Der Sozialstaat der Konservativen



Nichts schien in den innenpolitischen Kämpfen der vergangenen Jahre so unverrückbar festzustehen wie die Annahme, der frühere Bundeskanzler Gerhard Schröder habe mit seiner „Agenda 2010“ uralte Traditionsbestände der Sozialdemokratie abgeräumt. Während ihm linke Kritiker dies zum Vorwurf machten, hoben Befürworter seiner Reformpolitik hervor, nur die SPD habe den Sozialstaat – als ihr eigenes Werk – in solch einschneidender Weise modifizieren können. Doch in Wahrheit ist der versorgende Sozialstaat in seiner spezifisch deutschen Ausformung fast ausschließlich das Werk der Konservativen.

Die Sozialdemokratie favorisierte zunächst staatsferne Modelle der Selbstorganisation, trat für Mitbestimmung ein und wollte Kanäle des sozialen Aufstiegs öffnen. Erst Exponenten der politischen Rechten wie Reichskanzler Otto von Bismarck, Bundeskanzler Konrad Adenauer oder Unionsfraktionschef Rainer Barzel zwangen die SPD – vor allem in Wahlkampfsituationen –, zunächst widerwillig ein System staatlich organisierter Statussicherung zu akzeptieren, das die Grundstruktur einer undurchlässigen Klassengesellschaft zementierte.

Das gilt zunächst für jene Sozialleistung, deren Abschaffung in den Auseinandersetzungen der jüngeren Zeit im Zentrum stand: für die Arbeitslosenhilfe. Sie war vom christdemokratischen Bundeskanzler Konrad Adenauer 1956 überhaupt erst eingeführt worden und gehörte damit zu jenem üppigen Paket neuer sozialer Leistungen, mit dem Adenauer den Bundestagswahlkampf 1957 vorbereitete und schließlich die einzige absolute Mehrheit errang, die jemals eine Fraktion im Deutschen Bundestag besaß. Die Vorstellung, Arbeitslosen eine unbefristete Unterstützung in Abhängigkeit von der Höhe des vormaligen Einkommens zu gewähren, wäre zuvor als völlig irreal erschienen. Die „Arbeitslosenhilfe“ der Weimarer Republik entsprach dem späteren Arbeitslosengeld und war auf maximal 26 Monate befristet. Selbst dieses bescheidene System brach in der Weltwirtschaftskrise der frühen dreißiger Jahre zusammen. Erst das beginnende Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit mit der heraufdämmernden Vollbeschäftigung schien eine solch bedingungslose Absicherung des sozialen Status für den Staatshaushalt tragbar zu machen. Die Fachleute des Finanzministeriums warnten Adenauer gleichwohl vor der Schaffung einer „ewigen Rente“ mit unabsehbaren finanziellen Folgen, was den Kanzler indes nicht irritierte.

Da die sozialdemokratische Regierungsbeteiligung nach der ersten größeren Rezession 1966/67 und dem ersten Ölpreisschock 1973 vor allem im Zeichen ökonomischer Krisenbewältigung stand, kam es zu einem weiteren Ausbau der Arbeitslosenversorgung erst nach der Rückeroberung des Kanzleramts durch die CDU. Im Jahr 1985 verlängerte Helmut Kohls Arbeitsminister das zuvor generell auf ein Jahr befristete Arbeitslosengeld für ältere Arbeitslose auf bis zu 32 Monate. Das war eine kaum verhüllte Aufforderung an die Unternehmer, sich ihrer Beschäftigten auf Kosten der Sozialversicherung zu entledigen. Dieser Einladung kamen die Firmen, vor allem die Großkonzerne, gern nach. Die erhoffte Einstellung junger Kräfte, um die beginnende Massenarbeitslosigkeit zu mindern, blieb im Gegenzug allerdings aus. Diese Erkenntnis führte in Kohls letzter Amtsperiode zwischen 1994 und 1998 zu Versuchen, die Leistungen für Arbeitslose wieder einzuschränken. Der Anlauf scheiterte jedoch an der strikten Blockadehaltung, die der frisch gewählte SPD-Vorsitzende Oskar Lafontaine im Bundesrat praktizierte. Seine Haltung war zum damaligen Zeitpunkt allerdings eher der Eigenlogik der Oppositionsrolle geschuldet als tiefer sitzenden ideologischen Überzeugungen.

Weitet man den Blick von der Arbeitslosenhilfe auf die Gesamtheit staatlicher Sozialleistungen, wird die konservative Dominanz auf diesem Politikfeld noch weitaus deutlicher. Das gilt vor allem für die Alimentation der Rentner, die seit Bestehen der Bundesrepublik als wichtigste Wählerklientel der Christdemokraten gelten. Die beiden großen Rentenreformen von 1957 und 1972, die zur heutigen Krise des Sozialsystems wesentlich beitrugen, initiierte gleichermaßen die Union. Der SPD blieb in beiden Fällen nur die Rolle des Getriebenen – was im zweiten Fall umso kurioser war, als die Partei zu diesem Zeitpunkt den Bundeskanzler stellte.

Konrad Adenauer hatte bereits in seiner zweiten Regierungserklärung von 1953 eine „umfassende Sozialreform“ in Aussicht gestellt und die zunehmende Ungleichheit im Land beklagt. „Es waren bisher in erster Linie die im Arbeitsprozess Tätigen, die sichtbaren Nutzen aus den Erfolgen der sozialen Marktwirtschaft zogen“, erläuterte der Regierungschef. „Es wird das besondere Anliegen der Bundesregierung sein müssen, die Arbeitslosen einzugliedern und dem Bundestag Maßnahmen vorzuschlagen, durch die die wirtschaftliche Lage der Rentner, Invaliden, Waisen und Hinterbliebenen weiter verbessert wird.“ Die von Experten angestrebte Totalreform des zersplitterten deutschen Sozialversicherungswesen blieb jedoch im Ansatz stecken, schon deshalb, weil sie den zuvor privilegierten Gruppen eine Statusminderung zugemutet hätte.

Heraus kam eine Rentenreform – jene dynamische Rente, die das Wachstum der Altersbezüge automatisch an die Einkommensentwicklung koppelte und das durchschnittliche Rentenniveau auf einen Schlag um 65 Prozent steigerte. Fast drei Jahre dauerte es, bis der Kanzler die Reform gegen den hartnäckigen Widerstand von Wirtschaftsminister Ludwig Erhard, Finanzminister Fritz Schäffer und Bundesbankpräsident Wilhelm Vocke Anfang 1957 durchsetzen konnte, gerade noch rechtzeitig vor der Bundestagswahl. Eine eigene Kanzlermehrheit hatte Adenauer für das Vorhaben nicht. Weil sich die Koalitionspartner FDP und DP verweigerten, mussten die Sozialdemokraten die Rentenreform retten – mehr aus Wahlkampfgründen als aus innerer Überzeugung.

Das Konzept eines auskömmlichen, arbeitsfreien Lebensabends hatte zuvor gar nicht existiert. Nur sehr wenige Versicherte erreichten zu Bismarcks Zeiten die reguläre Altersgrenze. Gezahlt wurden die Renten zunächst überwiegend an Personen, die aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr arbeitsfähig waren. Die Adenauersche Reform war daher ein tiefer Einschnitt, sie tastete aber das ständische Prinzip nicht an. Arbeiter und Angestellte waren weiter in getrennten Kassen versichert, Beamte und Selbständige in das System nicht einbezogen. Die nunmehr aus Steuergeldern bezuschusste Leistung bemaß sich weiterhin an den Beitragszahlungen und damit am früheren Einkommen. Mittel aus dem Staatshaushalt wurden also aufgewandt, um dem ehemaligen Ingenieur eine weit höhere Rente zu bezahlen als dem früheren ungelernten Arbeiter.

Brandts verklärte Regierungserklärung von 1969 – eine Zumutung!

Die Reform sollte der damaligen Rentnergeneration den Anschluss an die heraufziehende Wohlstandsgesellschaft der Nachkriegszeit ermöglichen – ein Ausgleich, der zum Nachteil der politischen Stabilität in den postsozialistischen Reformstaaten Ostmitteleuropas nach 1989 unterblieb, wo heute jeder Tourist die armen Alten im Straßenbild erkennt. Langfristig belastete die Regelung aber die Rentenkasse und den Bundeshaushalt, der heute zu fast einem Viertel für die Zuschüsse zur Altersversorgung aufgewandt wird.

Das Spektakel wiederholte sich in ähnlicher Form 15 Jahre später bei der Rentenreform von 1972, einem Lehrstück für „Nutzen und Nachteil parlamentarischer Parteienkonkurrenz“, wie der Zeithistoriker Hans Günter Hockerts schreibt. Dabei hatte sich der neue Bundeskanzler Willy Brandt in seiner heute mythisch verklärten Regierungserklärung von 1969 zur Rentenfrage anders als Adenauer betont vorsichtig geäußert. Das neue sozialliberale Kabinett werde „den schrittweisen Abbau der festen Altersgrenze prüfen und sich bemühen, sie durch ein Gesetz über die flexible Altersgrenze zu ersetzen“. Darüber hinaus sei beabsichtigt, die Versicherung „für weitere Gesellschaftsgruppen“ zu öffnen. Der erste Hinweis entsprach einem Wunsch der Gewerkschaften, der zweite Punkt kam dem Koalitionspartner FDP entgegen, weil er dessen Klientel der Selbständigen und Freiberufler zu befriedigen versprach. Von einer weiteren Erhöhung des Rentenniveaus über die Adenauersche Rentenformel hinaus, wie sie auf Druck der Union schließlich beschlossen wurde, sprach der sozialdemokratische Kanzler überhaupt nicht.

Ohnehin stellte Brandts Regierungserklärung für weite Teile der Wählerschaft eher eine Zumutung dar, als dass sie sozialpolitische Versprechungen beinhaltet hätte. „Mehr Demokratie wagen“: Der Satz gerann im Rückblick zum Mythos einer unbeschwerten Zeit, doch bei vollständiger Lektüre lassen sich in Brandts Vortrag durchaus Anklänge an jene Ruck-Rhetorik erkennen, mit der Bundespräsident Roman Herzog 1997 das Land aufrütteln wollte. Der erste sozialdemokratische Bundeskanzler verkündete die Reform nicht als Verheißung, er stellte sie als bittere Notwendigkeit dar: „Wir stehen nicht am Ende unserer Demokratie, wir fangen erst richtig an.“ Das war auf politische Kreise gemünzt, die in den Studentenprotesten der vorausgegangenen Jahre so etwas wie den Untergang der Bonner Republik heraufdämmern sahen. Gemeint waren nicht nur die Konservativen, sondern auch traditionelle SPD-Wähler, die das Treiben der akademischen Chaoten eher missvergnügt zur Kenntnis nahmen. Sie waren es, die der Kanzler zu gewinnen und zu beruhigen suchte. „Dauerhafte Sicherheit kann es in einer entwickelten Gesellschaft nur durch Veränderung geben“, erklärte er. „In unserer Bundesrepublik stehen wir vor der Notwendigkeit umfassender Reformen.“

„Reform“ – das bedeutete schon damals auch Einschränkung und Verzicht. Als „Zurückformen“ verfallener Zustände in eine tugendhafte Urform war der Begriff schon im Mittelalter ganz wörtlich verstanden worden. Gemäß dieser Logik klagte Brandt, die neue Regierung habe von ihrer Vorgängerin „ein schwieriges wirtschaftspolitisches Erbe übernommen“. Der Zwang zur Veränderung betreffe daher alle gesellschaftlichen Bereiche – von der Bundesbahn, die künftig „einem Wirtschaftsunternehmen vergleichbar“ geführt werden solle, bis zur Bundesregierung selbst, die ihren Apparat straffen und die Zahl der Ministerien reduzieren wolle. „Diese Regierung redet niemandem nach dem Munde. Sie fordert viel, nicht nur von anderen, sondern auch von sich selbst.“ Mehr Demokratie wagen bedeutete Brandt zufolge nicht nur mehr Freiheit, sondern in der Sprache der heutigen Reformdebatte eben auch mehr Eigenverantwortung.

Die Dynamik hin zu einer hemmungslosen Ausgabenpolitik ging wenig später von der christdemokratischen Opposition aus. Treibende Kraft war der vormalige Arbeitsminister der Großen Koalition, Hans Katzer, der als stellvertretender Vorsitzender der Unionsfraktion nun deren rentenpolitische Arbeitsgruppe leitete. Geweckt wurden die Begehrlichkeiten von den offiziellen Rentenprognosen, die den Rentenkassen von Jahr zu Jahr wachsende Überschüsse voraussagten. Ging man 1971 noch von überzähligen 100 Milliarden Mark aus, so stieg die Prognose im Folgejahr auf 169 Milliarden Mark an. Eine wenig später vorgelegte Neuberechnung sagte sogar eine Verteilungsmasse von sagenhaften 186 Milliarden Mark voraus. Die Zahlen verstanden sich jeweils aufsummiert bis zum Jahr 1986, auf der Grundlage einer bis dahin pausenlos anhaltenden Vollbeschäftigung und gemäß der herrschenden Planungseuphorie „mit elektronischen Datenverarbeitungsanlagen durchgeführt“, also mit der Autorität wissenschaftlicher Präzision ausgestattet.

Als alle Ausgabenprogramme zugleich verwirklicht wurden

Anders als Katzer hielt der finanzpolitische Sprecher der Unionsfraktion und vormalige Minister Franz Josef Strauß die Prognosen in realistischer Einschätzung der Sachlage für alles andere als tragfähig. Für eine kräftige Rentenerhöhung plädierte er trotzdem – aus wahltaktischen Gründen. Als der Bundestag im Juni 1971 die routinemäßig anstehende Rentenanpassung debattierte, verlangte die Union statt der regulären 6,3 Prozent plötzlich eine Erhöhung um satte 11,3 Prozent. Das brachte die SPD ins Grübeln, ob sie allein mit der geplanten Flexibilisierung der Altersgrenze, also der faktischen Absenkung des Rentenalters, noch gegenhalten könne. „Die vorgesehene Einführung der flexiblen Altersgrenze trifft keinen unmittelbar“, gab der SPD-Fraktionsvorsitzende Herbert Wehner zu bedenken, „während von einer Erhöhung zwölf Millionen Rentner betroffen werden.“

Der Streit um die verschiedenen Konzepte zog sich noch mehr als ein Jahr hin. Am Ende kam es, wie es kommen musste: Man einigte sich, alle Ausgabenprogramme zugleich zu verwirklichen. Auf der Seite der SPD spielte dabei auch der Gesichtspunkt eine Rolle, dass Brandts anspruchsvolles Reformprogramm beim veränderungsresistenten Wahlvolk auf zunehmenden Unwillen stieß. Die Regierung wollte eine Reform, so der Historiker Hockerts, die „dem Bürger zugleich eine Pause beim Mehr-Demokratie-Wagen gönnte und statt dessen seine tiefe Sehnsucht nach dem fürsorglichen Vater Staat sanft berührte“.

Hinzu kam, dass die Regierung durch den Rücktritt des Wirtschafts- und Finanzministers Karl Schiller die eine entscheidende Stimme im Bundestag verloren hatte, die ihr nach den Turbulenzen um die Ostverträge noch verblieben war. Mit ihrer neuen Mehrheit setzte die Union einige kleinere Änderungen durch, das Gesamtpaket verabschiedete das Parlament am 21. September 1972 einstimmig, als letzten gesetzgeberischen Akt vor der vorzeitigen Selbstauflösung. Dass die SPD bei der anschließenden „Willy-Wahl“ das beste Ergebnis ihrer Geschichte einfuhr, hatte sie nach Hockerts’ Urteil nicht zuletzt dem Umstand zu verdanken, dass das von der Opposition erzwungene sozialpolitische Wohlfühlklima am Ende den Regierenden zugute kam. Die notwendigen „Abbrucharbeiten an der Rentenreform“ blieben dem SPD-Kanzler Helmut Schmidt vorbehalten, der von 1977 an die von der Union erzwungenen Neuerungen Stück für Stück zurücknahm.

Wie die CDU den Erfolg der Linkspartei ermöglichte

Insofern folgten die Wähler durchaus einem richtigen Instinkt, als sie sich in ihrem Protest gegen die Schrödersche Reformagenda zunächst den Unionsparteien zuwandten. Zu Beginn der rot-grünen Regierungszeit stellte die Union nur fünf Ministerpräsidenten, die SPD dagegen elf. Im Jahr 2005 war es genau umgekehrt. Es war eine in den ersten 50 Jahren der Bundesrepublik verlässlich eingeübte Routine, dass die Wählerschaft die beiden großen Volksparteien auf der Suche nach materiellen Vorteilen gegeneinander ausspielte wie ein verzogenes Kind seine Eltern, wobei sich die insgesamt längere Regierungszeit der Unionsparteien auch daraus erklärt, dass sie mit ihrem konservativen Konzept des Versorgungsstaates dieser Bequemlichkeit stärker entgegenkam als die SPD. Deren anspruchsvollere Idee einer Aufstiegsgesellschaft musste einer Mehrheit der Wählerschaft eher erscheinen wie die strenge elterliche Nachfrage, ob man seine Hausaufgaben denn schon gemacht habe.

Dieser Mechanismus erklärt, warum die neue politische Formation der Linkspartei nicht unmittelbar aus der Agenda-Debatte des Jahres 2003 hervorging, sondern vielmehr aus dem Bundestagswahlkampf 2005. Erst als auch die CDU dem letzten Wähler verdeutlicht hatte, dass von ihr sozialpolitisch nichts mehr zu erhoffen war, eröffnete sich der Raum für eine neue politische Formation. Ganz unabhängig von konkreten Wählerströmen lässt sich daher festhalten: Letztlich war es der Kurswechsel auch der Union, der den Erfolg der Linkspartei begründete. Die Agendapolitik der SPD allein hätte das nicht vermocht.

Um den revolutionären Charakter dieses Richtungswechsels in seinem ganzen Ausmaß zu verstehen, muss man in der deutschen Geschichte weit zurückgehen. Der Sozialkonservatismus der politischen Rechten in Deutschland war keineswegs eine Erfindung Adenauers. Der Staat als Bändiger des Pöbels: Das ist eine durchgehende Tradition obrigkeitlicher Sozialpolitik in Europa, seit sich am Ausgang des Mittelalters die altständische Gesellschaftsstruktur aufzulösen begann. Der Prozess zog sich über Jahrhunderte hin und geht erst mit der radikalen Individualisierung der Gegenwart seiner Vollendung entgegen. Jeder neue Individualisierungsschub löste in den Mittel- und Oberschichten neue Ängste und Debatten über die Bändigung der Unterschichten aus, erst am Beginn der Neuzeit, dann mit der Industrialisierung, schließlich mit der Auflösung der klassischen Industriegesellschaft in der Gegenwart.

Mit der wachsenden Ausdifferenzierung der Gesellschaft in verschiedene, untereinander kaum noch kommunizierende Kulturen, so der Politologe Herfried Münkler, „schwand bei den oberen Schichten das Verständnis für die Sozialorganisation der unteren Schichten. Sie wurden nurmehr wahrgenommen als ein Chaos aus Triebhaftigkeit, Leidenschaften und Affekten. Verbote, Ausgrenzungen und Einschließungen waren die Folge“. So habe sich der frühneuzeitliche Macht- und Ordnungsstaat als Bändiger eines vorgeblich „unbeherrschten und wankelmütigen Pöbels“ legitimiert.

Sozialpolitik hieß, die Ansprüche der Unterschicht zurückzuweisen

Die Folge war ein zynisches Verständnis von Politik, das den Kernbereich der Politik als Arcanum betrachtete und nach außen die Fassade einer mediengerechten Inszenierung aufbaute, die den vermeintlich niederen Bedürfnissen der Masse entgegenkam. Sozialpolitik bestand in einer solchen Sicht zunächst darin, die angeblich überzogenen Ansprüche der Unterschichten zurückzuweisen – etwa wenn die kurbrandenburgische Kirchenordnung von 1540 die Fastentage in Hartz-IV-Rhetorik mit dem Argument rechtfertigte, das unverständige Volk müsse an Verzicht und Einschränkungen gewöhnt werden.

In ähnlicher Intensität kam das Unterschichtenproblem erst in einer neuen Phase sozialer Mobilisierung auf die Agenda, in der beginnenden Industrialisierung des frühen 19. Jahrhunderts. Die eigentliche Geburtsstunde der Debatte über Sozialreform schlug, als eine Gruppe von Webern aus dem schlesischen Dorf Peterswaldau die Villen einiger besonders verhasster Fabrikanten stürmten und die Einrichtung verwüsteten. Als das preußische Militär eingriff, wurden elf Aufständische erschossen und weitere 24 schwer verletzt. Solche Revolten verarmter Weber waren in jenen Jahren, nicht nur in Schlesien, keineswegs selten. Die Berufsgruppe war wie kaum eine andere aufgrund technischer Modernisierung, kostengünstiger Importe und der wachsenden Konkurrenz billiger Arbeitskräfte ins soziale Abseits geraten. Es handelte sich um klassische Globalisierungsverlierer. Das Besondere an den Ereignissen von Peterswaldau war aber das kaum vorherzusehende Echo, das sie in Medien und Öffentlichkeit plötzlich fanden. Nicht nur linksorientierte Publizisten wie der Dichter Heinrich Heine schrieben Verse über die schlesischen Weber. Wichtiger war, dass auch Konservative im Umgang mit der sozialen Frage nun nicht mehr allein auf polizeiliche Mittel vertrauen mochten.

Dabei waren die Lösungsansätze der konservativen Sozialreform kaum weniger rückwärtsgewandt als die Globalisierungskritik der maschinenstürmenden Weber. Dem Weltbild beider Seiten lag eine vormodern-zünftige Idee vom selbständigen Mittelstand der kleinen Bauern, Handwerker und Kaufleute als tragende Säule der Volkswirtschaft zugrunde. Von den frühen Sozialreformern, die sich bereits 1844 im Centralverein für das Wohl der arbeitenden Klassen organisierten, wurde der Begriff Reform noch „wörtlich verstanden“, wie der Historiker Christof Dipper formuliert. Sie bezogen sich nicht auf die Zukunft, sondern orientierten sich „am entschwundenen Ideal der Eigentümergesellschaft“ und an einem Weltbild, das auf „Paternalismus und soziale Harmonie“ ausgerichtet war.

Der Nationalökonom Lorenz von Stein veröffentlichte 1850 ein mehrbändiges Werk über „Die Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich“, in dem er ein Königtum der sozialen Reform propagierte: „Alles Königtum wird fortan entweder ein leerer Schatten, oder eine Despotie werden, oder untergehen in Republik, wenn es nicht den hohen sittlichen Mut hat, ein Königtum der sozialen Reform zu werden.“ Im Gegensatz zu anderen konservativen Sozialreformern sah Stein „die soziale Frage, deren Lösung durch die soziale Reform angestrebt wird“, bereits in den Gesetzmäßigkeiten begründet, „welche das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit beherrschen“, und er betonte, dass „alle Bewegungen der Gesellschaft notwendig durch das Interesse beherrscht“ würden. Daher werde die Verwirklichung eben dieser sozialen Reform allein durch die Erkenntnis ermöglicht, „dass das eigene Interesse der Gesellschaft diese Reform fordert, um durch sie der sonst unausbleiblichen sozialen Revolution zu entgehen“.

Dies blieb zunächst eine Einzelmeinung. Erst mit der Gründung des Kaiserreichs 1870/71 und der bald danach einsetzenden Großen Depression gewann die Debatte über Sozialreformen wieder an Intensität, mit dem vertrauten paternalistischen Grundton und im Umfeld einer wieder zunehmend globalisierungskritischen Stimmung. Nach harten parteipolitischen Kämpfen führte Reichskanzler Bismarck im Jahr 1879 ein System von Schutzzöllen ein, das Landwirtschaft und Schwerindustrie gleichermaßen begünstigte – ein globalisierungsfeindliches Bündnis von Korn und Stahl, das auf die Interessen modernerer Wirtschaftszweige ebenso wenig Rücksicht nahm wie auf das Interesse der Konsumenten an niedrigen Preisen. Damit geriet die europäische Politik bereits lange vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs auf eine Rutschbahn wechselseitiger Abschottung.

Für Eigenverantwortung und Zivilgesellschaft

Wenig später begann Bismarck, die Gesetze über die Sozialversicherung auf den parlamentarischen Weg zu bringen. Die später so gelobte Innovation war bei den Zeitgenossen heftig umstritten. Niemand bekämpfte deren Einführung in den 1880er Jahren vehementer als die Sozialdemokratie. Das lag keineswegs nur daran, dass der Reichskanzler gleichzeitig die Peitsche des Sozialistengesetzes schwang. Es war auch die Idee einer staatlichen Zwangsversicherung selbst, gegen die sich die Arbeiterpartei wandte. Das zeigte sich schon bei der ersten der parlamentarischen Verhandlungen, als es um die Einführung der Krankenversicherung ging. Mit einem leidenschaftlichen Plädoyer für Eigenverantwortung und Zivilgesellschaft eröffnete der sozialdemokratische Abgeordnete Julius Kräcker am 15. Mai 1882 die Plenardebatte im Reichstag. „Man muss endlich einmal dahin kommen“, befand Kräcker, „den Arbeitern die Führung ihrer Krankenkassengeschäfte selbst zu überlassen.“

Zwei Jahre später brachte Bismarck das zweite Gesetz ein, diesmal ging es um die Unfallversicherung. Der führende Exponent des rechten Flügels der SPD, der bayerische Abgeordnete Georg von Vollmar, zeigte sich dem Kanzler gegenüber keineswegs konzilianter. Seine Partei werde „den vorliegenden Gesetzentwurf energisch bekämpfen“, wetterte er in Richtung Regierungsbank. Noch nie sei ein Unternehmen „jämmerlicher zugrunde gegangen“ als Bismarcks „Firma der Sozialreform“. Statt Arbeitsunfälle nachträglich zu entschädigen, solle der Staat lieber vorbeugen – mit besseren Schutzbestimmungen.

Als der Kanzler schließlich am Nikolaustag des Jahres 1888 die Rentenversicherung vor das Parlament brachte, wollte die Sozialdemokratie auch von diesem Geschenk nichts wissen. Es gebe „weit wichtigere Akte auf dem Gebiet der sozialen Gesetzgebung“ als ausgerechnet eine Alters- und Invaliditätsversorgung, erklärte SPD-Debattenredner Karl Grillenberger. Seiner Partei sei es am liebsten, wenn das Gesetz „von vornherein abgelehnt würde“. Allerdings hatte sich die Argumentation zu diesem Zeitpunkt bereits deutlich verschoben. Den staatlichen Einfluss wollten die Sozialdemokraten nicht mehr zurückdrängen, im Gegenteil sollte der Fiskus „viel mehr leisten, als gegenwärtig projektiert wird“. Darin steckte aber bereits die Erkenntnis, dass eine auskömmliche Altersversorgung aus Beiträgen allein nicht zu finanzieren war. Bereits hier zeigte sich das spätere Grundmuster, dass sich die Sozialdemokratie beim Aufbau eines Versorgungsstaats von den Konservativen treiben ließ.

Es ist deshalb ein beispielloser Kulturbruch in der Geschichte des deutschen Konservatismus, dass die christdemokratische Bundeskanzlerin plötzlich das sozialdemokratische Konzept der Aufstiegsgesellschaft unter dem Schlagwort von der „Bildungsrepublik“ zum Kern der CDU-Programmatik erklärt. Merkels Abkehr vom Sozialkonservatismus, den sie bereits auf dem Leipziger Parteitag 2003 vollzog, wird durch die neuerliche Akzentverschiebung – anders als manche Kritiker vom wirtschaftsnahen Parteiflügel glauben – keineswegs relativiert. Er wird ganz im Gegenteil dadurch erst komplett gemacht. Der staatstreue Untertan, der bereitwillig materielle Alimentation gegen sozialstrukturelle Genügsamkeit eintauschte, wird damit endgültig an die Linkspartei verwiesen.

Aufstieg durch Bildung war nie ein konservatives Programm, auch wenn sich manche Kommentatoren mit einer verschwommenen Idee von Bürgerlichkeit am Beweis des Gegenteils versuchen. Es ist aber auch ein anspruchsvolles Programm, dessen Wirksamkeit bei Wahlen noch keineswegs erwiesen ist. Zwar hat die Union durch Unachtsamkeit in der Schulpolitik bei einer Reihe von Landtagswahlen Stimmen eingebüßt. Gerade diejenige Klientel, die etwa den Leistungsdruck des achtjährigen Gymnasiums beklagt, wird sich aber durch die Aufforderung zu mehr und intensiverer Bildung kaum begeistern lassen. Lebenslanges Lernen: Diese Forderung dürfte auf bildungsferne Kreise der Bevölkerung eher als Drohung denn als Verheißung wirken. Kaum jemand weiß das besser als Jürgen Rüttgers, der christdemokratische Arbeiterführer Nordrhein-Westfalens. Er kommentierte Merkels neues Programm mit den Worten, Bildung sei „nicht der Kern der sozialen Marktwirtschaft“.

Die SPD hat es deshalb lange nicht gewagt, ihr ureigenes Thema der Aufstiegsgesellschaft in den Mittelpunkt politischer Auseinandersetzungen zu stellen. Das galt umso mehr, als die Erinnerung an die Bildungsdebatte geradezu traumatisierend wirkte. Der Streit um die Gesamtschule oder die heute fast vergessene Debatte um die hessische Rahmenrichtlinie für das Fach Gemeinschaftskunde trugen maßgeblich zum Niedergang der Brandt-Regierung bei. Hier rief keineswegs ein Sparprogramm Widerstand hervor, sondern großzügige staatliche Ausgabenpolitik. Die meisten der Reformen seien nicht am fehlenden Geld gescheitert, schreibt der damalige Kanzleramtsminister Horst Ehmke rückblickend, „sondern weil es für sie keine Mehrheiten gab“. Jetzt hat die Union plötzlich das Thema usurpiert, für das sich die SPD so lange schämte.

Quellen und Literatur

Christof Dipper, Sozialreform: Geschichte eines umstrittenen Begriffs, in: Archiv für Sozialgeschichte 32 (1992), S. 323-352.
Horst Ehmke, Mittendrin: Von der Großen Koalition zur Deutschen Einheit, Berlin 1994.
Hans Günter Hockerts, Vom Nutzen und Nachteil parlamentarischer Parteienkonkurrenz: Die Rentenreform 1972 – ein Lehrstück, in: Karl Dietrich Bracher (Hrsg.), Staat und Parteien, Festschrift für Rudolf Morsey zum 65. Geburtstag, Berlin 1992, S. 903-934.
Ders.: Sozialpolitische Reformbestrebungen in der frühen Bundesrepublik: Zur Sozialreform-Diskussion und Rentengesetzgebung 1953-1957, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 25 (1977), S. 341-372.
Herfried Münkler, Im Namen des Staates: Die Begründung der Staatsräson in der frühen Neuzeit, Frankfurt am Main 1987.
Lorenz von Stein, Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage, 3 Bände, Ndr. München 1921 (zuerst 1850).
Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages, 5. Legislaturperiode, I. Session 1881/82, Zweiter Band, S. 214-216 (Krankenversicherung); 5. Legislaturperiode, IV. Session 1884, Erster Band, S. 35-41 (Unfallversicherung); 7. Legislaturperiode, IV. Session 1888/89, Erster Band, S. 145-161 (Rentenversicherung).
Verhandlungen des Deutschen Bundestags, Stenografische Berichte, Band 18, Bonn 1954, S. 11-22 (Regierungserklärung Adenauer); Band 74, Bonn 1970, S. 20-34 (Regierungserklärung Brandt).

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