Zugewandte Haltung statt fragwürdige Schlagzeilen

Die verbindende Idee von Sozialdemokraten und Grünen ist und bleibt der Wille zu fortschrittlicher Politik. Diese Gemeinsamkeit sollten beide pflegen

Rot-grüne Bündnisse sind kein Selbstläufer – selbst wenn es rechnerisch für eine Mehrheit reicht. So viel steht spätestens seit dem Scheitern der Koalitionsverhandlungen zwischen der SPD und den Grünen im Land Berlin fest. Seither ist viel geschrieben worden über die beiden einstigen Abo-Koalitio­näre: über die Gründe ihrer vermeintlichen Entfremdung und das angeblich nahende Ende des rot-grünen „Projekts“. Dass die Berli­ner Koalitionsverhandlungen in Wirklichkeit wohl eher aufgrund von taktischen und strategischen Erwägungen auf bei­den Seiten gescheitert sind, an der Heterogenität der neuen Grünen-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus, und weniger an unüberwindbaren Gegensätzen zwischen Grünen und SPD, blieb allerdings weitgehend unbeachtet.

Distanzierungen und Relativierungen

Dennoch löste die Nachricht vom Scheitern der rot-grünen Regierungsbildung in Berlin – eine Regierung, die auf einer denkbar knappen parlamentarischen Mehrheit basiert hätte – unter den Bundespolitikern beider Parteien eine bemerkenswerte Welle von Distanzierungen und Relativierungen aus, was eine gefühlte feste Größe unserer politischen Kultur betrifft: dass nämlich eine gemeinsame Mehrheit von SPD und Grünen auch zu einer gemeinsamen Regierung führen müsse. Betont wurde plötzlich die jeweilige Eigenständigkeit. Von den inhaltlichen wie habituellen Borniertheiten der jeweils anderen Seite war die Rede – und von den sich auflösenden politischen Mili­eus natürlich sowieso.

Keine Frage, das Verhältnis von Sozialdemokraten und Grü­nen hat sich seit den Jahren der ersten rot-grünen Bundesre­gierung Schröder/Fischer verändert. Während die SPD nach der historischen Niederlage bei der Bundestagswahl im Jahr 2009 in Umfragen und Wahlen erst langsam (aber stetig) wieder festen Boden unter die Füße bekommt, konnten die Grünen auf ihrem Parteitag im November 2011 auf das wohl erfolgreichste Jahr ihrer Geschichte zurückblicken. Zwar hat sich der Hype um die Öko-Partei wieder etwas gelegt, der unter anderem durch die Diskussion um das Infrastrukturprojekt Stuttgart 21 sowie die nukleare Katastrophe im japanischen Fukushima samt anschließendem – erneuten – Atomausstieg ausgelöst wor­den war. Jedoch sind die Grünen mittlerweile zweifellos eine etablierte Kraft im Parteiensystem geworden, die sich selbstbewusst positioniert und die – auch und gerade in den Ländern – Koalitionen ohne SPD-Beteiligung eingeht, wenn es ihr geboten erscheint.

Es geht um mehr als ein paar Kilometer Autobahn

Dass der alte Schröder-Spruch von „Koch und Kellner“ beim kleineren Bündnispartner bis heute negativ nachwirkt, ist bekannt. Über dieses atmosphärische Moment hinaus geben die Verän­derungen der Parteienlandschaft und des Wählerver­hal­tens seit dem Jahr 2005 diese Zuschreibung aber nüchtern betrachtet auch gar nicht mehr her – für nahezu keine denkbare Koalition. Ge­nau deshalb kommt es momentan nicht da­­rauf an, einfach neue Umschreibungen für das Zusam­menwirken in einer bestimmten Konstellation zu finden. Son­dern es muss – heute mehr denn je – um die Schnittmen­gengröße von Inhalten gehen.

Rot-Grün startete 1998 als selbsternanntes „Projekt“. Dieser Begriff war Anspruch und Ausdruck einer Geisteshaltung, die dem unerträglich gewordenen Mief der Ära Kohl die Idee gesellschaftspolitischer Reformen und eines modernen, leistungsfähigen und gerechten Staatswesens gegenüberstellte. Der Grund­gedanke, der die beiden Partner dabei einte, war das Streben nach fortschrittlicher Politik, nach mutigem Gestalten statt bloßem Verwalten.

Rund 13 Jahre und zwei weitere Regierungsbündnisse später bleibt festzuhalten: Es waren spannende Zeiten, in denen tatsächlich Politik gemacht wurde, auch gegen Widerstände, gegen vermeintliche Tabus, wo nötig auch gegen einige Erwar­tungen der eigenen Klientel. Dieses Land ist moderner geworden, offener, toleranter, flexibler. Nicht von ungefähr kopiert Kanzlerin Angela Merkel rote wie grüne Konzepte und bürstet sie ihrer eigenen Partei gegen den Strich über!

Wenn es nun – aus welchen Gründen auch immer – trotz rechnerischer Mehrheit einmal nicht zu einer rot-grünen Zusammenarbeit kommt, wie jüngst in Berlin geschehen, dann mag das zwar bedauerlich sein, sollte aber nicht als Sündenfall deklariert werden. Die verbindende rot-grüne Idee ist und bleibt der Wille zu fortschrittlicher Politik. Orientiert man sich an dieser Idee, wird es auch künftig keine so naheliegende Kons­tel­lation in deutschen Parlamenten geben wie Rot-Grün. Gerade das rückwärtsgewandte Agieren der aktuellen schwarz-gelben Bundesregierung in allen Fragen der Ökonomie, des Sozialstaats, der Ökologie, der offenen Gesellschaft sowie der europäischen Integration offenbart den Bedarf an zukunftsorientierter Politik im Gegensatz zum kleinlichen und peinlichen Bedienen von Partikularinteressen.

Fortschrittliche Politik sollte sich daher nicht auf die Dis­kus­sion um ein paar Kilometer Autobahn, einen Bahnhof oder eine Stromtrasse reduzieren lassen. Die Strahlkraft, die von ihr auszugehen vermag, liegt in der inneren Haltung begründet, dass Politik gestalten kann und es zum Wohle aller auch muss. Diese Haltung sucht man bei den Parteien rechts der Mitte vergeblich. Auch die Linkspartei macht ja mit vielem von sich Reden – mit progressiven  Ideen und entsprechendem politischen Handeln jedoch nicht, jedenfalls nicht auf Bundes­ebene.

Im Ergebnis besteht aus Sicht der Sozialdemokratie, bei allem „freundlichem Wettbewerb“, wie Parteichef Sigmar Gabriel es einmal nannte, die größte Übereinstimmung nach wie vor mit den Grünen, wenn es um die Gestaltung moderner Politik geht. Beide Seiten wären gut beraten, eine zugewandte Haltung zueinander zu pflegen und die Geduld des jeweils anderen nicht allzu häufig durch fragwürdige Schlagzeilen zu strapazieren. Vielleicht wäre ja auch das schon ein kleines „Projekt“. «

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