Die Bonsai-Bundeswehr

Zweihundert Jahre nach den Heeresreformen der Generäle Scharnhorst und Gneisenau sind die deutschen Streitkräfte unter die Wahrnehmungsschwelle der Öffentlichkeit gerutscht. Das ist höchst bedauerlich, denn dringend notwendig ist die Debatte darüber, welcher Ausrüstung und Strategie die Bundeswehr im 21. Jahrhundert bedarf. Nicht die weitere Verzwergung der gesamten Universalarmee ist sinnvoll, sondern gezielte Spezialisierung sowie Kooperation mit Nachbarn und Bündnispartnern.

Journalisten sind nicht immer zuverlässige Gradmesser für Veränderungen des öffentlichen Bewusstseins. Aber oft prägen sie eben doch, weil das ihr Beruf ist, die Agenda der Öffentlichkeit mit. Ist ein Thema wichtig oder unwichtig? Sollte groß oder klein darüber berichtet werden? Oder besser gar nicht?

In den langen Monaten des Wartens auf die jüngste Bundeswehrreform, die als großartige Ankündigung von Karl-Theodor zu Guttenberg an Thomas de Maizière vererbt worden war, ging es in den Medien um das Schicksal des Segelschulschiffs Gorch Fock, um Verkabelungsprobleme in neuen Hubschraubern und die Nachwuchsgewinnung ohne Wehrpflicht. Aber nichts war zu lesen über ein Thema, das von herausragender Wichtigkeit für das künftige Wesen unserer Streitkräfte sein würde: die Strukturreform des Heeres. „Klingt interessant“, sagten die Freundlichgesonnenen. „Glauben Sie, dass unsere Leser das interessiert?“ fragten andere zurück. Und so gab es schlicht gar keine Berichterstattung zu der „speziellen“ Frage, ob die Bundeswehr künftig eine reine Expeditionsarmee für internationale Einsätze wie auf dem Balkan oder in Afghanistan werden oder weiterhin wenigstens im Ansatz auch zur Verteidigung an den Außengrenzen des eigenen Landes oder des Bündnisgebietes fähig sein sollte.

In die Expeditionsrichtung wies ein damals bei den Bundeswehrplanern hochumstrittenes Heeresmodell, das als „modularer“ Ansatz bezeichnet wurde. Die organische Zusammenfassung von Infanterie-, Panzer-, Aufklärungs-, Pionier-, Fernmelde- und Versorgungsbataillonen in Brigaden und diese wiederum in Divisionen mit eigenen Divisionstruppen war hier nicht mehr vorgesehen. Damit hätte das gerade noch 60 000 Soldaten starke deutsche Heer seine selbstständige Operationsfähigkeit vollständig eingebüßt. Es wäre zur reinen toolbox, zum Werkzeugkasten für das Zusammenbasteln multinationaler Friedenstruppen auf UN-Truppenstellerkonferenzen geworden. Weil Landes- und Bündnisverteidigung gegenwärtig keine „wahrscheinlichen“ Einsatzszenarien mehr darstellen, fand die Radikalität des Modulmodells erstaunlich viele Freunde. Denn zweifellos erfüllte diese Reformvariante einen Hauptzweck der ganzen Veranstaltung: Sie sparte Personal, Ressourcen, Geld. Und den Grundgesetzauftrag nach Artikel 87a – „Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf.“ – sparten die Organisationsspezialisten gleich mit ein.

Dem Zivilen ist das Militärische sehr fremd geworden

Aber kein Wort davon in den Medien. Zweihundert Jahre nach den für die Bundeswehr traditionsbildenden Heeresreformen der preußischen Generale Scharnhorst und Gneisenau, die damals unter anderem die Wehrpflicht einführten, war die Frage, was für Landstreitkräfte Deutschland künftig haben solle, unter die Wahrnehmungsschwelle der Öffentlichkeit gerutscht. Eine Institution, die untrennbar mit der Geschichte der Nation verbunden war, hatte aufgehört wichtig zu sein.

Als soziale Formation war das (preußisch-)deutsche Heer über lange Zeit mit prägend für die deutsche Gesellschaft gewesen – und lange Zeit auch ganz bestimmt prägender als ihr gut tat. Der Militarismus des Kaiserreichs und die Menschheitskatastrophe des Ersten Weltkrieges, der Staat-im-Staate-Revisionismus der Reichswehr, die Aufrüstung der Wehrmacht zum Angriffsinstrument im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie, die militärische Besetzung fast ganz Europas durch deutsche Truppen, der Holocaust im Schatten dieser Macht und die Teilung Deutschlands, Europas und der Welt als Ergebnis des Zweiten Weltkrieges: Diese ungeheuerliche Militärgeschichte der Deutschen scheint heute nur noch im Plusquamperfekt zu existieren, vollendete Vergangenheit, vorbei, vergessen, egal. Die eigene Tradition der fünfeinhalb Jahrzehnte alten Bundeswehr liegt wohltuend zwischen damals und jetzt, ein Puffer, der nun auch langsam seine Funktion verliert. Fremde Heere bedrohen uns nicht. Wir leben im Frieden.

Dem Zivilen ist das Militärische inzwischen sehr fremd geworden. Die Attitüde der Öffentlichkeit scheint zu lauten: Macht, was ihr wollt, aber verschont uns mit Details! Das bisschen Heer, das noch bleibt, mag sich reformieren, wie es will. Die Bundeswehr genießt beinah grenzenloses Vertrauen. Deshalb erschien die Heeresreform 2011 nur als Detail einer weiteren Bundeswehrreduzierung, nicht interessant, kein Thema.

Es blieb dann übrigens doch bei der Gliederung in Brigaden und Divisionen, nur eben weniger, acht statt zwölf Brigaden (alte Bundeswehr 1989: 36), drei statt fünf Divisionen. Damit sind die gesamtdeutschen Landstreitkräfte jetzt kleiner als das 100 000-Mann-Heer der Reichswehr in der Weimarer Republik oder der Heeresanteil (120 000 Soldaten) der Nationalen Volksarmee der DDR. Aber natürlich geht es heute um ganz andere Fähigkeiten, und die Zeiten haben sich gewandelt, radikal.

Das Weißbuch 1975/76 zeigt auf Seite 91 eine Karte Westdeutschlands, die sehr anschaulich die Gefechtsstreifen der deutschen und der alliierten Bodentruppen im Falle des Dritten Weltkrieges darstellt, nach Nationen sortiert. Es beginnt im Norden: Dänemark/Deutschland (Korps Landjut), Niederlande, Deutschland (I. Korps), USA, USA, Kanada, Deutschland (III. Korps), Großbritannien, Belgien, Deutschland (II. Korps). Erläuternd heißt es zu der Karte: „Das Heer verteidigt mit seinen der Nato unterstellten Verbänden grenznah die ihm zugewiesenen Gefechtsstreifen, Schulter an Schulter mit seinen Verbündeten.“ Die Blickrichtung ist klar: Osten. Das Bündnis steht: eine halbe Million Bundeswehrsoldaten, dazu genau so viele hier stationierte Alliierte; Verstärkungen werden anrollen, sobald der Kampf beginnt. Der Auftrag ist eindeutig: Landesverteidigung als Bündnisverteidigung entlang der innerdeutschen Grenze und der anderen Grenzen zum Warschauer Pakt. Nüchtern beschreibt das Weißbuch das wahrscheinlichste Einsatzszenario, die Vorneverteidigung im Ost-West-Krieg: „Das Heer ist im Frieden mit stets präsenten Kampfverbänden auch gegen einen Überraschungsangriff gewappnet. Die von Mobilmachung abhängigen Teile des Heeres sind mit Masse binnen dreier Tage einsatzbereit.“

Beinahe alles hat sich für die Bundeswehr verändert

In dieser Zeit, in den siebziger und achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts, sind viele Berufsoffiziere und Berufsunteroffiziere, die heute die Führung, das Gedächtnis und das Rückgrat der Bundeswehr bilden, Soldat geworden. Für sie war die Verhinderung des großen Krieges der Ernstfall. Wenn der Kalte Krieg heiß geworden wäre, hätten sie aus ihren Kasernen heraus Bereitstellungsräume und Stellungen bezogen, die bereits erkundet und vorbereitet waren. Das wurde, so unvorstellbar es auch sein mochte, immer wieder geübt. An einen anderen Einsatz dachte niemand.

Und doch stand im Weißbuch 1975/76 ein Satz, der sich heute ganz normal liest, aber damals arg theoretisch klang: „In internationalen Krisen entscheidet die politische Führung von Fall zu Fall, ob Verbände des Heeres außerhalb des Bundesgebietes eingesetzt werden, zum Beispiel als Teil multinationaler Eingreifverbände der Nato.“

Einen weiten Weg ist die Bundeswehr seit Ende der achtziger Jahre, seit Ende des Kalten Krieges gegangen. Beinah alles hat sich verändert: Der Umfang schrumpft und schrumpft; ständig wird reformiert, umstrukturiert und neustationiert; der wahrscheinlichste Einsatz ist der am – gefühlten – anderen Ende der Welt; deutsche Soldaten sollen möglichst nicht töten und nicht getötet werden, aber mit der Waffe in der Hand jegliche Gewalttätigkeit unterbinden; die Wehrpflicht hat ausgedient; und statt in Nato-Oliv tarnt sich die Truppe heute in zig unterschiedlichen Uniform-Outfits. Dazu Outsourcing, Privatisierung und Automatisierung, um alles noch komplizierter zu machen. Und die Öffentlichkeit will mit den stets wechselnden Wehrdetails möglichst nicht behelligt werden. In dieser als Dauerkrise empfundenen Dauerreform suchen viele Soldaten nach dem neuen archimedischen Punkt, nach neuer Sicherheit in einem sich fundamental verändernden Organisationsumfeld. Deutsche Interessen? Die große Strategie? Was bleibt, wenn alles fließt?

Das Ende der Identität von Landesverteidigung und Bündnissolidarität trifft das deutsche Militär besonders hart. Während etwa Briten, Franzosen und Amerikaner immer auch nationale Sonderinteressen außerhalb der Nato in aller Welt verfolgten, war die Bundesrepublik (und ebenso die DDR) ganz auf den entsetzlichen Krieg in Deutschland fixiert. Alle relevanten Kräfte waren in die nordatlantische Kommandostruktur eingegliedert. Die Bundeswehr stellte nichts anderes dar als eine reine Nato-Bündnisarmee. Damit war sie gewissermaßen einzigartig internationalisiert. Das ist vorbei.

„Wir. Dienen. Deutschland.“ Klingt schön. Doch etwas ist gründlich schief gegangen

Unsicherheit über die Zukunft des eigenen Arbeitgebers verursacht Stress. Ständiges Umorganisieren und Umziehen verunsichert die Beschäftigten. Die kontinuierliche Verkleinerung der Belegschaft weckt Ängste. Gleichzeitig steigt der Leistungsdruck. Mängel in der Ausbildung und Fehler bei der Arbeit können tödlich sein. Monatelange Abwesenheit von zu Hause wird zum Regelfall. Darüber, was man eigentlich tut und wie es einem geht, kann man kaum reden – es versteht doch niemand. In Familien breitet sich Frust aus. Wozu das alles? Kann es so weitergehen?

Ein Arbeitgeber, über den in dieser Weise gedacht und geredet würde, hätte ein Problem. Nun ist die Bundeswehr nicht irgendeine Firma, sondern sie vertritt das staatliche Gewaltmonopol nach außen. Dort arbeitet man nicht, man dient. Eine aktuelle Werbekampagne des Verteidigungsministeriums versucht den Stolz auf dieses besondere Verhältnis zum eigenen Land in einen knappen Slogan zu fassen: „Wir. Dienen. Deutschland.“ Klingt schön.

Und doch kann die pathetische Rhetorik nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier in zwei Jahrzehnten etwas gründlich schief gegangen ist. Eine wachsende Verunsicherung über alle Grundlagen des Soldatenberufs verstört die Älteren. Und die Jüngeren werden in dieses innere Unbehagen an der Bundeswehr gleich hineinsozialisiert.

Kurz vor Bekanntgabe der Stationierungsentscheidungen zur neuesten Strukturreform im Oktober 2011 schlug der Vorsitzende des Bundeswehrverbandes, Ulrich Kirsch, in so drastischen Worten Alarm, wie man sie bisher von der kritischloyalen Soldatengewerkschaft noch nicht gehört hatte: „Der Dienst in der Bundeswehr ist zu einem Dauerprovisorium geworden“, stellte Kirsch fest. Die Streitkräfte erlebten eine „nie dagewesene Belastungsprobe“, viel Vertrauen sei verloren gegangen, viele Soldaten überlegten, ob sie der Truppe den Rücken kehren sollten. Als Zusammenfassung für seine Zustandsdiagnose wählte der Verbandsvorsitzende einen Begriff aus dem Bereich der Medizin: „Burnout“.

Dieses Gefühl des Ausgebranntseins hat objektive Ursachen. Für ein einzelnes Berufsleben gab es zu viel Vor und Zurück in den Strukturen, zu widersprüchliche Aufträge („schützen und kämpfen“), zu viele als Verschlechterung wahrgenommene Einschnitte. Planbarkeit, eine Grundkonstante soldatischen Denkens, gab es jedenfalls für den eigenen Berufsweg – und damit auch für die Vereinbarkeit von Dienst und Familienleben – immer weniger.

Eine Flugabwehrraketengruppe wird von Nordniedersachsen nach Nordfriesland verlegt und erfährt sechs Jahre später dort von ihrer Auflösung. Eine Heeresschule zieht als letzte Großverlegung der Struck-Transformation 2010 von Rendsburg nach Munster – und wird als erste Maßnahme der de-Maizière-Reform zum 1. Januar 2012 dort aufgelöst. Der große Kieler Marinestützpunkt war 2002 so gut wie leergeräumt und stand vor der Privatisierung. Mit der Reform von 2004 kamen wieder 25 Schiffe und Boote in den Tirpitzhafen. Jetzt soll zur Abwechslung deren Zahl halbiert werden.

Diese Art der Operationsführung hinterlässt Ruinen

So sorgen die Organisationsspezialisten in den Führungsstäben für ständig neue Lagen, beinah jeder Minister darf eine eigene Reformrunde drehen. Die Bundeswehr bleibt in Bewegung. Und als sei dies ihr eigentlicher Gefechtsdienst, vernichtet der Umstationierungswahn immer aufs Neue Milliarden-Investitionswerte. Was an der einen Stelle jüngst gebaut und modernisiert wurde, wird mit dem Umzug nun an anderer Stelle neu errichtet und gerade noch rechtzeitig bezogen, bevor der Auflösungsbefehl kommt. Zynisch könnte man sagen: Auch diese Art der Operationsführung hinterlässt Ruinen.

Die Dauerreform verursacht Dauerstress. Parallel wird umstrukturiert, umstationiert und reduziert – und dies bei laufenden Einsätzen, die seit Jahren kontinuierlich 7000 Soldaten im Ausland gleichzeitig und noch einmal doppelt so viele im Inland binden. Dazu kommen die mäßig sinnvollen „Standby“-Verpflichtungen für die „Nato Response Force“ (NRF) und die „EU-Battle-Groups“ (EUBG).

Der permanente Strukturwandel ist für die Bundeswehr nichts Neues, aber die Rasanz nimmt zu, und die Reserven nehmen ab. 1979 war im Weißbuch die Rede von der Entwicklung einer neuen „Heeresstruktur 4“, was auf drei Vorgängermodelle in den 23 Jahren davor verweist. Inzwischen gehen die Nummern und die Namen aus. Man erinnert sich aus neuerer Zeit an den zuversichtlichen Begriff „Heer der Zukunft“ und an das „Neue Heer“, beides Chiffren der Modernität im neuen Jahrtausend. Für das übriggebliebene de-Maizière-Heer gibt es nun keinen neuen Namen mehr.

Verglichen mit der Aufgabe, die dem ersten Wehrminister der ersten deutschen Republik, dem sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Gustav Noske zwischen 1918 und 1920, gestellt war, nehmen sich alle heutigen Reformprobleme harmlos aus. Der zu seiner Zeit wie auch in der Geschichte umstrittene Noske, der sich im Rückblick ein bisschen ungerecht beurteilt fühlt, listet in seinen Lebenserinnerungen die Aufgaben auf, die er nach Weltkrieg und Revolution in weniger als anderthalb Amtsjahren zu bewältigen hatte: Demobilisierung der acht Millionen Soldaten des Kriegsheeres und Konversion der kaiserlichen Rüstungsbetriebe, Auflösung von sieben Kriegsministerien in den Ländern und Etablierung eines neuen demokratischen Wehrministeriums für das Reich, Organisation einer dem Versailler Vertrag entsprechenden kleinen Reichswehr, Bekämpfung von gewaltsamen antirepublikanischen Umsturzversuchen im Innern, Verhinderung der Sezession von Reichsteilen, notstandsmäßige Sicherstellung der Versorgung für die Bevölkerung beim Generalstreik, Rückführung meuternder deutscher Truppen aus dem Baltikum, Regelung des Pensionswesens.

Unter heutigen Bedingungen ist die schrittweise Reduzierung des Streitkräfteumfangs über mehr als zweieinhalb Jahrzehnte von 500 000 auf 175 000 und der Zahl der Zivilbeschäftigten von 180 000 auf 55 000 eine große, aber überschaubare Aufgabe. Was jedoch die Schrumpfung für die Betroffenen so schmerzhaft macht, ist das erratische Hin und Her, sind die Phrasen der „Perfektionierung“ von Organigrammen – die fünf Jahre später von noch perfekteren, nun aber auch endgültig dauerhaften Strukturen abgelöst werden, in scheinbar immer schnellerer Folge. Das Umorganisiertwerden entwickelt sich zum Daseinszweck. Dabei tritt jede ministerielle Entscheidung im Gewand des Sachzwangs, der kühlen Objektivität notwendiger Veränderung auf.

Die Ausplanungsweisungen entziehen sich der parlamentarischen Diskussion. Der Minister entscheidet. Das ist das Recht der Exekutive in ihrem ureigenen Bereich. Aber die Minister wechseln auch oft, seit 1990 waren es acht: Stoltenberg (CDU), Scholz (CDU), Rühe (CDU), Scharping (SPD), Struck (SPD), Jung (CDU), zu Guttenberg (CSU), de Maizière (CDU). Im Schnitt halten sie sich kaum drei Jahre im Amt.

Drei Großreformen innerhalb von zehn Jahren – 2001, 2004 und 2011 – verlangen der zu reformierenden Organisation eine Menge ab. Rudolf Scharping hatte 2001 Lehren aus den Balkaneinsätzen verarbeitet und auf die Haushaltsknappheit reagieren müssen. Peter Strucks Werk sollte 2004 den Anforderungen des Antiterrorkampfes gerecht werden und die Budgetprobleme verringern. Und als Karl-Theodor zu Guttenberg sich 2010 als Bundeswehrreformer vorstellte, erklärte er von vornherein die verfassungsmäßige Schuldenbremse zum „höchsten strategischen Parameter“ der erneuten Schrumpfkur; von einer sicherheitspolitischen Lageveränderung war gar nicht erst die Rede.

Dabei hätte es nahegelegen, den neuerlichen Totalumbau schon von Beginn an mit den europäischen Bündnispartnern abzustimmen. Diese haben die gleichen internationalen Einsätze zu bestreiten, ähnliche militärische Strukturen und allesamt nicht erst seit Banken- und Staatsschuldenkrise eigentlich immer zu wenig Geld fürs Militär.

Es war, als hätte Minister Guttenberg SPD-Papiere gelesen

Am 9. Dezember 2010 erschien in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein Namensartikel des Ministers Guttenberg, darin heißt es: „Wir müssen jetzt handeln; es ist die Stunde Europas, das Bekenntnis zur europäischen Verteidigung muss mehr sein als ein Lippenbekenntnis.“ Als hätte er die SPD-Papiere zum Projekt einer Europäischen Armee gelesen, stellte er plötzlich selbst die richtigen Fragen: „Wie können bestehende Redundanzen abgebaut werden? Was sind militärische Kernfähigkeiten, die weiterhin rein national bereitgestellt werden sollen? Auf welche Fähigkeiten können wir in Zukunft verzichten, weil sie besser von anderen Partnern erfüllt werden können?“ Gute Fragen, aber als deutsche Antwort gab es ein weiteres Mal nichts anderes als ein rein national angelegtes Reformkonzept. Zu entscheiden hatte es am Ende Guttenbergs Nachfolger, der troubleshooter im Merkel-Kabinett, Thomas de Maizière.

Eher geht dessen Planung nun in Richtung Defusionierung schon bestehender multinationaler Verbände: In den Strukturen von zwei der sechs neuen Standardbrigaden sind explizit Lücken gelassen, die im Bedarfsfall durch die beiden deutschen Jägerbataillone der deutsch-französischen Brigade aufgefüllt werden.

Fähigkeitsverzicht, Arbeitsteilung und Spezialisierung funktionieren in Europa bisher nur nach dem Prinzip Zufall, nicht durch strategische Kapazitätsplanung. So gab es in der deutschen Marine Überlegungen, in Zukunft auf eigene Mittel zur Seefernaufklärung zu verzichten, weil das seit vier Jahrzehnten eingesetzte Flugzeugmuster Breguet Atlantic technisch kaum noch länger im Dienst zu halten und kein Geld für eine Nachfolgeentwicklung vorgesehen war. Durch Hören-Sagen wurde indes bekannt, dass auch die Niederländer sich von dieser personal- und materialintensiven Aufgabe trennen wollten. Ihre zwanzig Jahre jüngeren Flugzeuge des Typs P-3C Orion standen zum Verkauf. Eine europäische Fähigkeitslücke zeichnete sich ab, nicht dramatisch, aber spürbar. Also stiegen die Niederländer aus dem Aufklärungsgeschäft aus und die Deutschen blieben drin – durch die preisgünstige Übernahme der gebrauchten Flugzeuge des Nachbarn.

Hilfreich wäre, wenn sich Bündnispartner koordinieren würden

Ein anderes Beispiel, transatlantisch: Mit niemandem abgesprochen schaffte in einer der Reformwellen nach Ende des Kalten Krieges der Nato-Partner Kanada seine Panzertruppe ab. Doch nicht für lange. Die Gefechtserfahrungen im Süden Afghanistans führten im kanadischen Heer zu einer Renaissance der massiv geschützten, durchsetzungsfähigen Kampfpanzer. Da man nun allerdings selbst keine mehr hatte, lieh man beim Bündnispartner Deutschland knapp zwei Dutzend Leopard II in der modernsten Konfiguration und kaufte weitere gebrauchte Leoparden von der niederländischen Armee.

Damit nicht alle beim Sparen auf die gleichen teuren Truppenteile verzichten, wäre es hilfreich, wenn in einem rationalen Verfahren Nachbarn und Bündnispartner in EU und Nato sich koordinieren würden. Davon aber konnte bei der Guttenberg/de Maizière-Reform noch keine Rede sein. Deutschland und parallel Frankreich und Großbritannien haben die jeweils aktuellen Pläne zur Reduzierung und Umstrukturierung ihrer Streitkräfte nach rein nationalen Kriterien ausgearbeitet. Tatsächlich gibt es heute, allen Absichtserklärungen zum Trotz, weniger effektive gemeinsame Streitkräfteplanung als in den Zeiten des Kalten Krieges, als die Nato-Verbände in Europa das höchste internationale Integrationsniveau erreicht hatten, weil die Bedrohungslage dies zu einer Überlebensfrage machte.

Die Übereinkunft des EU-Verteidigungsministertreffens von Gent im September 2010, in Zukunft verstärkt auf pooling und sharing zu setzen: auf Bündelung von Kräften wie im europäischen Lufttransportkommando in Eindhoven und auf Arbeitsteilung (wofür funktionierende Beispiele rar sind), kam zu spät. Oder die neue deutsche Radikalreform kam zu früh.

Jedenfalls wird auch dieses Mal die Bundeswehr mit ihrem gesamten Fähigkeitsspektrum wie bei der Züchtung von Bonsai-Bäumen in sich kleiner. Komplett aufgegeben werden nur die Heeresflugabwehr als eigene Truppengattung (die Aufgaben wechseln zur Luftwaffe) und das letzte Schnellbootgeschwader, weil es kein passendes Einsatzszenario mehr gibt. Die Infanterie mit Jägern, Gebirgsjägern, Fallschirmjägern und Panzergrenadieren wächst etwas auf. Kampfpanzer, Schützenpanzer und schwere Artillerie werden weiter reduziert, auch wenn jetzt die beiden letzten regulären Heeresdivisionen „Panzerdivisionen“ heißen. Vor 1990 gab es 60 Panzerbataillone, aktive und gekaderte, jetzt gerade noch sechs.

Wenigstens den verbliebenen Rest von diesem „schweren Kern“ des Heeres zu erhalten, könnte für künftige europäische Spezialisierungen heute ein richtiges Statement sein. Hier geht es um komplexe, auch relativ teure, in der Bundeswehr lange Zeit strukturbildende Fähigkeiten, die möglichst komplett in einen neuen europäischen Streitkräfteverbund hineinwachsen könnten. Jägertruppen aufstellen kann jedes Bündnismitglied, darauf muss sich die Bundeswehr nicht spezialisieren. Die Luftwaffe verliert noch einmal die Hälfte ihrer bisher sechs Flugabwehrraketengruppen (Patriot) und soll drei Transall- durch ein Airbus-Geschwader ersetzen.

Weder größer noch kleiner werden die deutschen „Special Operation Forces“ (SOF) mit dem Kommando Spezialkräfte (KSK) des Heeres in Calw und den Spezialkräften der Marine in Eckernförde, die vorerst eigenständig bleiben. Spezielle Infanteriefähigkeiten bildet darüber hinaus die Gebirgsjägerbrigade aus, die wie das KSK – jedenfalls in der Theorie – auf extreme Einsatzräume (Hochgebirge, Arktis, Wüste, Dschungel) hin trainiert, und auch die Fallschirmjägerbrigade. Was nach wie vor fehlt, sind besondere Mittel für den Lufttransport von Spezialkräften: geschützte, bewaffnete Hubschrauber mit größerer Reichweite und Luftbetankungsfähigkeit für Einsatzszenarien wie etwa Geiselbefreiung oder die Festnahme gesuchter Kriegsverbrecher.

Das Lufttransportproblem des Heeres beschränkt sich nicht auf die Spezialkräfte. Für die gesamte Bundeswehr sind immer weniger Hubschrauber vorgesehen. Dabei könnte der sinkende Personalumfang für jeden konkreten Einsatz noch am besten durch erhöhte Mobilität kompensiert werden. Wer in einem Einsatzgebiet nicht mit großer Truppenstärke überall boots on the ground haben kann, der sollte wenigstens in der Lage sein, mit seinen vorhandenen Kräften schnell überall dort, wo es nötig ist, Schwerpunkte zu bilden. Für 60 000 Nato-Soldaten im kleinen Kosovo 1999 war es nicht schwer, die vollständige Kontrolle zu gewinnen und jede Gewalttätigkeit im Keim zu ersticken. Dagegen hätten 100 000 Nato-Soldaten im großen, unwegsamen Afghanistan um ein vielfaches beweglicher sein müssen, als sie es waren und sind.

Universalarmee-Nationalismus ist teuer, ineffizient und intellektuell schlicht

Aufgabenteilung könnte helfen, die Lücken zu füllen, wenn nur endlich ein großes Land (besser zwei) die Initiative zum Offen-Reden ergriffe! Bisher aber gilt das immer gleiche strategische Gerede über die angebliche Unzuverlässigkeit der jeweils anderen Partner als allerorginellste Erkenntnis für jede Hintergrundklügelei. Seitens deutscher Strategen wird zusätzlich noch die Unkalkulierbarkeit der eigenen politischen Entscheidungsebene mit wohligem Abscheu als Argument gegen ein arbeitsteiliges Bündnis vorgebracht: Wenn Deutschland im Bündnis der Spezialist für xy ist, und dann eine Mission, wo xy gebraucht wird, aus kleinlichen politischen Gründen nicht mitmacht, so der messerscharfe Gedankengang, dann kann das Bündnis nicht handeln und geht kaputt. Deshalb braucht jedes Land weiter alles selbst! Dieser Universalarmee-Nationalismus ist teuer, militärisch ineffizient, politisch töricht – und intellektuell sehr schlicht.

Erstens setzen sowohl die Nato als auch die EU nur dann als Ganzes Militär ein, wenn alle Bündnispartner sich einig sind, wenn also formal Einstimmigkeit hergestellt ist. Wer dann welchen konkreten Beitrag zur Operation leistet, ist Gegenstand von neuen Verhandlungen. Zweitens: Dass nur ein Mitgliedsstaat über eine bestimmte Schlüsselfähigkeit verfügt, an der unentrinnbar die militärische Handlungsfähigkeit aller hängt, ist sehr unwahrscheinlich, träfe wenn, dann heute allenfalls auf die Vereinigte Staaten zu und wäre bei einem künftigen Arbeitsteilungskonzept als mögliches Problem von vornherein mit zu berücksichtigen: Es sollte immer drei oder mehr Partner geben (aber eben nicht alle 27 oder 28), die bestimmte Schlüsselfähigkeiten beitragen können. Und drittens: In keinem einzigen Fall ist bisher irgendeine geplante Nato- oder EU-Mission daran gescheitert, dass Deutschland oder eine andere Nation den Partnern Kräfte und Mittel vorenthalten hätte, die essentiell für den Erfolg der Operation gewesen wären.

Für den immer wieder als Präzedenzfall angeführten Einsatz des Nato-gemeinsamen internationalen AWACS-Verbandes aus Geilenkirchen in Afghanistan gab es sogar eine Art Vorratsbeschluss des Deutschen Bundestages zu Zeiten der Großen Koalition. Die Entsendeentscheidung wurde dann aber zunächst deshalb nicht umgesetzt, weil die Nato politische Schwierigkeiten mit den Überflugrechten auf der Strecke ins Einsatzgebiet nicht überwinden konnte.

Wenn Deutschland (oder eine andere Nation) bestimmte Bündnismissionen ablehnt und verhindern möchte, dann führt der Weg dazu nicht über die Blockade der militärischen Mittel, sondern über das Veto der Regierung in den jeweiligen Bündnisgremien. Stimmt die Regierung aber zu, wird sie in der Lage sein müssen, ihre Parlamentsmehrheit auch von den dann gegebenenfalls erforderlichen nationalen Bereitstellungen überzeugen zu können. Kann sie das nicht, tritt sie zurück. Diesem prinzipiellen Risiko entrinnt keine Exekutive in einer parlamentarischen Demokratie.

Alle Truppenteile brauchen moderne Ausrüstung

Für die Bundeswehrreform des Jahres 2011 hätte es aus europäischer Perspektive eine andere Rationalität gegeben als die weitere Verzwergung der kompletten Universalarmee, die alles allein können soll und doch nicht kann (und nie konnte). Drei Anspruchsniveaus wären für eine bündnisfähige, moderat spezialisierte Bundeswehr sinnvoll gewesen. Kategorie A: deutsche hochwertige Beiträge, die über den eigenen Normalbedarf hinausgehen. Kategorie B: Kapazitätsumfänge auf durchschnittlichem Niveau. Kategorie C: eine schmale nationale Grundbefähigung in einigen Bereichen. Und manche Frage („Kategorie D“) stellt sich für die Bundeswehr gar nicht erst, etwa die nach Atomwaffen oder Flugzeugträgern.

Eine solche Priorisierung des Fähigkeitenspektrums der Bundeswehr in Abstimmung mit den Bündnisnachbarn muss, da dieses Mal die Chance vertan wurde, bei der nächsten Streitkräfterevision spätestens zum Ende des Jahrzehnts stattfinden. Es wäre der Einstieg in die Entwicklung hin zu einer integrierten europäischen Armee.

Aufgegeben wurde mit der 2011er Neuorganisation die Kategorisierung in bestausgerüstete „Eingreifkräfte“, solide versorgte „Stabilisierungskräfte“ und minder aufwändige „Unterstützungskräfte“ in der Heimat. Dieser Versuch, die Mangelverwaltung des „Wer bekommt wann was?“ zu rationalisieren, half beim Sparen nicht so, wie die Planer der Struck/ Schneiderhan-Transformation das gehofft hatten. Die heutige Erfahrung ist: Alle Truppenteile brauchen moderne Ausrüstung, alle können einsatzwichtig werden.

Nach dem neuen de-Maizière-Modell sollen nun allerdings viele Verbände nur noch mit 80 Prozent des strukturnotwendigen neuen Großgeräts, etwa Schützenpanzer, ausgerüstet werden, weil die Einsatzkontingente ja in der Regel nicht mit eigenem Material die Vorgänger ablösen, sondern Hauptwaffensysteme und Fuhrpark im Einsatzgebiet übernehmen. Und mit einem gleichzeitigen Einsatz der ganzen Bundeswehr wird ohnehin nicht mehr gerechnet. Ob diese asymmetrische Schrumpfstrategie – bei der Materialreduzierung wird aus Kostengründen mehr aufgegeben als bei der Personalreduzierung – funktioniert, kann man bezweifeln. Bisher war der Materialpool aller Verbände ja auch die Materialreserve für alle. Die würde nun noch kleiner.

Gegen asymmetrische Bedrohungen hilft technischer Vorsprung nur begrenzt

Für ihre neuen großen Fregatten der Klasse 125 plant die Marine schon mit einem Mehrbesatzungskonzept: vier Schiffe, fünf oder mehr Crews. Abgelöst wird im Einsatzgebiet, etwa in Djibouti oder Limassol. Fällt allerdings ein Schiff mit Schaden aus, dann wäre wohl bestenfalls noch eins einsetzbar, egal wie viele Besatzungen an Land warten. Denn bei vier Einheiten ist routinemäßig immer eine in der Werft und mindestens eine durch Ausbildung gebunden. Es bleibt ein unaufhebbares Gesetz: Die Reduzierung der Plattformen reduziert die Verfügbarkeit.

Festhalten wird die Bundeswehr nun auch in der dritten Reformwelle hintereinander an dem Ziel, in einigen zentralen Fähigkeitskategorien besser zu werden. Aus der „Reform-von-Grund-auf“-Phase von Verteidigungsminister Rudolf Scharping und Generalinspekteur Harald Kujat stammt der Sechs-Punkte-Katalog. Das deutsche Militär soll bessere Ausrüstung erhalten, besonders in den Bereichen Führungsfähigkeit (Satellitenkommunikation, Digitalfunk), Aufklärung (Drohnen, Satelliten), Mobilität (A400M, Hubschrauber, Seetransport), Wirksamkeit im Einsatz mit den neuen Kriterien Abstandsfähigkeit (Marschflugkörper Taurus, Abfangrakete Meteor) und Präzisionsbewaffnung (lasergelenkte Bomben), Durchhaltefähigkeit (Personalstrukturen für Kontingentwechsel) und Schutz (gepanzerte Fahrzeuge wie Dingo und Boxer, Minenräumsysteme).

Gerade im letztgenannten Bereich gehört Deutschland zu den führenden Nationen. In den übrigen geht es darum, Anschluss an andere Bündnispartner zu halten, ohne jede Mode der angelsächsischen Welt mitzumachen. Was die technische Führungsfähigkeit, Aufklärung, Mobilität und Wirksamkeit im Einsatz angeht, sind die US-Streitkräfte allen anderen weit voraus. Sie können offenbar jede konventionelle Streitmacht (Afghanistan, Irak, Anfangsoperation Libyen) binnen sehr kurzer Frist aufklären, aus der Luft zerschlagen und gegebenenfalls zügig strategisch wichtige Räume besetzen, ohne in größerem Ausmaß eigene Kräfte zu verlieren. Probleme bekommen die USA wie alle anderen Nationen, wenn es um Stabilisierung, Wiederaufbau, counterinsurgency und nation building geht. Gegen asymmetrische Bedrohungen hilft der Technikvorsprung nur begrenzt, kann sogar kontraproduktiv werden – weil der Gedanke an die technische Lösbarkeit jedes terrorpolitischen Problems eine gefährliche Illusion ist.

Dieser Text ist ein Auszug aus Hans-Peter Bartels’ Buch „Wir sind die Guten: Erfahrungen und Anforderungen deutscher Verteidigungspolitik“, das 2012 im vorwärts buch Verlag erschienen ist. Es hat 160 Seiten und kostet 10,00 Euro.

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