Der gute Populismus

In diesen Tagen erscheint in den Vereinigten Staaten ein Aufsehen erregendes Buch. In The Emerging Democratic Majority zeigen John B. Judis und Ruy Teixeira am Beispiel der amerikanischen Demokraten, warum Parteien der linken Mitte die Mehrheitsparteien der Zukunft sind. Doch um die Nase vorn zu haben, müssen sie den Umbruch zur postindustriellen Gesellschaft verstehen. In der Berliner Republik erläutern die beiden Autoren ihre Thesen zum ersten Mal in deutscher Sprache

Der ideenpolitischen Vorarbeit des Democratic Leadership Council (DLC) verdankt die Demokratische Partei in den Vereinigten Staaten viele ihrer Erfolge in den neunziger Jahren. Das DLC war entscheidend, als es darum ging, die Vorwürfe der Republikaner zu entkräften, dass Demokraten stets schwächlich in Fragen von law and order seien. Dass sie großzügig Sozialhilfe verteilten, statt auf Erwerbsarbeit zu setzen. Und dass sie die Partei der Schulden und der Steuern seien.


Seit der Wahl vom November 2000 jedoch haben das DLC und seine Anführer im Kongress eine Kampagne der verbrannten Erde gegen den "Populismus" in der Demokratischen Partei geführt. Sollte diese Kampagne erfolgreich sein, würde sie eine der wichtigsten ideenpolitischen Quellen der Demokraten austrocknen. Das wiederum würde die aktuellen Bemühungen der Partei zunichte machen, ihre 1980 an die konservativen Republikaner verlorene Kongressmehrheit zurückzugewinnen.


Die Kampagne gegen den Populismus war jüngst das Leitmotiv einer Konferenz des DLC in New York. Der Vorsitzende des DLC, Al From, warnte seine Partei davor, die zahllosen aktuellen Unternehmensskandale als Munition für populistische Attacken gegen die Republikaner zu missbrauchen. "In der progressiven Tradition der amerikanischen Politik zu stehen", erklärte From, "heißt nicht, dass wir übles Geschäftsgebaren gutheißen oder uns mit Lobbygruppen in ein Boot setzen. Aber es heißt auch nicht, dass wir als Populisten das kapitalistische System zerstören." Bill Clintons ehemaliger Transportminister Rodney Slater blies in dasselbe Horn: "Der Sinn dieser Konferenz liegt darin, dass wir die Populismusfrage hinter uns lassen", sagte er. Die Demokraten seien drauf und dran, in die Zeit vor 1992 zurückzufallen; dieser Trend gehöre gestoppt.


Die Strategen des DLC sowie der DLC-Meinungsforscher Mark Penn sehen den Grund für die Niederlage von Al Gore bei der Präsidentschaftswahl 2000 darin, dass Gore darauf gesetzt habe, populistisch "das Volk" gegen "die Eliten" in Stellung zu bringen: the people against the powerful. Gores Kandidat für das Amt des Vizepräsidenten, Joseph Liebermann, hat dargelegt, dass Gores "wirtschaftspopulistisches Gedöns" nicht auf der Linie der New Democrats gelegen habe: "Das war kein wachstumsfreundlicher Ansatz. Das hat es uns schwerer gemacht, die Unterstützung von Wechselwählern aus der Mittelschicht zu gewinnen, denn diese Menschen halten Amerika nicht für eine Sache des ‚Wir-gegen-die‘." Senator Evan Bayh aus Indiana ergänzte: "Ich meine, die Strategie war verkehrt, weil sie nicht erfolgversprechend war."


Verkehrt sind in Wahrheit jedoch diese Angriffe gegen den Populismus selbst. Die DLC-Vertreter stellen die politische Geschichte Amerikas auf den Kopf. Den ursprünglichen Populisten ging es nicht darum, den Kapitalismus zu zerstören, im Gegenteil: Sie wollten ihn bewahren. Auch ist der Demokratische Populismus nicht seit 1992 plötzlich verschwunden; vielmehr war er seinerzeit ein integraler Bestandteil von Bill Clintons siegreichem Wahlkampf. Das DLC liegt auch im Hinblick auf das Jahr 2000 daneben: In Wirklichkeit brachte der Wahlkampf im Namen der kleinen Leute gegen die Mächtigen Al Gore um ein Haar den Wahlsieg - Ursache seiner Niederlage war diese Strategie ganz sicher nicht. Schließlich: Sollten sich die Demokraten vor den Kongresswahlen im November dieses Jahres - angesichts von Unternehmensskandalen und Rezession - dafür entscheiden, auf den populistischen Appell zu verzichten, so würden sie die riesige Chance verspielen, ihre Senatsmehrheit zu verteidigen und zugleich das Repräsentantenhaus zurückzugewinnen.


Manche Politikbeobachter und Politiker subsumieren unter den Begriff "populistisch" jede beliebige Bekundung, die es darauf anlegt, den Beifall einer breiten Öffentlichkeit zu gewinnen. Doch wie Michael Kazin in seinem Buch über "Die populistische Überzeugung"(The Populist Persuasion, New York 1995) gezeigt hat, wurzelt der heutige Populismus tief in der amerikanischen Politik des 19. Jahrhunderts. Seine Quellen liegen in der Ära von Präsident Andrew Jackson in den 1830er Jahren sowie in den letzten beiden Dekaden des Jahrhunderts, als im Süden und im Westen des Landes eine populistische Bewegung entstand, aus der später eine populistische Partei hervorging. Partei und Bewegung zerfielen, nachdem ihr Anführer William Jennings Bryan 1896 die Präsidentschaftswahl verloren hatte. Aber viele der politischen Forderungen der Populisten - etwa die nach einer progressiven Einkommenssteuer oder unmittelbaren Wahlen - wurden von fortschrittlichen Republikanern und linksliberalen Demokraten aufgegriffen. Die Schlüsselthemen der Populisten gingen in den Grundbestand der großen Parteien und etlicher aufstrebender Bewegungen ein.

Marxisten waren die frühen Populisten nicht

Wie jede große Bewegung war auch der Populismus des späten 19. Jahrhunderts ein Gemenge verschiedener Motive und Ideen. Der Populismus enthielt eine starke nativistische Strömung; großen Zuspruchs erfreuten sich auch allerlei abwegige geldpolitische Vorstellungen. Später reklamierten rechtsextremistische Demagogen die populistische Tradition für sich, um ihre Angriffen auf Ausländer und ethnische Minderheiten zu legitimieren. Aber es gab bei alldem doch ein definitives populistisches Leitmotiv, das Demokraten von Bryan 1896 über Franklin Roosevelt 1932 bis zu Clinton und Gore 1992 beeinflusst hat. Kern dieser Weltsicht war der von den Populisten selbst so genannte "producerism". Die Anhänger Andrew Jacksons und später die Populisten unterschieden zwischen jenen, die tatsächlich Vermögen erschufen, und jenen, die nur von Vermögen lebten - "the idle holders of idle capital" , wie Bryan sie nannte: "die trägen Besitzer toten Kapitals". Die Populisten waren überzeugt, dass die Erträge von Arbeit jenen gehören sollten, die selbst die Arbeit leisteten - the people -, nicht aber jene die sich nur an der Arbeit des Volkes bereicherten.


Diese Unterscheidung mag marxistisch klingen, aber die Populisten waren weder Marxisten noch Sozialisten. Sie rechneten den Handwerker und den Geschäftsmann zu den produzierenden Klasse - nicht jedoch den Spekulanten oder den abwesenden Grundeigentümer. Viele Populisten besaßen eigene Farmen, das Bündnis mit der Arbeiterschaft bezeichneten sie ausdrücklich als Bündnis von "Kapital und Arbeit". "Kapital und Arbeit sollten nicht Feinde sein, sondern Verbündete", verkündete 1885 die erste populistische Organisation Farmers′ Alliance. Die Populisten glaubten, dass nicht selbst erarbeitetes Vermögen besteuert werden müsse und dass der Staat große Unternehmen nicht subventionieren solle - doch gleichmacherisch gesinnt waren sie nicht. Ihre Weltanschauung war weit näher bei Jefferson und Jackson als bei Marx. "Gleiche Rechte für alle, Sonderprivilegien für niemanden" - so lautete ihr Motto. Tatsächlich hatten die Populisten überhaupt kein Interesse daran, den Kapitalismus zu zerstören. Sie wollten den Markt gegen den Ungeist der Wall Street und der großen Eisenbahngesellschaften verteidigen. Die Verstaatlichung des Eisenbahnoligopols verstanden sie als Schritt zur Rettung des Kapitalismus, keineswegs als Maßnahme zu seiner Zerschlagung.


Die zentrale Differenz zwischen den Populisten des späten 19. Jahrhunderts und ihren Vorfahren in der Ära Jackson betraf die unterschiedlichen Einstellungen zum Staat. Die Anhänger Jacksons hielten die Bundesregierung für ein Instrument privater Monopole. Die Regierung finanziere die Bank der Vereinigten Staaten, damit Ostküstenbänker ihre Lieblingsprojekte subventionieren könnten, meinten sie. Die späteren Populisten hingegen betrachteten den Staat als ein Machtinstrument des Volkes, das gegen Wirtschaftsmonopole und untätige Reiche einzusetzen sei. "Wir glauben, dass die Macht des Staates - mit anderen Worten: des Volkes - ausgebaut werden sollte, damit Unterdrückung, Ungerechtigkeit und Armut im Lande eines Tages aufhören", hieß es 1892 im Programm der Populisten.


Diese Vorstellung von Demokratie vertrat Bryan in seinen Wahlkämpfen. Konservativere Demokraten wie John W. Davis, Präsidentschaftskandidat seiner Partei im Jahre 1924, gaben sie im Laufe der zwanziger Jahre auf, Roosevelt aber kehrte in den dreißiger Jahren zu diesen Ideen zurück. Seither sind sie von etlichen seiner Demokratischen Erben vertreten worden. Roosevelt verteidigte den average man , den kleinen Mann, gegen die princes of property, die nichtsnutzigen Besitzenden und die economic royalists. Wenn der DLC Populisten in der Demokratischen Partei heute als "Zerstörer des Kapitalismus" anprangert, dann klingt das exakt wie die Beschimpfung, der Roosevelt von Seiten seiner Republikanischen Gegner ausgesetzt war. Aber Roosevelt ging es niemals darum, die Wirtschaft insgesamt zu brandmarken. Er wandte sich allein gegen jene Finanziers und Großindustriellen, die das System zu ihrem eigenen Vorteil verbogen, indem sie Kunden, Arbeiter und Kleinaktionäre ausplünderten. Wie die Populisten wollte Roosevelt die Machtmittel des Staates einsetzen, um diesen princes of property zu Leibe zu rücken. "Gegen die Tyrannei der Wirtschaft", donnerte er 1936, "wird dem amerikanischen Bürger nur die organisierte Macht des Staates helfen."


Offensichtlich tat Roosevelts Populismus dem Erfolg der Demokraten keinen Abbruch. Indem er die Republikaner als Partei der müßigen Reichen brandmarkte, drängte er sie für die nächsten zwei Jahrzehnte an den Rand. Roosevelts Demokraten waren die erfolgreichere Partei bei den Wählern der unteren und mittleren Schichten, die Republikaner reüssierten in der Oberschicht. Aber weil die Oberschicht zahlenmäßig viel kleiner war, gewannen regelmäßig die Demokraten. Roosevelts Nachfolger spielten auf derselben Klaviatur. So forderte Harry Truman die Wähler 1948 auf, einen Kongress zu wählen, "der im Interesse der einfachen Leute arbeitet und nicht im Interesse der Männer, die das ganze Geld haben."


Der Zerfall der Demokratischen Mehrheit begann 1968. Damals zog George Wallace, ein Befürworter der Rassentrennung, als parteiloser Kandidat Stimmen weißer Südstaatler sowie von Angehörigen ethnischer Minderheiten im Norden auf sich. Wallace und seine Epigonen - Republikaner der Neuen Rechten wie Jesse Helms - benutzten populistische Versatzstücke, um diese weißen Wähler anzuziehen. Sie behaupteten, dass Demokratische limousine liberals und "stecknadelköpfige Bürokraten" die weiße Arbeiterklasse zugunsten schwarzer welfare queens verraten hätten. Einige linkslastige Demokraten wie Jesse Jackson trugen in den achtziger Jahren - ob mit Absicht oder nicht - dazu bei, dieser Behauptung Glaubwürdigkeit zu verleihen. In den frühen neunziger Jahren nahm der neue Ansatz des DLC im Hinblick auf welfare und Verbrechensbekämpfung den Republikanischen Angriffen die Spitze, ohne dass die Demokraten dabei ihren Charakter als Bürgerrechtspartei einbüßten. Wie Wiliam Galston und Elaine Kamarck 1989 in einem einflussreichen Thesenpapier voraussagten, war es die "Glaubwürdigkeit in wertbezogenen Fragen", mit denen die Demokraten nun "den Fuß in die Tür der Wähler bekamen. Überhaupt erst das ermöglichte es ihnen, ihre gerechtigkeitspolitischen Vorstellungen effektiv zu vertreten". Indem er den Demokraten in die Tür half, schuf der DLC die Bedingungen für die Wiedergeburt des Demokratischen Populismus, den er heute anprangert.

The people versus the powerful - so lautet das populistische Leitmotiv

Populismus war 1992 ein zentraler Erfolgsfaktor sowohl für Bill Clinton wie für den unabhängigen Präsidentschaftskandidaten Ross Perot. Clintons Wahlprogramm trug den Titel Putting People First. Und seine Rede auf dem Parteitag der Demokraten im Juli war ein geradezu beispielhafter Rekurs auf die populistische Vision: "Ich wurde erzogen in dem Glauben, dass der amerikanische Traum darauf gründet, dass harte Arbeit belohnt wird", erklärte Clinton. "Aber wir haben erlebt, wie die Typen in Washington den amerikanischen Traum auf den Kopf gestellt haben. Allzu lange schon gehen jene leer aus, die sich an die Regeln halten und noch immer den amerikanischen Traum träumen. Belohnt wird heute, wer die Kurve schneidet und andere übers Ohr haut." Eine klarere Formulierung dessen, was Kazin die "populistische Überzeugung" nennt, ist nirgendwo zu finden.


Al Gore brachte im August 2000 seinen am Rande des Scheiterns stehenden Wahlkampf wieder in Gang, indem er seine Parteitagsrede unter das populistische Leitmotiv the people versus the powerful stellte. In der Tradition von Bryan, Roosevelt und Clinton kam auch Gores Populismus ganz ohne antikapitalistische Untertöne aus. Gore griff die großen Unternehmen - "big tobacco, big oil, the big polluters, the pharmaceutical companies" - dafür an, dass sie Verbraucherschutz-, Umwelt- und Gesundheitsgesetze blockierten. Er wandte sich nicht gegen das System der Gewinne und Märkte an sich. Das Resultat war elektrisierend: Newsweek zufolge hatte Gore vor dem Parteitag mit 38 Prozent gegenüber 48 Prozent für George W. Bush zurückgelegen; Ende August führte er mit 49 zu 38 Prozent vorn - eine Wende um volle 21 Prozentpunkte. "Es kann keinen Zweifel an den Umfragen geben, die zeigen, dass Gore durch seine quasi-populistische Botschaft an George Bush vorbeigezogen ist", kommentierte E.J. Dionne in der Washington Post.


Im November 2002 scheint den Demokraten eine goldene Gelegenheit ins Haus zu stehen. Die zentralen Themen in diesem Jahr ähneln denen von 1932 und 1992, als die Republikaner jeweils ebenfalls von Wirtschaftsskandalen und Rezession gebeutelt wurden. In beiden Fällen erkämpften die Demokraten mit populistischen Botschaften hohe Zugewinne. Dieses Jahr werden sie aufgrund von George Bushs Popularität seit dem 11. September des vergangenen Jahres vermutlich nicht ganz so glanzvoll abschneiden. Dennoch haben sie eine große Chance, in beiden Häusern des Kongress auf einer populistischen Welle zum Sieg zu reiten. Das DLC aber hält störrisch daran fest, dass populistische Rhetorik den Demokraten in diesem Herbst nicht nutzen, sondern schaden würde.

Gerade gut gebildete Wähler goutieren den ökonomischen Populismus

Es liegt nahe, die Abneigung des DLC gegen den Populismus auf die Vorlieben seiner reichen Geldgeber zurückzuführen - und auf die defensiven Neigungen von Politikern wie Lieberman und Bayh, die - ganz im Sinne ihrer Lobbyfreunde - dringend nötige Reformen verhindert haben. So hat Bayh, ein Spezi der Kreditkartenfirmen, sogar einen Gesetzentwurf der Demokraten bekämpft, der Minderjährige verpflichten sollte, die Zustimmung ihrer Eltern einzuholen, um Rechnungen über mehr als 2.500 Dollar per Kreditkarte begleichen zu können.
Die DLC-Strategen From und Penn hingegen scheinen genuinere Gründe für ihren Widerstand gegen den Populismus zu haben. Sie räumen ein, dass der populistische Appell den Demokraten bei ihren Stammwählern hilft, glauben aber, dass die Partei dabei zugleich ihre Chancen bei besser situierten Wählern einbüßt - bei jenen, die From "New-Economy-Wechselwähler" nennt, während Penn mit Vorliebe von "Netzarbeitern" (wired workers) spricht. Beide führen Gores Niederlage in Schlüsselstaaten wie Missouri auf den Verlust dieser Wähler zurück. Sollten die Demokraten im November 2002 wiederum auf populistische Themen setzen, so warnen sie, würden der Partei diese Staaten erneut verloren gehen.


Das Argument sticht aber nicht. Betrachtet man Gores Umfragezahlen vor und nach dem Parteitag der Demokraten im August 2000, so zeigt sich, dass sie gerade bei jenen Wählern in die Höhe schossen, von denen die DLC-Leute glauben, sie stünden der populistischen Botschaft ablehnend gegenüber. Unter Wählern mit einem Einkommen von 50.000 bis 75.000 Dollar verbesserten sich Gores Zahlen um 12 Prozent; unter Wechselwählern stiegen sie sogar um 19 Prozent. Blickt man auf das tatsächliche Wahlergebnis, wird klar, dass Gore in gut situierten Wählergruppen relativ gut abgeschnitten hat, besonders bei jenen mit hohem Bildungsgrad, erheblich zurück hinter Clintons Ergebnis von 1996 dagegen fielen sein Zahlen unter weißen Arbeiterwählern, die sich an Gores anti-gun position und Clintons Skandalen störten.


From und Penn zitieren Missouri. Im strukturell rückständigen Norden und Südosten des Bundesstaates, wo ein Wort wie "Netzarbeiter" nur Unverständnis auslösen würde, hatte Clinton 1996 volle 50 Prozent der weißen Arbeiterwähler auf seiner Seite, während sich 38 Prozent für seinen Konkurrenten Bob Dole entschieden. Vier Jahre später verlor Gore in dieser Gruppe mit 38 Prozent gegenüber 60 Prozent für Bush - ein enormer Swing von 34 Prozent. Im Gegensatz dazu gewann Gore den von High Tech und New Economy geprägten Landkreis westlich von St. Louis mit 51 zu 46 Prozent. Entscheidend ist: Gore verlor Missouri in den Arbeitergegenden im Norden und Südosten des Staates, nicht aber in den wohlhabenden Vororten von St. Louis oder Kansas City.


Die Befürchtung von From und Penn, dass Populismus wohlhabende Wähler vertreiben werde, hat ihre Ursache zum Teil darin, dass die nicht verstehen, was Populismus eigentlich ist. Gerne erklären sie, dass andere Demokraten in der Vergangenheit leben - in Wirklichkeit sind es sie selbst, die den Anschluss verpasst haben. Ihr Verständnis von Populismus bezieht sich auf die dreißiger Jahre, als sich vor allem Arbeiterwähler für populistische Appelle begeisterten. From und Penn können sich einfach keine wohlhabenden Populisten mit akademischen Abschlüssen vorstellen. Aber die Wortführer des Populismus haben sich in der Vergangenheit stets aus der Gruppe der Wohlhabenden und gut Ausgebildeten rekrutiert. Und im Laufe des 20. Jahrhunderts und erneut in der Gegenwart hat die populistische Melodie sowohl besser wie schlechter situierte Wähler begeistert.

Warum moderne professionals immer öfter Demokraten wählen

Andrew Jackson war Rechtsanwalt und reicher Plantagenbesitzer. Charles W. Macune, der Gründer der Farmer Alliance, war ausgebildet als Arzt und Rechtsanwalt. Ralph Nader hat die Harvard Law School absolviert. Und Ross Perot ist einer der reichsten Männer Amerikas. Die Produzentenethik des Populismus passt besser zu den "leistungsorientierten Reichen" als zu den "haltlosen Armen". Sie passt zu Leuten wie Perot, die stolz sind auf ihre eigene Leistung und glauben, dass die Zukunft des Landes von den Dilettanten und Gaunern bedroht sei, die heute überall in den einflussreichen Positionen säßen.


Unter wohlhabenden und gut ausgebildeten Wählern findet sich heute große Zustimmung zum Populismus - allerdings muss man schon hinter so oberflächliche Kategorien wie "wired workers" oder "New-Economy-Wähler" schauen, um das zu erkennen. Zwei große Gruppen gut situierter Wähler gibt es gegenwärtig: Manager und professionals, also qualifizierte Dienstleister. Manager sind meistens Republikaner und stehen populistischen Appellen reserviert gegenüber. Die qualifizierten Dienstleister hingegen haben sich mehr und mehr in die Richtung der Demokratischen Partei bewegt - und sie sind offen für die Ideen des Populismus.


Zur Gruppe der qualifizierten Dienstleister gehören etwa Architekten, Ingenieure, Ärzte und Krankenschwestern, Lehrer und Professoren, Modedesigner, Fernsehproduzenten, Schriftsteller und Computerprogrammierer. In den fünfziger Jahren machten sie zusammen etwa 7 Prozent der amerikanischen Erwerbsbevölkerung aus. Heute zählen bereits 15 Prozent der Erwerbstätigen und 21 Prozent der Wähler zu dieser Gruppe. Sie hat allein in den neunziger Jahren um nahezu ein Drittel zugenommen - und sie wird in Zukunft in dem Maße weiter wachsen, wie die Produktion von Diensten und Ideen die Herstellung von Industrieprodukten ablöst. Die qualifizierten Dienstleister sind die rasch wachsende und kulturell prägende Kerngruppe der postindustriellen Gesellschaft.


Früher waren die professionals die am verlässlichsten für die Republikaner stimmende Bevölkerungsgruppe. Bei der Präsidentschaftswahl von 1960 bevorzugten sie Richard Nixon gegenüber John F. Kennedy im Verhältnis von 61 zu 38 Prozent - viel deutlicher noch als die Manager, bei denen Nixon nur mit 52 zu 40 Prozent vorne lag. Bei den vergangenen vier Wahlen jedoch haben die qualifizierten Dienstleister im Durchschnitt mit 52 zu 40 Prozent für die Kandidaten der Demokraten gestimmt. Die qualifizierten Dienstleister waren früher diejenige Bevölkerungsgruppe, die am meisten auf Laissez-faire setzte. So bekämpfte etwa die American Medical Association (AMA) über Jahrzehnte, was sie für die "Sozialisierung der Medizin" hielt. Heute fordert die AMA umfassende "Grundrechte" für Patienten, und die qualifizierten Dienstleister insgesamt bilden diejenige Bevölkerungsgruppe, die am stärksten von allen hinter dem Prinzip eines staatlich geregelten Kapitalismus steht.


Anders als den Managern, die überwiegend der Republikanischen Partei treu geblieben sind, sind den qualifizierten Dienstleister niemals allein ihre Profite wichtig gewesen. Sie bemessen ihren Erfolg an der Qualität dessen, was sie herstellen. Softwareprogrammieren legen Wert darauf, "coolen" Code zu schreiben. Lehrern liegt die Ausbildung ihrer Schüler am Herzen. Ärzte und Krankenschwestern wollen ihre Patienten heilen. Noch in den fünfziger Jahren hielten selbständige qualifizierte Dienstleister sich selbst für den besten Beweis dafür, dass ungeregelter Kapitalismus funktionieren könne. Doch in den vergangenen vier Jahrzehnten sind die selbständigen professionals ausgestorben. Stattdessen haben sie als Angestellte erlebt, wie ihre Arbeit immer stärker unter das Diktat von Versicherungskonzernen, Unterhaltungskonglomerate und anderer riesenhafter Institutionen geriet, für die es allein um die bottom line geht - darum nämlich, ihre Gewinne zu maximieren.


Viele qualifizierte Dienstleister, etwa Lehrer, Luftfahrtingenieure, Sozialarbeiter oder Softwareprogrammier machen heute ähnliche Erfahrungen wie die Handwerker im späten 19. Jahrhundert - die Schmiede, Mechaniker oder Zimmerleute, die den Wert ihrer Arbeit an der Qualität ihrer Produkte bemaßen und ihre Privilegien peinlich genau verteidigten. "In jedem einzelnen Handwerk galten die Arbeiter als Treuhänder eines Bestandes hergebrachter Kenntnisse und Fertigkeiten", schreibt der Wirtschaftshistoriker Harry Braverman. "Nach welchen Methoden sie arbeiteten, unterlag ganz allein ihrer eigenen Entscheidung." Als sie erlebten, wie die Industrialisierung ihre Autonomie bedrohte, trugen sie dazu bei, dass 1886 die amerikanischen Gewerkschaftsbewegung American Federation of Labor gegründet werden konnte.


Ganz ähnliche Erfahrungen machen heute die qualifizierten Dienstleister. Selbst die am besten bezahlten professionals sind inzwischen dem ausgesetzt, was Marx Proletarisierung nannte. Ärzte etwa hatten lange Zeit Privilegien und Sicherheiten wie einst mittelalterliche Zunftmitglieder, ihre Einkommen waren so hoch wie die der höchstbezahlten Manager. Heute unterliegen Ärzte immer stärker den Richtlinien der Versicherungen. Man gibt ihnen vor, welche Methoden sie anwenden dürfen und welche Gebühren sie abrechnen können. "Früher waren Ärzte so etwas wie Kleinunternehmer, heute sind sie im Grunde Angestellte großer Unternehmen", sagt die Standesvertreterin Marcia Simon. "Das bedeutet einen ungeheuren Wandel der Rolle, die Ärzte im Wirtschaftsleben spielen."

Die sichtbare Hand des Staates wird wieder wichtiger

Infolgedessen neigen qualifizierte Dienstleister immer stärker dazu, genau zwischen ihren eigenen Interessen einerseits und denen des Marktes sowie der großen Konzerne andererseits zu unterscheiden. Das hat sie zwar nicht zu Antikapitalisten gemacht, sehr wohl aber erwarten sie vom Staat, das Marktgeschehen in der Weise zu regeln, dass es dem Gesamtinteresse des Gemeinwesen dient. Die qualifizierten Dienstleister der Gegenwart reagieren auf ihre veränderte Lage wie die Handwerker im 19. Jahrhundert: Sie treten den Gewerkschaften bei. Im Jahr 2000 gehörten bereits 19,3 Prozent der professionals einer Gewerkschaft an - die höchste Rate unter allen Beschäftigtengruppen mit "weißem Kragen", fast so hoch wie der Anteil der Gewerkschaftsmitgliedern unter den Arbeitern. Und viele dieser Gewerkschaften - wie etwa die American Federation of Teachers oder die National Education Association - sind heute Vorfeldorganisationen der Demokratischen Partei.


Die qualifizierten Dienstleister waren zudem diejenige Gruppe der Gesellschaft, die am meisten von den Neuen Sozialen Begegungen der Ökologen und Verbraucherschützer beeinflusst wurden, welche in den sechziger Jahren an den Universitäten entstanden. Sie sind die Generation Nader. Die Frauen-, Umweltschutz- und Ökologiebewegungen waren Produkte des Übergangs in die postindustrielle Gesellschaft. Das Spektrum der Berufs- und Konsummöglichkeiten erweiterte sich, nicht zuletzt die Werbeindustrie schuf ganz neue Images erfüllten Lebens. Ein zentraler Aspekt dieses Übergangs in die postindustrielle Gesellschaft lag darin, dass die Erwartungen der Menschen an ihr eigenes Leben wuchsen - und, damit verbunden, ihre Erwartungen an den Staat. Die Amerikaner der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts begeisterten sich nicht nur für Autos mit Automatikgetriebe. Zunehmend haben sie auch die Bedeutung sauberer Luft und sauberen Wassers zu schätzen gelernt, den Wert körperlicher und geistiger Gesundheit, die Vorteile sicherer und verlässlicher Produkte. Und wo ihnen die unsichtbare Hand des Marktes diese Güter nicht bietet, da erwarten sie das Eingreifen der sichtbaren Hand des Staates.


Unter allen Berufsgruppen stellen die qualifizierten Dienstleister noch immer die stärksten Befürworter von Umwelt- und Verbraucherschutz sowie einer Reform der Wahlkampffinanzierung. Bei der Wahl des Jahres 2000 kam die National Election Study zu dem Ergebnis, dass volle 73,9 Prozent der qualifizierten Dienstleister sich für strengere Umweltschutzgesetze aussprachen. Ihnen gefielen Gores Attacken gegen die big polluters, die "großen Verschmutzer", die wichtige Umweltschutzgesetze hintertrieben und die Neuordnung der Wahlkampffinanzierung torpedierten. Dabei war ihnen völlig klar, dass sich Al Gore keineswegs anschickte, die Mineralölindustrie zu verstaatlichen.

Warum die Politik der linken Mitte populistisch sein muss

Das DLC täte gut daran, seine Ablehnung des Populismus zu überdenken und genauer zu spezifizieren, welche der ökonomisch gut situierten Bevölkerungsgruppen die Demokraten eigentlich auf ihre Seite bringen wollen. Die Wählerkoalitionen großer Parteien bestehen immer aus widersprüchlichen Einzelsegmenten, aber sie werden in der Regel geeint durch ein übergeordnetes Leitmotiv, das ihre klare Unterscheidung vom politischen Gegner ermöglicht. Im Fall der Demokratischen Partei ist es lange Zeit das Leitmotiv des Populismus gewesen, das diese Funktion hatte. In den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts brachten die Demokraten Schwarze aus dem Norden und Weiße aus dem Süden unter diesem Schirm zusammen. In den neunziger Jahren integrierten sie qualifizierte Dienstleister, weiße Arbeiter sowie zahllose ethnische Minderheiten. Zugleich brandmarkten sie die Republikaner erfolgreich als Partei der schamlosen Reichen. Gewiss, den Konzernbossen und Investmentbänkern hat der populistische Appell nie gepasst, weil sie prinzipiell gegen die staatliche Regulierung des Marktes sind. Aber diese Leute sind sowieso keine potentiellen Wähler der Demokraten.


Diese Verteidigung des Populismus darf natürlich nicht als Verteidigung aller politischer Positionen verstanden werden, die mit dem Etikett des Populismus versehen werden. Populismus ist eine Weltsicht, kein spezifisches Programm und kein konkreter Themenkatalog. Seine Ausprägungen verändern sich in dem Maße, wie sich die Gesellschaft selbst verändert. Der Populismus der Gegenwart ist nicht derselbe wie der Populismus von Roosevelts New Deal oder Johnsons Great Society. Wie das DLC zu Recht argumentiert hat, wollen die Wähler heute Reformen; aber sie wollen diese Reformen schrittweise, nicht alle auf einen Schlag. Viele Bürger, darunter besonders viele der qualifizierten Dienstleister, die in den vergangenen Jahren begonnen haben, den Demokraten ihre Stimmen zu geben, halten nicht viel von etatistischem big government. Sie wollen, dass der Staat die Gesundheitsindustrie in Ordnung bringt, aber sie wollen kein verstaatlichtes Gesundheitswesen. Sie wollen keine Steuersenkungen für die Reichen, aber für Steuererhöhungen haben sie auch nicht viel übrig.


Angesichts der beginnenden Diskussion zwischen dem DLC und den Befürwortern des Demokratischen Populismus müssen beide Seiten begreifen, dass sie zum Erfolg der Demokraten beitragen können. Ohne die vom DLC angestoßene Neuorientierung der Demokratischen Partei in den Fragen von Kriminalitätsbekämpfung, Sozialpolitik und big government, wäre es den Demokraten nicht gelungen, auch nur in die Nähe der Mehrheitsfähigkeit zu gelangen. Doch ohne das eindeutige Bekenntnis zur überdauernden Weltsicht des Demokratischen Populismus, wird die Partei ihre Gelegenheit zum Sieg nicht nutzen können.

Aus dem Amerikanischen von Tobias Dürr

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