Deutschland braucht den neuen Deal

Vor dem Hintergrund seiner eigenen Biografie skizziert der Gewerkschafter Detlef Wetzel Umrisse eines »neuen Gesellschaftsvertrages«

Der Gewerkschafter Detlef Wetzel, stellvertretender Vorsitzender der IG Metall, hat ein ebenso lehrreiches wie anschauliches Buch geschrieben. Die Lektüre von Mehr Gerechtigkeit wagen ist allen politisch Interessierten zu empfehlen – vielleicht gerade denjenigen, die nicht bis ins Detail mit jedem Urteil des Autors übereinstimmen werden. Denn Detlef Wetzel hat in seinen dreißig Jahren als Gewerkschafter viel erlebt, viel erreicht und vor diesem biografischen Hintergrund auch eine Menge Nachdenkenswertes zu sagen.

Sein Einstieg gerät unmissverständlich: Zwischen Ende der sechziger Jahre bis in die frühen achtziger Jahre hinein habe in Deutschland eine gesellschaftliche Übereinkunft gegolten, die eine „Mittelstands- und Arbeitnehmergesellschaft“ begründete. In dieser Zeit sei es Konsens gewesen, dass Ungleichheit einer Gesellschaft und der Demokratie schade. Im Ergebnis habe es weniger Reiche und weniger Arme, dafür eine umso breitere Mitte gegeben. Die gesicherten Verhältnisse einer „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ (Helmut Schelsky) seien seinerzeit noch nicht als „lähmend“ betrachtet worden, vielmehr habe diese Konstellation „den Aufstiegswillen, den Willen zur Verbesserung“ befördert.

Weil das ein bisschen nach heiler Welt im Rückspiegel klingen könnte, räumt Detlef Wetzel ein: „Das heißt nicht, dass eine Idylle ohne Konflikte zwischen Besitzenden und Beschäftigten herrschte. Aber man wollte immer den Laden zusammenhalten, bei allen Unterschieden, die man in Maßen akzeptierte. Der Deal war: Wir sind bereit, etwas zu leisten und Steuern und Sozialabgaben zu zahlen. Aber wir erwarten dafür auch Gegenleistungen, nämlich Teilhabe und soziale Sicherheit. Leistung gegen Teil­habe, Anerkennung und Respekt.“

Auf dem falschen Fuß erwischt

Dieser „alte Gesellschaftsvertrag“ der Bundesrepublik, gekennzeichnet durch Leitmotive wie „Wohlstand für alle“ (Ludwig Erhard), „Mehr Demokratie wagen“ (Willy Brandt), die Idee der Sozialpartnerschaft oder das Selbstbild der Mittelstandsgesellschaft, wurde Detlef Wetzel zufolge seit den frühen achtziger Jahren von immer mehr Vertragspartnern aufgekündigt. Nach und nach sei die deutsche Gesellschaft von der „geistig-moralischen Wende“, vom ökonomischen und sozialen Strukturwandel, von der Ideologie des Neoliberalismus sowie schließlich auch von der Agenda 2010 „überwältigt“ worden.

Doch Wetzel kritisiert nicht nur andere. Prägnant stellt er dar, wie sehr die deutschen Gewerkschaften von der Wucht des Wandels auf dem falschen Fuß erwischt wurden. Besonders der Blick der IG Metall sei zu sehr „auf das Bestehende, Bewährte und deshalb zu Verteidigende gerichtet“ gewesen, nicht aber „auf die neuen Typen erfolgreicher Unternehmen und Beschäftigter, die im Wandel entstanden“. Bald hätten die Gewerkschaften die ausdifferenzierte Gesellschaft nicht mehr hinreichend abgebildet: „Die Welt war komplizierter geworden, als wir es ihr zugestehen wollten.“ Eben noch hätten die Gewerkschaften in dem guten Glauben gelebt, die fortschrittlichste Kraft der Republik zu sein. Doch „nun pfiffen die Spatzen von den Dächern, dass wir nicht genug verstanden hätten: nicht den neuen Zyklus der politischen Ökonomie, nicht die Bedürfnisse der Menschen in den neu entstandenen Unternehmen und Branchen, nicht die neue Struktur der deutschen Gesellschaft insgesamt. Wir waren in ernster Gefahr, mit unseren stumpfen Instrumenten an allen Trends vorbei zu hantieren.“

Weiter so mit stumpfen Instrumenten?

In eben diese Gefahr geriet seit den achtziger Jahren auch die Sozialdemokratie. Auch sie stand vor der Wahl zwischen dem „Weiter so“ mit zunehmend stumpfen Instrumenten und einer konzeptionellen Kurskorrektur. Unter dem Druck der veränderten Verhältnisse schlug die SPD mit Gerhard Schröder an der Spitze schließlich neue Wege ein. An der rot-grünen Reformpolitik hatten die Gewerkschaften bekanntlich vieles auszusetzen; auch Detlef Wetzel trägt ihre Vorwürfe noch einmal umfassend vor. Wer allerdings so wie Wetzel heute anerkennt, dass fundamentale Großtrends den „alten Gesellschaftsvertrag“ bereits seit Anfang der achtziger Jahre unterminiert und ausgehebelt hatten, der kann eigentlich nicht gleichzeitig die Reformpolitik der Regierung Schröder zur entscheidenden Ursache für das Ende dieses „alten Gesellschaftsvertrages“ erklären. Denn dies war die „Agenda 2010“ tatsächlich nicht. Vielmehr stellte sie den Versuch dar, die (von Detlef Wetzel mit Blick auf die Gewerkschaften beklagte) Haltung einer bloß passiven und immer perspektivloseren Verteidigung des Bestehenden zu überwinden, um so überhaupt wieder Grundlagen für eine aktive fortschrittliche Politik unter veränderten Bedingungen zu schaffen.

Zugegeben: Der mit den Begriffen New Labour, Neue Mitte und Agenda 2010 verbundene Aufbruch der Sozialdemokratie kam reichlich spät, er war unvollkommen, er war zum Teil improvisiert und auch deshalb verständlicherweise innerhalb der Gesellschaft umstritten. Detlef Wetzel hat sicherlich Recht, wenn er schreibt, es habe seinerzeit „keinerlei breite Debatte über die Ausrichtung der zur Bewältigung der neuen Herausforderungen erforderlichen Lösungen“ gegeben. Zugleich aber macht gerade Wetzels eigene Beschreibung der defensiven Gewerkschaftsmentalität jener Jahre eindrücklich klar, dass für die Krise im Verhältnis von regierender Sozialdemokratie und Gewerkschaften damals jedenfalls nicht allein die „Schröder-SPD“ verantwortlich war. Zwischen der von den Gewerkschaften als „Überwältigung“ wahrgenommenen Reformpolitik der Regierung Schröder und dem von Detlef Wetzel selbst beklagten Erneuerungsunwillen der Gewerkschaften bestand durchaus ein innerer Zusammenhang.

Einladung zum produktiven Dialog

Aber wie auch immer man im Rückblick zur Politik des „Dritten Weges“ steht: Aus der Perspektive des Jahres 2012 ist das alles Geschichte. Das weiß auch Detlef Wetzel. Spätestens mit der großen Krise der globalen Finanzmärkte seit 2008 hat ein grundlegend neuer Politikzyklus begonnen, der neue Lösungen und Bündnisse erfordert. Dramatischer denn je zeigt sich heute, welche gesellschaftsbedrohende Gefahr von unregulierten Finanzmärkten und überbordender Ungleichheit ausgeht. „Die entfesselte Marktwirtschaft hat das Pendel so weit vorschwingen lassen, dass gesellschaftliche Verwerfungen und breite Altersarmut nicht mehr undenkbar sind und die Demokratie auf tönernen Füßen steht“, schreibt Wetzel.

Ja, die Welt ist nochmals komplizierter geworden. Sozialdemokraten und Gewerkschaften in Deutschland haben daher allen Grund, das intensive Gespräch über gemeinsame Wege fortschrittlicher Politik für unsere Zeit zu führen. Beträchtliche Einigkeit besteht dabei heute nicht nur im Hinblick auf Prinzipien und Ziele, sondern auch bezogen auf notwendige politische Kurskorrekturen. Gerechte, nicht durch hochgradige Ungleichheit gekennzeichnete Gesellschaften seien produktiver und wirtschaftlich stärker, schreibt Detlef Wetzel zutreffend: „Soziale Gerechtigkeit wird daher zum Gebot der politischen und ökonomischen Vernunft.“ Vonnöten sei deshalb ein aktivierender Sozialstaat, der in die Fähigkeiten der Menschen investiert, um Teilhabe und Lebenschancen für alle zu gewährleisten: „Wir brauchen neue Ins­trumente des Sozialstaats, die aktivieren, ohne zu demolieren.“ Mehr Investitionen in Bildung, Wissenschaft, Infrastruktur, eine neue Ordnung am Arbeitsmarkt sowie mehr Aus- und Weiterbildung seien dringend notwendige Elemente fortschrittlicher Zukunftspolitik. Genau so ist es, und kein Sozialdemokrat würde hier widersprechen.

Es ist ein besonderer Vorzug des Buches von Detlef Wetzel, dass es nicht als nochmalige Abrechnung mit Vergangenem gemeint ist, sondern als ernsthafte Einladung zum produktiven Dialog über Zukünftiges. Die Krise ist nicht ausgestanden, viel steht auf dem Spiel. In ihrem vorwärts gewandten Nachdenken darüber, wie ein tragfähiger „neuer Gesellschaftsvertrag“ für unser Land unter den schwierigen Bedingungen der Gegenwart aussehen kann, tun Sozialdemokraten und Gewerkschaften deshalb gut daran, ein neues und nun wieder besseres Kapitel ihrer Beziehungen zueinander aufzuschlagen. Mit seinem sehr bedenkenswerten Buch leistet Detlef Wetzel hierzu einen wichtigen Beitrag.

Detlef Wetzel, Mehr Gerechtigkeit wagen: Der Weg eines Gewerkschafters, Hamburg: Hoffmann & Campe 2012, 239 Seiten, 19,99 Euro

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