"Der Widerstand der mittleren Funktionärsgarde ist immer groß"

Interview mit früheren SPD-Bundesgeschäftsführer Karlheinz Blessing

Wäre er Mitglied der SPD-Bundestagsfraktion, würde er wohl gerade noch zu den "Youngstern" gerechnet: Dr. Karlheinz Blessing (43), 1991 bis 1993 Bundesgeschäftsführer der SPD.

Die von Franz Müntefering angestoßene Debatte über die Reform der Reformpartei SPD kommt Blessing bekannt vor. "SPD 2000" hieß das Ganze damals und brachte Blessing den Ruf ein, "mit dem unbestritten klugen Kopf durch die Wand" (Stuttgarter Zeitung) zu wollen.

Seit 1994 ist Blessing Arbeitsdirektor der Dillinger Hüttenwerke. Mit dem Bundestagsabgeordneten Sebastian Edathy sprach er über seine Zeit als Bundesgeschäftsführer und seinen heutigen Blick auf die SPD, für die er als Schatzmeister des saarländischen Landesverbandes tätig ist.


Die SPD diskutiert im Jahr 2000 über eine Parteireform. Die Reform der SPD war ja auch zu Deiner Amtszeit als Bundesgeschäftsführer der SPD ein Kernprojekt. Hast Du beim Lesen der Müntefering-Vorschläge so etwas wie ein Deja-vu-Erlebnis gehabt?

Ja, absolut. Ein Großteil der Müntefering-Vorschläge baut auf die Arbeiten auf, die Anfang der neunziger Jahre von der Projektgruppe "SPD 2000" gemacht worden sind. Und viele der Elemente, die Müntefering jetzt vorschlägt, waren im Detail damals auch schon vorgeschlagen worden. Eingegangen in die Satzung der Partei ist seinerzeit lediglich die Möglichkeit der Urwahl bei der Nominierung von Kandidatinnen und Kandidaten für Mandate und das Antragsrecht der Arbeitsgemeinschaften auf Parteitagen. Aber auch schon damals lagen Vorschläge vor wie zum Beispiel der, von den ersten zehn Listenplätzen zwei für Seiteneinsteiger vorzubehalten, auf Entscheidung der jeweiligen Vorstände. Schärfer gezogen als bei den Müntefering-Vorschlägen war das Verhältnis der Mitglieder zu den Nichtmitgliedern. Es gab gewisse Öffnungen, was Arbeitsgemeinschaften und Projektgruppen anbelangt, aber nicht die Beteiligung von Nichtmitgliedern bei der Aufstellung von Kandidaten. Das wollten wir nicht.

Urwahl, stärkere Öffnung der Partei für Seiteneinsteiger, die Forderung nach Verjüngung der SPD-Fraktionen, Professionalisierung der Parteiarbeit - das sind in der Tat Überlegungen, die nicht neu sind. Die SPD greift eine alte Debatte wieder auf. Warum sind denn die damaligen Ideen vielfach nicht umgesetzt worden?

Nach der verlorenen Bundestagswahl 1990 hat man keine große politische Analyse gemacht, warum die Bundestagswahl verlorengegangen ist, sondern eine wesentliche Schlussfolgerung ist gewesen, dass die Partei nicht kampagnefähig war. Vor diesem Hintergrund wurde beschlossen, die Parteireform zum Schwerpunkt der kommenden Jahre zu machen. Zu meinem größten Bedauern hat Günter Verheugen als mein Nachfolger dieses Thema nicht weiter vorangetrieben. Auch Rudolf Scharping als Parteivorsitzender hat andere Prioritäten gehabt. Man muss ja sehen, er kam sehr schnell in eine Situation hinein, wo er als Parteivorsitzender ums eigene Überleben kämpfen musste - mit dem bekannten Ausgang, den der Mannheimer Parteitag dann erbracht hat. Aber es war rückblickend ganz klar ein Fehler, dass diese Parteireform nicht fortgesetzt wurde. Müntefering hat das jetzt wieder aufgegriffen. Er selbst musste ja, als er 1995 Geschäftsführer geworden ist, volle Kanne in Richtung Wahlkampf arbeiten. Die Partei war in einem desolaten Zustand, und möglicherweise hatte er in dieser Phase nicht die Zeit und die Kraft, sich diesem Thema zu widmen. Ich sehe es so: Er greift jetzt etwas auf, was damals aus anderen Gründen nicht mehr verfolgt worden ist, weil Prioritäten anders gesetzt worden sind. Aber die Notwendigkeit, weiter zu kommen, bestand im Grunde all die Jahre hindurch.

Heißt das nicht auch, Reformdebatten in der SPD sind gewissermaßen Debatten von oben?

Die Schwierigkeit bei der Durchsetzung der Parteireform bestand immer darin, dass jede Parteireform eine Reform gegen den mittleren Funktionärsapparat ist. Der Widerstand der mittleren Funktionärsgarde ist immens groß, denn sie hat ganz objektiv an Einfluss zu verlieren. Gelingen kann die Reform nur, wenn es ein Bündnis zwischen der Parteiführung und der Basis gibt. Die Anstöße kommen von oben, wie so häufig, aber das Bedürfnis ist unten da.

Du hast einmal auf die Frage, ob die Arbeit eines SPD-Bundesgeschäftsführers eine Sisyphusaufgabe ist, gesagt: Vielleicht bleibt der Stein ja irgendwann oben. Wenn man sich jetzt ansieht, was Müntefering geschafft hat, zum Beispiel in bezug auf die Neuorganisation der Parteizentrale, auch, was die eigene Rolle betrifft, bekommst Du da manchmal etwas Wehmut, nicht selber diese Möglichkeiten gehabt zu haben?

Ich habe es schade gefunden, dass ich die Aufgabe damals nicht vollenden konnte, aber es ist absolut richtig, was Müntefering jetzt macht. Sein Ansatz stimmt. Was die Reform der Parteizentrale anbelangt, ist er noch nicht am Ende des Weges. Müntefering hat die Chance des Umzugs gut genutzt, die wirklich eine Chance war, denn unsere Personalsituation in der Parteizentrale ist leider sehr unflexibel. Da gibt es Vertragskonstruktionen, die sind zum Teil wirklich hanebüchen. Andererseits wird zu wenig in Qualifizierung und insbesondere Personalführung investiert. Die SPD ist diesbezüglich nicht auf der Höhe der Zeit.

Die Beharrungskräfte innerhalb der SPD scheinen heute weniger stark ausgeprägt als in Deiner Amtszeit. Haben anderthalb Jahre Regierung die SPD stärker verändert als anderthalb Jahrzehnte Opposition?

Eine Partei, die, wie wir das damals genannt haben, Mittler und Faktor in der politischen Willensbildung sein will, die kann sich nicht von gesellschaftlichen Trends - ob sie gefallen oder nicht - abkoppeln. Sie muss offen sein für diese Trends und muss versuchen, sie mitsteuern zu können. Ich sage: Der traditionelle SPD-Apparat ist dazu nicht in der Lage, deshalb brauchen wir die Parteireform - nicht allein wegen der Regierungsbeteiligung, die sicher eine starke disziplinierende Wirkung hat.

Hat es Müntefering leichter als Du damals, weil derzeit die Position des Parteivorsitzenden stabil zu sein scheint?

Er hat es in manchen Punkten leichter. Ich hatte einen Parteivorsitzenden, der meistens in Kiel war und mit einer Stimme Mehrheit in Schleswig-Holstein regierte. Jedes Mal, wenn er in Bonn war, war im Landtag die Mehrheit futsch. Insofern war die Präsenz des Parteivorsitzenden einfach eine andere, und das ist jetzt mit Bundesregierung, Regierungssitz Berlin und einem Parteivorsitzenden, der zugleich Kanzler ist, sehr viel mehr aus einem Guss. Die Rahmenbedingungen sind sehr viel besser. Es ist nicht vergleichbar: Müntefering ist als Generalsekretär in der Tat so etwas wie ein geschäftsführender Parteivorsitzender, die Ministerpräsidenten, die damals eine enorme Rolle gespielt haben und letztlich auch das Zentrum der Macht darstellten, die Bonner Oppositionsfraktion: Die hatten alle ihre eigenen Interessen. Zugleich mussten wir in einigen Tabuthemen unsere Position verändern, was viel Kraft gekostet hat. Etwa bei der Frage von Auslandeinsätzen der Bundeswehr außerhalb des NATO-Vertragsgebietes. Das ist eine Debatte, die uns lange gelähmt hat. Sie ist jetzt sozusagen durch praktisches Regierungshandeln erledigt worden. Gegen Dinge, die wir heute selbst machen, wären wir vor zehn Jahren vors Verfassungsgericht gezogen.

Wie sieht Deiner Meinung nach die Zukunft der SPD als Mitgliederpartei aus?


Wir haben damals sehr großen Wert darauf gelegt, dass wir weiterhin Mitgliederpartei bleiben wollen. Wir müssen aber ganz realistisch sehen, dass es eine andere Mitgliederpartei sein wird: Sie wird sehr viel flexibler und offener sein an den Rändern, sie wird projektbezogener sein, punktueller, Personen werden möglicherweise einen sehr viel größeren Einfluss haben als Parteiprogramme. Auch die Struktur der Parteiorganisation wird eine andere sein. Der Ortsverein beispielsweise war früher ein wesentliches Informationsgremium. Im Medienzeitalter ist das überhaupt nicht mehr der Fall. Niemand kommt zu einer Ortsvereinssitzung, um Neues zu erfahren, höchstens Hintergründiges, nichts Neues. Also muss man überlegen: Was hat der Ortsverein noch für einen Sinn, damit er für Mitglieder attraktiv ist? Das muss eine beteiligungsorientierte Geschichte sein.

Befragungen ergeben, dass die Bürger mittlerweile mit der Regierungsarbeit handwerklich ganz zufrieden sind, aber dass es der Regierung offenbar noch nicht gelungen ist, zu vermitteln, was eigentlich ihr Projekt ist, was die einzelnen Entscheidungen und Maßnahmen verbindet.

Ich stimme mit dieser Analyse überein. Ich sehe das Projekt derzeit auch nur in Ansätzen. Das Ganze wird in Richtung Teilhabe-Chancen gehen. Nicht nur materielle Teilhabemöglichkeiten, das ist ja der Traditionsfokus der SPD. Ich glaube, die materielle Teilhabe muss durch Teilhabe an der Kommunikation ergänzt werden. Dies sozusagen auf eine plakative Überschrift zu bringen, in ein Projekt zu gießen, das wird die Aufgabe auch des neuen Grundsatzprogramms sein.

Gibt es nicht vielleicht doch ein wenig Lust, auf der Bundesebene wieder aktiv mitzumischen?

Hauptberuflich mit Sicherheit nicht, wobei man mit 43 nicht sagen sollte, man schließt das aus. Es würde mir sicher Spaß machen, an einem programmatischen Prozess mitzuarbeiten, ehrenamtlich. Es gibt ja zig Möglichkeiten, sich einzuklinken. Das tue ich auch, aber nicht in der großen Öffentlichkeit.

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