkeit auch in Zukunft ein gesellschaftlich akzeptierter Wert sein soll, muss unsere Gesellschaft heute damit beginnen, wieder massiv in die Zukunft zu investieren. Von Interesse können hier nicht die Märkte, Technologien und Sozialstaatstheorien des 19. Jahrhunderts sein, sondern die Anforderungen und Chancen des 21. Jahrhunderts. Erst durch Zukunftsinvestitionen entstehen auch neue Verteilungschancen. Das aber bedeutet: Dieses Land muss Innovationen schaffen, bevor Zuwächse verteilt werden. Und dazu muss die herrschende Verteilungslogik durch eine Investitionslogik ersetzt werden.

Die alten Konzepte sind gescheitert

Traditionell gibt es in Deutschland drei Gerechtigkeitsbegriffe, die den großen politischen Lagern zuzuordnen sind: Am einfachsten machen es sich die Konservativen. Für die ist gerecht, was schon immer so war. Oben ist oben und unten ist unten - und das soll auch tunlichst so bleiben. Der Liberalismus dagegen sieht jeden als seines eigenen Glückes Schmied. Vom Tellerwäscher zum Millionär oder, moderner, zum New-Economy-Star. Die Sozialdemokratie dagegen betonte stets den Wert der Gleichheit und des sozialen Ausgleichs, was manchmal zum Egalitarismus mutierte.


Letztlich sind alle drei Vorstellungen von Gerechtigkeit in ihrer bisherigen Konzeption gescheitert. "Die sozialdemokratische Theorie des Sozialstaats und der sozialen Gerechtigkeit muss neu formuliert werden", befand kürzlich Peter Glotz. Vor allem müssen die Sozialdemokraten akzeptieren, dass Gerechtigkeit und Gleichheit zwei verschiedene Paar Schuhe sind. Die mehr oder minder pauschale Gleichsetzung der beiden Begriffe hat zu Bürokratie, zu Gängelung und Lähmung geführt. Der Politikwissenschaftler Thomas Meyer hat das klar erkannt: "Dem Missverständnis eines platten Egalitarismus muss entgegengetreten werden ... Manchem fällt die politische Einsicht schwer, dass wir die Gleichheit umso eher erreichen können, je deutlicher wir machen, dass Gerechtigkeit neben notwendigen Gleichheiten auch die Anerkennung gerechter Ungleichheiten verlangt." Gleich können die Startchancen der einzelnen Menschen in der Gesellschaft sein, nicht jedoch die Endpunkte, wo sie ankommen. Es geht um eine Dynamisierung der Chancen, nicht um mechanisch-bürokratische Verteilungsinstrumente.


Mit einer solchen Wendung ist die Gerechtigkeitsdebatte übrigens wieder an ihrem Ausgangspunkt angekommen. Thomas von Aquin, ihr erster Theoretiker, verstand unter Gerechtigkeit, dass alle Gesellschaftsmitglieder im gleichen Maße Zugang zu den vorhandenen Ressourcen auf dem Markt haben und diese frei handeln können. Der Sozialhistoriker Jürgen Kocka meint, es sei wichtiger, "dass es allen besser geht, als dass die Unterschiede zwischen ihnen verringert werden. Ungleichheit auf hohem und wachsendem Gesamtniveau scheint mir menschenfreundlicher als Gleichheit auf tiefem, stagnierenden Niveau."

Solidarität muss neu begründet werden

Gerechtigkeit ist nur in gesellschaftlicher Solidarität möglich, denn sie entsteht nicht aus der invisible hand des Marktes, sondern bedarf des bewussten politischen Handelns. Es braucht also einen Grundkonsens aller Betroffenen darüber, was Gerechtigkeit ist und wie sie verwirklicht werden kann. Denn längst hat sich in der Gesellschaft ein organischer an Stelle eines mechanischen Solidaritätsbegriffes entwickelt, der aus gemeinsamen Lebensgrundlagen entstanden ist. Solidarität heißt heute "Verbundenheit trotz Differenzen, Verbundenheit in der Differenz". Wenn aber wachsende Teile der Gesellschaft die Umverteilung im Namen der Gerechtigkeit als ungerecht empfinden und ganze Alterskohorten von einem sinnvollen Leben ausgeschlossen werden, wird es für die Akzeptanz der gesellschaftlichen Ordnung langsam brenzlig. Soziale Demokratie und Gerechtigkeit sind mehr als die Summe aller Sozialtransfers. Sie bedürfen einer immer wieder erneuerten gesellschaftlichen Vereinbarung darüber, wie man das gute Leben für möglichst viele Menschen sicherstellt.

Damit die Toilettenspülung funktioniert

Und diesem Gesellschaftsvertrag dürfen nicht nur die Nehmenden zustimmen, er erfordert auch die Akzeptanz der Gebenden. "Zur Idee der Kooperation", schreibt John Rawls in Gerechtigkeit als Fairness, "gehört auch die Idee der fairen Modalitäten der Zusammenarbeit ... Alle die gemäß den Forderungen der anerkannten Regeln ihren Beitrag leisten, sollten einem öffentlichen und übereinstimmend bejahten Maßstab entsprechend ihren Nutzen genießen." Für manche Leute bei uns fällt diese Rechnung ziemlich schlecht aus. Schon jetzt bringt ein Achtel der Bevölkerung gut die Hälfte der direkten Steuern auf. Olaf Scholz hat Recht, wenn er fordert: "Wer Steuern zahlt, muss erwarten können, dass in der Schule seiner Kinder die Toilettenspülung funktioniert; wer Steuern zahlt, erwartet zu Recht, dass staatliche Bildungsangebote brauchbare Kenntnisse und neue Chancen vermitteln. Wenn aus Einsicht und Überzeugung gewährte Solidarität missbraucht oder überfordert wird, dann wird diese Solidarität irgendwann nicht mehr gewährt. Immer wieder die Bedingungen dafür herzustellen, dass die Mitte zur Solidarität bereit und fähig bleibt, ist eine Schlüsselbedingung der zukünftigen Mehrheitsfähigkeit unserer Partei."

Sechs Punkte für mehr Gerechtigkeit

Die neue Gerechtigkeitspolitik muss also anders sein, als die traditionelle es war. Als gerecht soll künftig gelten, was Menschen in die Lage versetzt, ihr Leben so zu gestalten, wie sie es selbst gerne führen möchten. Dazu müssen wir eine Kultur der Eigenverantwortung etablieren, die es erlaubt, die individuelle Biografie selbstverantwortlich zu entwickeln, die Qualifikationen zur Gestaltung des eigenen Lebens zur Verfügung stellt. Das ist ein substanzieller Unterschied zu alten Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit.


Erstens muss Gerechtigkeitspolitik stärker auf die Gleichstellung der Geschlechter achten. Der Anteil von Frauen an der Erwerbsbevölkerung insgesamt und vor allem in Führungspositionen muss wachsen. Auch die Sozialsysteme dürfen sich nicht länger am Leitbild des männlichen Industriearbeiters orientieren. Hierzu nur ein statistisches Faktum: Die Renten von so genannten Hausfrauenehen sind heute beinahe genauso hoch, wie die von Alleinstehenden, während Doppelverdienerpaare wesentlich mehr bekommen. Das ist eine ökonomische Aufforderung zum "Bowling alone" (Robert Putnam), zum Verzicht auf Kinder.
Zweitens muss die neue Gerechtigkeitspolitik die Prinzipien der Nachhaltigkeit und des intergenerativen Ausgleichs endlich ernst nehmen. Es wächst das Bewusstsein, dass die Gegenwart nicht auf Kosten der Zukunft, die heutige Generation einschließlich der Alten nicht auf Kosten der Kinder und Enkelkinder leben darf. Die bislang praktizierte Indifferenz gegenüber den nachwachsenden Jahrgängen drückt sich vor allem in der immer weiter wachsenden öffentlichen Verschuldung aus, die für unsere Kinder und Kindeskinder eine kaum zu tragende Hypothek darstellt. Und es ist notwendig, eine ehrliche Diskussion über den Leistungsbegriff zu führen, das gilt zentral auch für die Frage des Umgangs mit Leistungs- und Erbeneliten. "Definitionen sozialer Gerechtigkeit", schreibt Jürgen Kocka, "ohne solche intergenerationelle Komponente verdienen die Bezeichnung nicht, sind vielmehr generationsegoistische Mogelpackungen."


Zu einer Politik des nachhaltigen Wirtschaftens zählt aber auch der schonende Umgang mit der Umwelt und den ökonomischen Ressourcen. Die öffentlichen Haushalte müssten nach dieser Logik weniger Anteile für Sozialtransfers und industriellen Raubbau an der Natur vorsehen, dafür umso mehr Geld für Zukunftsinvestitionen. Ein heute etwas aus der Mode gekommener Theoretiker namens Karl Marx forderte schon vor hundertdreißig Jahren: "Selbst eine Gesellschaft, eine Nation, ja alle gleichzeitigen Gesellschaften zusammengenommen, sind nicht Eigentümer der Erde. Sie sind nur ihre Besitzer, ihre Nutznießer, und haben sie als boni patres den nachfolgenden Generationen verbessert zu hinterlassen."

Wer drin ist, bekommt alles

Drittens darf sich Gerechtigkeitspolitik nicht mehr entlang der Scheidelinie von Arbeitsplatzbesitzern und Arbeitslosen bewegen. Hier müssen die Gewerkschaften ihre Rolle neu definieren. "Nach einem Grundsatz, der in Deutschland als sozial gilt, wird die Sicherheit der einen mit der Unsicherheit der anderen erkauft. Wer drin ist, bekommt alles, die Lohnfortzahlung, das Weihnachtsgeld, den Versicherungsschutz und was das deutsche Arbeitsrecht an Freundlichkeiten sonst noch kennt; wer draußen steht, bekommt nichts", stellte der Publizist Konrad Adam im Merkur fest. Die Alternative kann nicht lauten: Sekt für die einen und Selters für die anderen, sondern Fassbrause für alle. Gerecht wäre es, die vorhandene Arbeit so zu verteilen, dass alle an ihr teilhaben können - und im Falle des Arbeitsplatzverlusts die Sicherheit haben, wieder eine andere Arbeit finden zu können. Dies setzt eine Flexibilisierung des Arbeitsmarktes und der Arbeitsvermittlung voraus. Auch sind die deutschen Sozialversicherungssysteme - im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern - einseitig auf die Honorierung von Erwerbsarbeit ausgerichtet. Für eine Gesellschaft, die nicht mehr genügend Arbeit für alle bereitstellen kann, impliziert dies ein enormes Exklusionspotenzial.


Viertens hat Gerechtigkeit auch eine globale Dimension. Heute lebt fast die Hälfte der Menschen von weniger als zwei Euro pro Tag. 815 Millionen Menschen sind unterernährt und über 325 Millionen Kinder besuchen keine Schule. Gleichzeitig geben allein die US-Amerikaner jedes Jahr acht Milliarden Dollar für Kosmetik aus. Die Vereinten Nationen schätzen, dass man nur eine Milliarde mehr bräuchte, um allen Menschen dieser Welt Zugang zu sauberem Trinkwasser zu verschaffen. Globale Gerechtigkeit, das hieße auch, überall auf der Welt Arbeitsschutzstandards durchzusetzen und die Entwicklungsländer bei internationalen Abkommen nicht regelmäßig übers Ohr zu hauen.

Gebraucht werden, sinnvolle Dinge tun

Fünftens müssen im Rahmen einer Gerechtigkeitspolitik neue Garanten für gesellschaftliche Inklusion entwickelt und ausgebaut werden. "Die Zukunft des europäischen Sozialmodells hängt weit weniger davon ab, ob weiterhin beispielsweise eine ganz bestimmte Rentenhöhe eingehalten werden kann, als davon, ob es gelingt, effektive Mittel gegen die wachsende soziale Exklusion zu mobilisieren", sagt Olaf Scholz. Das trifft den Kern des Problems. Denn Menschen werden nicht durch Transferzahlungen glücklich, sondern durch das Gefühl, gebraucht zu werden und sinnvolle Dinge zu tun. Wenn wir davon ausgehen müssen, dass nicht mehr genug Erwerbsarbeit für alle vorhanden ist, müssen wir - neben dem Kampf für mehr Beschäftigung - andere Mechanismen finden, um die Menschen in die Gemeinschaft zu integrieren. Der Schlüssel hierzu liegt vor allem aber im Bereich des bürgerschaftlichen Engagements. Wir müssen die ehrenamtliche und gemeinnützige Tätigkeit der Erwerbsarbeit kulturell und sozial gleich stellen, engagierte Mitbürger belohnen und untätige aktivieren.


Der sechste und letzte Punkt ist die Qualifizierung. Qualifizierungspolitik wird in Zukunft die wichtigste Baustelle der neuen Gerechtigkeitspolitik sein. Chancengleichheit war einmal das zentrale bildungspolitische Ziel der alten Gerechtigkeitspolitik. Auch Kindern aus Arbeiter- oder Migrantenfamilien sollte endlich der Weg in die oberen Etagen der Gesellschaft geöffnet werden. Klaus von Dohnanyi, damals als Bildungsminister im Kabinett von Willy Brandt für die Bildungsreformen zuständig, resümiert heute ernüchtert: "Was die Chancengleichheit angeht haben wir viel zu wenig erreicht, viel zu wenig. Wenn wir ehrlich sind, müssen wir feststellen: Wir haben drei Jahrzehnte ungenutzt verstreichen lassen." Die nackten Zahlen sind tatsächlich ernüchternd: Von 100 Kindern aus der Oberschicht gehen heute 84 aufs Gymnasium und danach 72 zur Universität. Aus den unteren Schichten werden nur ganze 33 auf die höhere Schule geschickt. An eine Universität schaffen es gerade noch acht, wie die sozialwissenschaftliche Zeitschrift vorgänge jüngst nachwies.

Der Mythos von den Leistungseliten

Der Soziologe Michael Hartmann hat in einer im Jahr 2001 veröffentlichten Langzeitstudie (Der Mythos von den Leistungseliten) die Berufskarrieren von insgesamt 6.500 Ingenieuren, Juristen und Ökonomen mit Doktortitel untersucht, die in den Jahren 1955, 1965, 1975 und 1985 promoviert wurden. Sein Fazit: Vier Fünftel der Topmanager, rund sechzig Prozent der hohen Richter und Beamten und gut die Hälfte der bundesdeutschen Professoren stammen aus dem Bürgertum, das heißt den oberen 3,5 Prozent der Gesellschaft. Fast jeder zweite Spitzenmanager entstammt sogar dem Großbürgertum, das nur ein halbes Prozent der Gesamtgesellschaft ausmacht. Dabei sind sich alle Experten einig, dass es nicht das erhöhte Leistungsvermögen dieser Gruppen ist, das sie in die gesellschaftlichen Führungspositionen katapultiert, sondern ihre soziale Herkunft und die damit verbundenen Privilegien.

Benachteiligte werden benachteiligt

"Kein Bildungssystem benachteiligt die Benachteiligten und bevorzugt die Bevorzugten so stark wie das deutsche", stellt der Soziologe Walter Müller fest. In der Tat leistet sich kein anderes europäisches Land eine so frühe Selektion von Jahrgängen in angehende Professoren und Maurergehilfen, wie Deutschland mit seiner überkommenen Trennung von Gymnasium, Haupt- und Realschule. Institutionen wie die Kinder für immer stigmatisierende Sonderschule sind in unseren Nachbarländern ebenfalls weithin unbekannt. Wer Ungerechtigkeit in dieser Gesellschaft beseitigen will, soll und muss mit dem Bildungssystem anfangen und endlich moderne Reformen auf den Weg bringen. Hier ist - außer im Hochschulbereich - in den letzen fünfzig Jahren nichts Substanzielles passiert. Jetzt müssen wir uns endlich trauen, ein paar Ladenhüter über Bord zu werfen. "Deutschland hat sich in den vergangenen Jahrzehnten stärker darauf konzentriert den sozialen Abstieg zu verhindern, als den Aufstieg zu ermöglichen", sagt die Wirtschaftsjournalistin Elisabeth Niejahr.

 

 

Damit muss Schluss sein. Nicht nur, weil Chancengleichheit ein Gebot der Gerechtigkeit ist, sondern weil individuelle Aufstiegsutopien auch der Motor für gesellschaftliche Dynamik und wirtschaftliches Wachstum sind. Nicht von ungefähr postuliert Jürgen Kluge von McKinsey Deutschland: "Bildungsarmut erzeugt Wachstumsarmut". Und der Politikwissenschaftler Thomas Meyer fordert: "Wir müssen zu einem Bildungssystem kommen, das jede einzelne Begabung ernst nimmt und individuell fördert, das keine Abschiebeschulen mehr kennt, die jenen Rest auffangen sollen, der übrig bleibt, wenn nach verfrühter Auslese die leistungsstärksten aussortiert sind. Jede individuelle Begabung intensiv zu fördern verlangt einen frühen Bildungsbeginn, es verlangt Ganztagsschulen für alle, lebenslange Bildungs- und Weiterbildungsangebote in öffentlicher Verantwortung. Die List der Vernunft sorgt dafür, dass die hohen Kosten der Investitionen, die das erfordert, am Ende nicht nur dem Einzelnen, sondern der ganzen Gesellschaft zugute kommen. Die Ökonomie der Wissensgesellschaft und die Finanzgrundlagen des Sozialstaats können keine einzige Begabung entbehren." Dem ist wenig hinzuzufügen.

Wann kommt der Paradigmenwechsel?

Was zu tun ist, wissen wir bereits seit langem. Wir müssen weg von einem bürokratisch verteilenden, hin zu einem aktivierenden und unterstützenden Staat. Wir brauchen Spielräume für Zukunftsinvestitionen. Vor allem aber müssen wir lernen, Ungleichheiten zu akzeptieren, und trotzdem versuchen, mehr Gleichheit herzustellen. Wir müssen die Begabungen, die Stärken und die Verantwortung der Menschen zur Geltung bringen, damit sie in Freiheit leben können. Denn der höchste Wert des gerechten Staates ist es, die Freiheit von Ausgrenzung, Ausbeutung und Armut sicherzustellen und gleichzeitig die Freiheit zur Verwirklichung der eigenen Lebensziele in einem solidarischen Gemeinwesen zu fördern. Wir müssen dafür arbeiten, den kommenden Generationen ein wirtschaftlich und sozial starkes Land zu übergeben. Eine Gerechtigkeitspolitik gegen die Ökonomie kann und wird es nicht geben können. Denn es gibt keinen Gegensatz zwischen einer effektiven Volkswirtschaft und einer sozial gerechten Gesellschaft. Wer die Wettbewerbsfähigkeit einer Gesellschaft vernachlässigt, verspielt auch ihre Fähigkeiten zu sozialem Ausgleich und sozialer Balance.


Um dies alles in Einklang zu bringen, braucht die politische Debatte eine erneuerte Theorie sozialer Demokratie. Mit der Transformation des Sozialstaats wird eine Transformation der Sozialdemokratie verbunden sein. Gerade der sozialdemokratische Gerechtigkeitsdiskurs braucht, um politikfähig zu sein, eine neue Gerechtigkeitstheorie jenseits des Verteilungsstaates. Die Debatte um die Agenda 2010 hat dies nachdrücklich belegt. Dabei müssen neue Synergien zwischen wirtschaftlicher Dynamik und einer Politik der sozialen Inklusion entwickelt werden. Die Multioptionsgesellschaft heutiger Prägung, die kein Kontinuum zwischen Beruf, Familie, Milieu, Klasse und Religion mehr bietet, braucht einen Sozialstaat, der die Flexicurity fördert, der einen dynamischen Sicherheitsbegriff entwickelt und vor allem eine Kultur zweiter Chancen ermöglicht.

Alte Ziele, neue Instrumente

Die "modernen" Wissensgesellschafter sind Transformationsgesellschafter, in deren Biografien sich die traditionellen Grenzen verflüchtigen: Zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmeridentität, zwischen Arbeit und Privatem, zwischen Geschlechterrollen, zwischen Lebens- und Altersabschnitten, zwischen Selbstverantwortung und Solidarität. Die Gesellschaft wird dadurch unübersichtlicher, komplexer und dynamischer. Das bedeutet potenziell mehr Freiheit, aber auch mehr Risiko. Dafür eine "neue" Balance zu entwickeln, die Sozialinklusion ermöglicht und gleiche Startchancen für alle garantiert das ist die "neue" soziale Frage. Die Forderung nach mehr Gleichheit war in der frühen Industriegesellschaft ebenso legitim, wie die Forderung nach mehr sozialem Ausgleich. Die SPD muss nicht alle Traditionen über Bord werfen, sie muss sich nur darauf besinnen, was der Kern ihrer Programmatik ist. Klar muss der Sozialdemokratie aber auch sein, dass dieses Ziel nicht mehr mit den klassischen Instrumenten zu erreichen ist. Gefragt sind in der deutschen Politik in der gegenwärtigen Situation neue strategische Innovationsallianzen, neue Akteurskonstellationen, die mit kühlem Blick die Chancen und das Machbare neu vermessen.

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