Déjà-vu Schwarz-Gelb

In ihren ersten Monaten hat die neue Regierung jede Menge Fehler von Rot-Grün kopiert - und zusätzliche gemacht. Sie wird aus Schröders Scheitern lernen müssen. Tut sie dies nicht, steht einstweilen keine Ersatzregierung mehr bereit

Wer die Windungen rot-grüner Reformpolitik zwischen 1998 und 2005 intensiv verfolgt hat, erlebt in diesen Tagen ein erstaunliches Déjà-vu. Eine politische Paarung, die schon vor Ewigkeiten an den Zäunen von Kanzleramt und Außenministerium rüttelte, hält mit der gefühlten Verspätung von ein bis zwei Wahlperioden Einzug in die Schaltstellen der Macht. Vom einstigen „Projekt“ ist jedoch wenig geblieben; da geht es Angela Merkel und Guido Westerwelle kaum anders als einst Gerhard Schröder und Joschka Fischer.

Hinter den Protagonisten lag damals wie heute ein Wahlkampf, der im Abstrakten auf eine Rhetorik der Mitte und im Konkreten auf die Wünsche der jeweils eigenen Klientel setzte. Was sich damals im Antagonismus zwischen Gerhard Schröder und seinem Parteichef Oskar Lafontaine ausdrückte, verkörperte diesmal Angela Merkel in einer Person. Ihr Profil oszillierte zwischen einer angeblichen Sozialdemokratisierung, die in Wahrheit eine Adenauerisierung war, und klassisch wirtschaftsliberalen Wünschen wie der Forderung nach niedrigeren Steuersätzen.

Die eigene Kernwählerschaft erwartet gerade nach solch einem verspäteten Wahlsieg zunächst die Erfüllung allzu lang gehegter Wünsche, ein Signal, dass sich mit dem Regierungswechsel wirklich etwas ändert. Bei Schröder und Lafontaine war das etwa die Abschaffung des demografischen Faktors in der Rentenversicherung, der einige Jahre später als Nachhaltigkeitsfaktor zurückkehrte. Bei Merkel und Westerwelle sind es vornehmlich die Steuernachlässe für Unternehmen, Erben und Hotelbetreiber, die später in Form steigender Steuern und Abgaben an anderer Stelle zu bezahlen sind. Schwarz-Gelb steht mithin ein ähnlicher Kurswechsel bevor, wie ihn Rot-Grün nach Lafontaines Flucht aus den politischen Ämtern im Frühjahr 1999 vollzog. Absehbar ist auch, dass sich aufgrund der massiven Interessengegensätze im Regierungsbündnis ein ähnliches Auf und Ab der Reformkonjunkturen ergeben wird. Absehbar sind schließlich die äußeren Anlässe für einen solchen Politikwechsel: die nordrhein-westfälische Landtagswahl im Mai, die fast zeitgleich stattfindende Steuerschätzung – und im ungünstigen Fall ein neuerlicher Konjunktureinbruch.

Die Frage ist, auf welche Weise Schwarz-Gelb den nötigen Kurswechsel einleiten kann – und ob die neue Regierung dabei ähnlich wie einst Gerhard Schröder bereit ist, auch Zumutungen an die eigene Klientel zu formulieren. Bei einer Neuverschuldung von 85 Milliarden Euro allein im Jahr 2010 ist die Aufgabe ungleich größer als jene, die Schröder mit seiner Agenda 2010 zu bewältigen hatte. Erst recht, wenn die Wirtschafts- und Finanzkrise entgegen optimistischer Erwartungen in eine zweite Runde geht. Das ökonomische Großexperiment weltweiter keynesianischer Schuldenprogramme ist historisch ohne Beispiel, sein Ausgang nicht seriös vorauszusagen.

Eine Krise dieser Dimension könnte Reformprogramme ermöglichen, die in regulären Zeiten als undurchführbar galten – die Entkoppelung der Gesundheits- von den Arbeitskosten etwa, die Umstellung der Altersversorgung auf eine Grundrente oder eine Reform der Steuerstruktur, die statt einer Nettoentlastung der Verteilung der Krisenkosten dient. Eine solche Politik wird aber an die Barriere der gegenreformatorischen Stimmung stoßen, die Agendapolitik und Bankenkrise hervorgerufen haben. Die sozialpsychologisch gebotene Belastung der Besserverdienenden allein wird die Finanzprobleme nicht lösen können.

Interessiert sich die FDP überhaupt für immaterielle Themen?

Angesichts der Haushaltszwänge ist schon jetzt absehbar, dass insbesondere die CDU publikumsträchtige Aktivitäten eher auf gesellschaftspolitischem Feld entfalten und versuchen wird, der ewigen Rede über das Geld einen immateriellen Reformdiskurs entgegenzusetzen. Eine solche Politik ist mit den notorischen Materialisten von der FDP allerdings wesentlich schwerer durchzusetzen, als sie es mit den postmaterialistischen Grünen als Koalitionspartner gewesen wäre. Auch auf diesem Feld gilt die Regel, dass Reformen am ehesten von derjenigen Partei durchzusetzen sind, die dabei eigene Besitzstände aufgeben muss. So hat die frühere Bundesminsterin für Familie, Ursula von der Leyen in der Frage der Kinderbetreuung scheinbar festgefügte Überzeugungen der Unionsparteien hinter sich gelassen – auch wenn mit der Debatte um das Betreuungsgeld, für Reformprozesse typisch, bereits die Phase der Gegenreform angebrochen ist. Im neuen Amt schickt sich die Ministerin an, das Betreuungsthema auf die Schar der Arbeitslosen auszuweiten.

Auch auf dem Gebiet von Integrationspolitik und Sicherheitsgesetzen kann vermutlich nur ein konservativer Minister die Verhärtungen aufweichen, die der sozialdemokratische Amtsinhaber Otto Schily bewusst provozierte, um seine Partei auf diesem Feld unangreifbar zu machen. Auch dürfte es einem christdemokratischen Umweltminister leichter fallen als seinen rot-grünen Vorgängern, eine ressourcenschonende Politik auch Wachstumsideologen alten Stils näherzubringen. In der eminent wichtigen Bildungspolitik ist Angela Merkel allerdings schon am deutschen Föderalismus gescheitert. Für die Milliardenbeträge, die sie den Ministerpräsidenten im vorigen Dezember versprach, wird sie eine Zweckbindung kaum noch verbindlich festschreiben können.

Im zähen Geschäft der Politik belohnt das Leben oft jene, die spät kommen. Merkel hat den Vorteil, dass sie von Schröders Fehlern lernen kann – und dass die Agendapolitik die SPD vorerst in einem Zustand zurückgelassen hat, in dem sie derzeit kein wirkliches Gegengewicht darstellt. Auch unter diesen Voraussetzungen bleibt die Kombination von beispielloser Finanznot und einer verbreiteten Aversion gegen jede Art von Veränderung eine echte Herausforderung. Wenn auch Schwarz-Gelb daran scheitert, steht eine Ersatzregierung vorerst nicht bereit. «

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