Der nächste Stressfall kommt bestimmt

Entschlossene Terroristen richten mit geringen Mitteln ungeheure Schäden an. Das ist der Kern unserer Verwundbarkeit. Kann das Risiko-Management mit "unvorstellbaren" Zerstörungstaten überhaupt fertig werden?

Es mag unangemessen anmuten, den Anschlag vom 11. September unter den Begriff des Risikos zu stellen. Denn dafür erscheinen die Dimensionen zu gross: weltpolitisch und im Hinblick auf Tausende von Opfern, die alle ihre Geschichte haben, Geschichten, die abrupt und sinnlos abbrachen und deren Abbruch Verheerungen bei den Angehörigen verursacht - vor allem bei den Kin-dern. Dennoch ist es sinnvoll, einen auf den ersten Blick zu kleinen Begriff zu benutzen, um ein größeres Ganzes zu deuten. Es geht nicht an, Katastrophen einfach als Bestandteil des Menüs der Weltgeschichte hinzunehmen. Mit dem Begriff "Risiko" wird auch die Hoffnung zum Ausdruck gebracht, Fehlschläge im Kontext des unvermeidbaren menschlichen Handelns und einer mehr oder weniger durchschaubaren Umwelt kalkulierbar machen zu können.


Risiko, als Möglichkeit definiert, dass Ziele aus beliebigen Gründen, vor allem aber auf Grund von Störungen, nicht erreicht werden, setzt kalkulierendes Verhalten voraus. Man möchte einschätzen, wie groß mögliche Schäden sind, die aus an sich rationalem Verhalten folgen können. Kann man diesen Risikobegriff auch auf die Anschläge in New York und die damit verbundenen politischen Hintergründe anwenden? Hier ist zunächst die oft genannte Tatsache ins Blickfeld zu rücken, dass im Zeichen der Globalisierung unsere Gesellschaften verwundbarer geworden sind. Wissen hat sich globalisiert, Zugänge zu tödlichem Wissen sind nicht mehr exklusiv, nicht mehr abgeschirmt wie die Zugänge zu staatlich verbarrikadierten Fabriken der atomaren Waffen. Die Täter hatten "keine Hardware, aber jede Menge Software im Kopf", wie Ulrich Raulff in der Süddeutschen Zeitung formulierte. Zudem fällt eine Asymmetrie auf: Das Hauptrisiko der hochkomplexen Industriegesellschaften liegt darin, dass sie leichter verwundbar sind, als sie sich bisher eingestanden haben. Ein klares Zerstörungskonzept vorausgesetzt, braucht es relativ geringe physische und finanzielle Mittel, um bis jetzt nur schwer vorstellbare Wirkungen zu erzielen. Nimmt man den Risikobegriff ernst, muss er sich deshalb auch auf Undenkbares beziehen. Tut er es nicht, taugt er nur für den Normalfall und eignet sich nicht mehr für jene Konstellationen, die wirtschaftliches und gesellschaftliches Handeln lähmen können.

Große Schäden, immer größer

Gerade die (Rück-)Versicherungswirtschaft hat einschlägige Erfahrungen gemacht. Wenn wir von Stürmen und Naturkatastrophen mit ihren kumulativen Wirkungen absehen, waren in der Industrieversicherung noch in den späten sechziger Jahren Grossunfälle mit bis zu 50 Millionen Dollar Schadenwirkung spektakulär. In den siebziger Jahren war es bereits eine Zehnerpotenz mehr, während die "Symbolkatastrophen" von 1986 (Tschernobyl, Challenger und Schweizerhalle) vor allem die menschliche Leidensdimension und die sozialpsychologisch-kommunikativen Aspekte ins Zentrum rückten. Mit dem Brand eines Kunststoffwerks in Pasadena (Kalifornien) wurde 1992 die Grenze eines Dollar-Milliardenschadens gleich deutlich überschritten, wobei die indirekten Schäden dominierten. Und heute? Noch werden die Schäden berechnet, doch steht bereits fest, dass der 11. September nicht bloß unermessliches Leid bewirkt hat, sondern auch einen Gesamtschaden, der erneut eine Verzehnfachung bedeutet. Jede dieser Stufen
schien aus der Perspektive des vorangegangenen Jahrzehnts mehr oder weniger "undenkbar".

Der unterkomplexe Angreifer

Diese Historie der Versicherungsschäden ist die Historie einer Diskrepanz: dass nämlich in den vergangenen Jahrzehnten das Ausmaß der jeweils größten Einzelschäden bedeutend stärker zunahm als das zugrunde liegende Wirtschaftsprodukt. Diese Tatsache, auch als diseconomies of risk bezeichnet, steht in enger Wechselwirkung mit den wohlbekannten economies of scale: Um jeweils einen weiteren Zuwachs an Effizienz (sprich: Senkung der Durchschnittskosten von Produkten) zu erzielen, müssen mit Blick auf den seltenen Extremfall Gefahrenpotenziale in Kauf genommen werden, welche nach und nach in gesamtgesellschaftliche und gesamtwirtschaftliche Größenordnungen hineinwachsen.


Worin die gravierenden und längerfristigen Wirkungen dieses Zusammenhangs bestehen, ist noch kaum untersucht, denn solche (Versicherungs-)Erkenntnisse sind in der Regel nicht attraktiv. Bei einer ersten Analyse fällt aber auf, dass die entsprechenden Risiken grundsätzlich versicherbar waren, also im Prinzip als "zufällig ausgelöst" betrachtet wurden, selbst wenn die Störungsauslösung durch Dritte absichtlich erfolgt sein sollte. Diese "Großzügigkeit" im Umgang mit generellen Versicherungsprinzipien konnte solange in Kraft bleiben, wie in der Regel nicht Absicht im Spiel war und kaum Objekte mit höchstem Schadenpotenzial in Mitleidenschaft gezogen wurden. Der Ausgleich solcher Risiken über normale wirtschaftliche Versicherungsmechanismen stößt aber dort an Grenzen, wo die angesprochene Asymmetrie wirksam wird: bei der Differenz zwischen den hochkomplexen Strukturen der Informationsgesellschaft und den wesentlich weniger komplexen Strukturen im Umfeld des Terrorismus. Diese Asymmetrie steigert die Verwundbarkeit, weil der "unterkomplexe" Angreifer gegenüber einem komplexen System immer im Vorteil ist.


Zur Abschätzung der weiteren Entwicklung kann (rückwärts gerichtete) Statistik wenig beitragen. Vielmehr geht es darum, nach Mustern zu suchen, die sich zwar auf Erfahrungen stützen, aber in der Lage sind, neuartige Faktoren in Szenarien und Handlungsentwürfe einzubeziehen. Bisher wurden vergleichbare Risiken hauptsächlich im Zusammen-hang mit der Kernenergie diskutiert. Dabei ist es im Rahmen von so genannten Ereignisablaufanalysen gelungen, ein Höchstmaß an Präzision zu erhalten. Allerdings muss jede noch so sorgfältige Analyse das berühmte "Restrisiko" in Rechnung stellen. Wie dieses Restrisiko angesetzt wird, ist eine politische Entscheidung - ob man will oder nicht. Natürlich setzen terroristische Anschläge den Risikoanalysen Grenzen. Die Täter setzen bewusst an Schwachstellen an, betreiben also "negatives Risiko-Management". Hier erreicht das Denken in Wahrscheinlichkeiten Grenzen. Die Mustererkennung muss sich vor allem auf die extremen Konsequenzen konzentrieren, wohl wissend, dass wir uns in Lebensräumen und technischen Systemen bewegen, die sich nicht einfach abschalten oder abschaffen lassen.

Symbolische Macht, reale Verwundbarkeit

Um solche Faktoren in die Risikoanalyse einzubeziehen, geht das Konzept des Risiko-Managements von einem Störmuster aus, das auch die "weichen Faktoren" und besonders das Phänomen der "Verwundbarkeit" einbezieht. Ausgangspunkt ist ein konkretes System, im vorliegenden Fall etwa die New York Port Authority, Eigner und Betreiber der Twin Towers. So hart es sich anhört - der Terrorakt äußert sich zunächst in der Beeinträchtigung der leistungswirtschaftlichen, sozialen und finanziellen Ziele dieses Unternehmens. Was dabei abläuft, wird im "Störprozess" auf einige Grundelemente reduziert und auf verschiedene Umweltsysteme bezogen.

Er enthält die Elemente der Störquelle, der Störungsart, des Störungsobjektes und der gestörten Vollzugsprozesse, die in ihrer Gesamtwirkung die Zielabweichungen bewirken. Wenn es darum geht, tiefgreifende Störprozesse mit katastrophalen Folgen zu analysieren, ist es unabdingbar, die technische und die finanzielle Perspektive um die psychologische und die soziale zu ergänzen. Denn in diesen Dimensionen des Risikos finden die wesentlichen Wahrnehmungen und Bewertungen statt. Für die Beurteilung der Verwundbarkeit ist nun nicht die Störung an sich, sondern die Gesamtwirkung maßgebend. Es wird in diesem Zusammenhang deutlich, wie stark Verwundbarkeit davon abhängt, welche Funktionen das analysierte System wahrnimmt: Sind es für die Port Authority vor allem die wirtschaftlichen Leistungen (wie Infra-strukturleistungen für den Financial District), so treten mit Blick auf die Gesellschaft als Ganzes ganz andere, umfassendere Funktionen in den Vorder-grund: Als Anziehungspunkt für die Touristen, als Wahrzeichen von New York und als Symbol für die grösste Wirtschaftsmacht kumulierten sich die Funktionen der Twin Towers - und sind damit Ausdruck extremer Verwundbarkeit.


Die Analyse von Störfällen zeigt immer wieder, dass nur die "normalen" - also denkbaren und gewohnten - Prozesse problemlos im Risiko-Management Eingang finden. In diesem Zusammenhang ist die Unterscheidung zwischen "Aktionsrisiken" und "Bedingungsrisiken" sinnvoll. Aktionsrisiken zeichnen sich dadurch aus, dass konkret vorhandene Ziele und Pläne auf Grund von Störungen nicht erfüllt werden. Den Beteiligten ist das Prozedere bekannt, und sie können mögliche Abweichungen beurteilen.

Warner machen nicht Karriere

Im Gegensatz dazu zeichnen sich Bedingungsrisiken dadurch aus, dass vorausgesetzte Rahmenbedingungen verletzt und die normalen Prozesse oft indirekt tangiert werden. Damit erhöht sich nicht nur der Überraschungseffekt; auch die Reaktionen lassen sich nur begrenzt vorbereiten. Das gefährdete System erlebt den Störfall nicht als "normalen" Prozess, sondern im Sinne einer negativen Überraschung. Aus diesem Grund unterliegen Bedingungsrisiken einer Reihe von Führungskomplikationen, von denen hier drei erwähnt seien, nämlich fehlende Erfahrung, Mangel an Wissen sowie Verdrängung und Verleugnung der Gefahren.

Die Konsequenz daraus ist, dass Verwundbarkeit zwar relativ leicht zu eruieren ist, sich aber als Aspekt des Führungsgeschehens nur schwer im Betriebsalltag berücksichtigen lässt. Illustrieren lässt sich dies an den Geheimdiensten. Warum haben die hoch bezahlten Geheimdienste von den Vorbereitungen der Anschläge vom 11. September nichts gemerkt? Dieses Versäumnis könnte damit zusammenhängen, dass es für die Mitarbeiter vor den Bildschirmen risikoreich sein kann, jeden Verdacht an die Vorgesetzten weiterzuleiten, denn in der Regel erweisen sich die meisten verdächtigen Zeichen als harmlos. Wer gleichwohl jeden Verdacht meldet, kann leicht als übereifrig gelten und damit seine Karriere gefährden. Also wird er sich seine Meldungen überlegen und im Zweifelsfall schweigen. Das kennen wir auch aus der Wirtschaft. Mit Warnungen macht man keine Karriere. Die Tatsache, dass eine Katastrophe nicht eingetreten ist, kann man nicht feiern, einen erfolgreichen Geschäftsabschluss schon. Wer wagt, gewinnt: Aus diesem Grund sind Aktionsrisiken attraktiver. Sie bergen mehr "Heldenpotenzial" als Bedingungsrisiken.

Das Risiko als Produktionsfaktor

Wenn Bedingungsrisiken immer mehr Bedeutung gewinnen und wenn die Verwundbarkeit der einzelnen Institutionen und der Gesellschaft drastisch zunimmt - warum haben dann selbst gut geführte Institutionen in den vergangenen Jahren die Fähigkeiten im Umgang mit relevanten Bedingungsrisiken und mit der Verwundbarkeit eher abgebaut? Dies erklärt sich am ehesten aus dem globalen Erfolg des rein quantitativ interpretierten Risk-Managements, basierend auf den modernen Finanzmarkttheorien. Dominierte früher die Prävention und die Unfallperspektive den Umgang mit dem Risiko, so hat sich in den letzten Jahren die Perspektive auf die Risikoübernahme (und deren Entschädigung am Kapitalmarkt) verlegt. Risiko wurde zum Ertragsbringer, ja zum eigentlichen Produktionsfaktor, einem Faktor, der mit Blick auf den optimalen Kapitaleinsatz bewirtschaftet wird. Damit hat sich das Management des Risikos stillschweigend auf die Optimierung des Normalfalls verschoben, legitimiert durch die immer breitflächiger angewandten Value at Risk-Modelle (VaR).

Die neunziger Jahre haben sorglos gemacht

Angesichts von Größtrisiken ist dies höchst problematisch. So stellt der Finanzmarktwissenschaftler Heinz Zimmermann fest, dass diese Modelle die Wahrnehmung von Risiken nachhaltig verändert haben. Wohl werden in ihnen Aussagen darüber gemacht, mit welcher Wahrscheinlichkeit (meist ein Prozent) bestimmte Verluste überschritten werden, doch fehlt eine präzise Information darüber, was bei Überschreitungen (also in sogenannten Stressfällen) wirklich passiert, obwohl der Stressfall eben kein bloß um ein paar Standardabweichungen aufgeblähter Normalfall ist. In extremen Marktsituationen, in sektorübergreifenden Krisen oder bei Schwächen im Zahlungssystem fallen gemäß Zimmermann jene Rahmenbedingungen dahin, die das Modell als gegeben voraussetzt. Und noch schärfer: "VaR-Maße lassen jenen Teil der Wahr-scheinlichkeitsverteilung außer acht, der für das Risikomanagement am relevantesten wäre." Aus diesem Grund fordert er eine Erhöhung der Methodenvielfalt, bei der die Risikobewältigung als evolutionärer Prozess verstanden wird und die komplexen Wahrnehmungsprozesse und Wechselwirkungen ihren Niederschlag im Risikodialog finden.


Was hier bezüglich der Finanzmarktinstrumente kritisiert wird, hat seine Wirkung im Risiko-Management als ganzem. Wir befinden uns in der paradoxen Situation, dass Größtrisikopotenziale sich in den vergangenen Jahren vervielfacht haben, gleichzeitig aber der Umgang mit ihnen "großzügiger" geworden ist. Selbst die (Rück-)Versicherer, welche einerseits nachhaltig auf solche Gefahren hingewiesen haben, waren andererseits auch Optimisten - und müssen nun die Konsequenzen tragen. Darüber hinaus sind die gestiegene Risikobereitschaft und die Vernachlässigung der Verwundbarkeit auch darauf zurückzuführen, dass sich Mitte der neunziger Jahre (mit Ausnahme von Naturereignissen) kaum größere Unfälle ereignet haben, dass die Kapitalmarktresultate glänzend ausfielen und dass zudem die lang andauernde Prosperität dazu (ver)führte, immer größere Risiken selbst zu tragen. Schließlich wurde im Zeichen des Übergangs zur Quartalsperspektive weitgehend vergessen, dass Größtrisiken ihren Ausgleich über längere Perioden finden müssen.


Bereits die rezessiven Tendenzen in der Weltwirtschaft hatten Impulse zu einem Umdenken gegeben. Es wurde gefordert, angesichts von Markt-einbrüchen sowie unglücklichen Ereignisketten die psychologische und die soziologische Komponente im Risiko-Management zu vertiefen. Dies würde den wechselseitigen Abhängigkeiten zwischen Organisationen, Menschen und Finanzsystemen eher Rechnung tragen. Der 11. September wird - hoffentlich - dazu beitragen, dass zwischen der gezielten Risikonahme und der Risikoprävention ein neues Gleichgewicht gefunden wird. Prävention - und mit ihr die langfristige Herabsetzung der Verwundbarkeiten - ist nur denkbar, wo sich Denk- und Handlungsmuster zumindest mit Verständnis begegnen. Ein breit angelegter Risikodialog setzt am ehesten jene Impulse, die eine Brücke zwischen den Denkwelten innerhalb der einzelnen Gesellschaften und über die Kulturen hinweg bauen.

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