Amerikas progressiver Aufbruch

Bereits im Jahr 2002 sagte John B. Judis den Aufstieg einer strukturellen Mehrheit der Demokraten in den Vereinigten Staaten voraus (Berliner Republik 5/2002). Hier erklärt er, warum seine Prognose mit dem großen Wahlsieg von Barack Obama 2008 eingetreten ist

Noch bevor die Endergebnisse vorlagen, die einen haushohen Sieg der Demokraten auswiesen, verkündeten vermeintliche Politprofis in Washington, an der politischen Situation im Lande habe sich nichts Grundlegendes geändert. In einer Titelgeschichte der Newsweek mit der bezeichnenden Überschrift „Das konservative Amerika“ warnte Herausgeber Jon Meacham, dass „Obama, falls er gewinnen sollte, ein Land regieren muss, dessen Instinkte eher konservativ sind als liberal“. Meachams Urteil bestätigte auch Peter Wehner, ein Forscher am Washingtoner Ethics and Public Policy Center. „Amerika bleibt im großen und ganzen ein Land der rechten Mitte“, schrieb er in der Washington Post.

Beide liegen völlig daneben – wie alle anderen auch, die jetzt Obama und die Demokraten dazu anhalten, es nur ja ruhig angehen zu lassen. Sie alle betrachten die Wahl Obamas durch die Optik des Sieges von Jimmy Carter 1976 und des Triumphs von Bill Clinton 1992. Sowohl Carter als auch Clinton schätzten die Stimmungslage der Wähler falsch ein. Sie versuchten erfolglos, ein Land von der linken Mitte aus zu regieren, das sich entweder (im Falle Carters) nach rechts bewegte oder (im Falle Clintons) gerade erst begann, nach links zu rücken. Folglich wurden beide von den Wählern abgestraft.

Obama tritt sein Amt unter dramatisch anderen Umständen an. Seine Wahl ist das Ergebnis eines gesellschaftlichen Realignment zugunsten der Demokraten. Dieser langfristige Umschwung der Wählerpräferenzen begann in den neunziger Jahren, wurde von den Ereignissen des 11. September aufgehalten, setzte sich dann aber bei den Zwischenwahlen von 2006 fort. Dieses Realignment basiert auf Veränderungen in der politischen Demografie und Geografie. Überwiegend den Republikanern nahestehende Bevölkerungsgruppen wurden in überdurchschnittlichem Maße zu Demokraten, und so genannte rote Bundesstaten wie Virginia, also Hochburgen der Republikaner, wandelten sich zu blauen, mehrheitlich die Demokraten wählenden Staaten. Diesen Veränderungen liegt eine Verschiebung der fundamentalen Werte des Landes zugrunde, sowohl was die Struktur von Wirtschaft und Gesellschaft angeht, als auch in Bezug auf die Einstellungen der Amerikaner zu Familie, Beruf und Politik. Das Land ist längst nicht mehr „Das konservative Amerika“. Und wenn Obama geschickt vorgeht, um diese neue Mehrheit zu konsolidieren, dann könnten wir bald „Das progressive Amerika“ sein.

Amerikas Ersatz für Revolutionen

Der Politologe Walter Dean Burnham hat Realignments, also langfristige Neuanordnungen der politischen Kräfteverhältnisse innerhalb der Gesellschaft, „Amerikas Ersatz für Revolutionen“ genannt. Realignments sind keine Ereignisse, die sich wissenschaftlich vorhersagen lassen wie eine Mondfinsternis. Dennoch traten sie in den vergangenen 200 Jahren mit einer gewissen Regelmäßigkeit auf: so in den Jahren 1828, 1860, 1896, 1932 und 1980. Die beiden jüngsten Realignments waren im Grunde verspätete politische Auswirkungen tiefgreifender Umwälzungen, die an der wirtschaftlichen Basis des Landes vor sich gingen. Im Falle des New Deal handelte es sich um den Aufstieg einer urbanen Industriegesellschaft im Norden des Landes; im Falle von Reagans Konservatismus war es die Verlagerung von Industrie und Bevölkerung aus dem Norden in die gewerkschaftsfernen Vorstädte des sunbelt, der sich von Virginia nach Florida und westwärts bis nach Texas und Südkalifornien ausdehnt.

Der Aufstieg der professionals

Das neue Realignment zugunsten der Demokraten spiegelt eine Verschiebung hin zu einer postindustriellen Wirtschaftsordnung wider, die bereits vor Jahrzehnten begann und sich vor allem in urbanen und suburbanen Großräumen vollzieht, die sich eher der Produktion von Ideen und Dienstleistungen als der Herstellung materieller Güter widmen. (Ruy Teixeira und ich haben diese Orte in unserem Buch The Emerging Democratic Majority als „Ideopolen“ bezeichnet.) Die drei wesentlichen Gruppen, die das Rückgrat der neuen demokratischen Mehrheit bilden, finden sich gebündelt in Regionen, die genau diesen wirtschaftlichen Übergang durchlebt haben: professionals mit Hochschulabschluss, die Ideen und Dienstleistungen produzieren, ethnische Minderheiten (Afroamerikaner, Latinos und Amerikaner asiatischer Abstammung), sowie Frauen (vor allem erwerbstätige Frauen, alleinstehende Frauen und Frauen mit Hochschulabschluss).

Noch in den fünfziger Jahren bildeten die professionals oder qualifizierten Dienstleister diejenige Berufsgruppe, die den Republikanern am nächsten stand. Zugleich aber war diese Gruppe vergleichsweise klein. Ihr Anteil an der Erwerbsbevölkerung betrug nur 7 Prozent. Heute machen die qualifizierten Dienstleister gleichsam das Gehirn der postindustriellen Ökonomie aus. Sie stellen 20 Prozent der Berufstätigen, und in vielen Bundesstaaten im Norden und Westen stammt mittlerweile bereits ein Viertel der Wähler aus dieser Gruppe. Sie umfasst Krankenschwestern ebenso wie Lehrer, Fernsehproduzenten, Softwareentwickler oder Ingenieure. Die qualifizierten Dienstleister haben 1988 begonnen, die Demokratische Partei zu wählen und sind ihr seither immer treu geblieben.

Mit Hilfe von Daten aus Bevölkerungszählungen haben Ruy Teixeira und ich ermittelt, dass die qualifizierten Dienstleister zwischen 1988 und 2000 durchschnittlich mit 52 zu 40 Prozent für den jeweiligen Präsidentschaftskandidaten der Demokraten stimmten. Ich weiß nicht genau, wie viele von ihnen am 4. November Barack Obama gewählt haben, da die Wählerbefragungen qualifizierte Dienstleister als Kategorie nicht berücksichtigen. Als Näherungswert lässt sich jedoch eine etwas kleinere (und vielleicht sogar etwas konservativere) Gruppe heranziehen: Wähler mit hohen Bildungsabschlüssen, also mit Magister- oder Doktorgrad. In dieser Gruppe erreichte Obama einen riesigen Vorsprung von 58 zu 40 Prozent. Er gewann sogar die Gesamtgruppe der Hochschulabsolventen (einschließlich jener mit Bachelor-Abschluss) mit 50 zu 48 Prozent für sich. (Es könnte das erste Mal sein, dass ein Demokrat das geschafft hat. Selbst als Clinton 1996 gegen Bob Dole mühelos gewann, hatte er bei den Akademikern das Nachsehen.) Vergleicht man außerdem die Staaten, die Obama für sich entschied, mit den Staaten, die den höchsten Anteil an Akademikern mit einem hohem Abschluss aufweisen, dann zeigt sich, dass der Demokrat in den obersten 19 Staaten vorne lag, die zusammen 234 Wahlmänner stellen. Ebenso gewann Obama in 21 der 24 obersten Staaten mit insgesamt 282 Wahlmännerstimmen. McCain hingegen lag in denjenigen 6 Staaten vorn, die den geringsten Anteil an Bürgern mit hohen Abschlüssen aufweisen.

Die Macht der neuen Einwanderer

Unter den ethnischen Minderheiten stimmen die meisten – mit Ausnahme der Kubaner sowie der Amerikaner chinesischer und vietnamesischer Abstammung – bereits seit den dreißiger Jahren für die Demokraten. Aber im Zuge der wirtschaftlichen Veränderungen und der Liberalisierung der Einwanderungsgesetze ist die Zahl der Latinos und der Amerikaner asiatischer Abstammung gestiegen. Manche dieser neuen Einwanderer sind qualifizierte Dienstleister, andere bilden die Arbeiterschicht der postindustriellen Ökonomie. Sie sind Krankenpfleger oder Kinderbetreuer, Hausmeister, Fast-Food-Köche oder Kellner. Noch 1972 stellten solche Minderheiten nur 10 Prozent der Wählerschaft – bei dieser Wahl 2008 machten sie schon 26 Prozent aus. Dabei entschieden sich die Schwarzen natürlich mit großer Mehrheit für Obama, aber er gewann auch unter den Latinos mit 66 zu 31 Prozent sowie mit 62 zu 35 Prozent unter den US-Asiaten, die üblicherweise zu gleichen Teilen Demokraten und Republikaner wählen.

Die traditionelle Arbeiterklasse schrumpft

Einst standen auch die Frauen mehrheitlich den Republikanern nahe; Richard Nixon lag 1960 bei den weiblichen Wählern vorn. Aber als die Frauen ins Erwerbsleben einstiegen, änderte sich auch ihr Stimmverhalten. Im Jahr 1950 war nur ein Drittel der Frauen berufstätig. Heut gehen 60 Prozent der Frauen einem Beruf nach, was einem Anteil von 46 Prozent an der gesamten erwerbstätigen Bevölkerung entspricht. Mehr als 70 Prozent der Frauen üben Bürojobs aus, 24 Prozent sind qualifizierte Dienstleister (im Vergleich zu 17 Prozent bei den Männern). Frauen wählen seit 1980 überdurchschnittlich Demokraten, und dieser Trend setzt sich fort. In diesem Jahr konnte Obama bei den weiblichen Wählern einen Vorsprung von 13 Prozentpunkten für sich verbuchen. Innerhalb der männlichen Wählerschaft lag er nur einen Prozentpunkt vorn. Bei den erwerbstätigen Frauen betrug Obamas Vorsprung sogar 21 Punkte. Addiert man diese Zahlen zum Vorsprung der Demokraten bei den qualifizierten Dienstleistern und den ethnischen Minderheiten, so kommt dabei eine gute Grundlage für Wahlsiege heraus.

Selbstverständlich mussten Obama und die Demokraten etwa 40 Prozent der weißen Arbeiterschaft für sich gewinnen, also jener Wählergruppe, die einst die Machtbasis der Demokratischen New-Deal-Mehrheit bildete. Rezession und Finanzkrise trugen dazu bei, diese Wähler erneut zu überzeugen. Aber den Kern der neuen Mehrheit machen diese blue-collar workers nicht mehr aus. Während die Zahl der qualifizierten Dienstleister, der Angehörigen ethnischer Minderheiten und der erwerbstätigen Frauen wächst, schrumpft die traditionelle weiße Arbeiterklasse. Ruy Teixeira und Alan Abramowitz zufolge gehörten ihr 1940 noch 58 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung an; bis 2006 war dieser Anteil auf 25 Prozent gefallen.

Die neue politische Landkarte, die aus diesen demografischen Trends entstanden ist, stellt in mancher Hinsicht ein Spiegelbild jener Karte dar, die der Sieg des Republikaners William McKinley bei den Präsidentschaftswahlen von 1896 erzeugte: Im tiefen Süden liegen heute die Republikaner vor den Demokraten, im Nordosten dominieren die Demokraten über die Republikaner. (Vermont, das heute als linke Bastion der Demokraten gilt, unterstützte vor Bill Clintons Wahlsieg im Jahr 1992 nur einen einzigen demokratischen Präsidentschaftskandidaten.)

Die Geografie der progressiven Mehrheit

Dennoch ist die Geografie der neuen Demokratischen Mehrheit komplizierter, als es den Anschein hat. Offensichtlich ist, dass die postindustrielle Ökonomie in traditionell linksliberalen Regionen wie Boston, Chicago oder San Francisco stark ausgeprägt ist. Sie hat aber inzwischen auch in Teilen des Südens und Westens Wurzeln geschlagen: in Gegenden wie Charlotte (ein Finanzzentrum) und dem Forschungsdreieck Raleigh-Durham-Chapel Hill in North Carolina, in den nördlichen Vorstädten von Virginia, in Orlando und Südflorida sowie in der Region Denver-Boulder in Colorado. Das erklärt, weshalb sich die zuvor roten Bundesstaaten North Carolina, Virginia, Florida und Colorado bei dieser Wahl allesamt in blaue verwandelt haben.

Der Aufstieg neuer Wählergruppen innerhalb der postindustriellen Ökonomie hat eine neue politische Weltsicht hervorgebracht. Man mag sie „progressiv“ oder „liberal“ nennen. Waren gewerkschaftlich organisierte Industriearbeiter die Vorhut der New-Deal-Mehrheit, so bilden qualifizierte Dienstleister die Vorhut der neuen progressiven Mehrheit. Ihr Einstellungsmuster prägt nicht nur die Programmatik der Demokratischen Partei, sondern zunehmend das ganze Land. Dieses Muster ist mitunter als „links“ in sozialen Fragen und „konservativ“ in wirtschaftlichen Angelegenheiten beschrieben worden, aber das trifft die Sache nicht wirklich. Im Allgemeinen sind qualifizierte Dienstleister liberal im Hinblick auf Bürger- und Frauenrechte; sie treten für die Freiheit der Wissenschaft sowie die Trennung von Kirche und Staat ein; in Handels- und Immigrationsfragen sind sie Internationalisten; großen Regierungsplänen stehen sie skeptisch, aber nicht verschlossen gegenüber; und wenn es um die staatliche Regulierung von Unternehmen und besonders des Lobbyismus geht, sie sind kaum zu bremsen.

Viele dieser Progressiven (oder Liberalen) sind Kinder der sechziger und siebziger Jahre. Sie sind stark beeinflusst von Martin Luther King, Betty Friedan, Gloria Steinem und Ralph Nader (in seiner früheren Rolle als Verbraucherschützer). Aber ihre Ansichten finden sich auch in den nachfolgenden Generationen von Amerikanern mit Hochschulabschluss wieder, besonders unter den so genannten millennials, die während der Regierungszeit von Bill Clinton und George W. Bush aufwuchsen. Eine Jahr für Jahr wiederholte landesweite Untersuchung der Universität von Los Angeles unter Studenten im ersten Semester ergab, dass sich diese 2006 zu 28,4 Prozent als „liberal“ bezeichneten – mehr als jemals seit 1975.

Das Meinungsklima wandelt sich

Vergleicht man die Einstellungen der Amerikaner in den siebziger und achtziger Jahren mit denen heute, stellt man fest, wie sehr die Weltsicht der qualifizierten Dienstleister bereits die gesamte Wählerschaft durchdrungen hat. Im März 1981, im zweiten Monat der Regierungszeit Ronald Reagans, ergab eine Umfrage der Los Angeles Times, dass 54 Prozent der Amerikaner Wirtschaft und Industrie für „überreguliert“ hielten; nur 18 Prozent gaben an, es gebe „nicht genug“ Regulierung. Im Oktober 2008 hingegen waren 27 Prozent der Befragten der Meinung, es gebe „zu viel“ Regulierung, dagegen meinten 45 Prozent, es gebe „zu wenig“. Laut einer Umfrage des Pew-Forschungszentrums vom März 2007 unterstützen 83 Prozent der Amerikaner „strengere Gesetze und Regulierungen, um die Umwelt zu schützen“. Und 66 Prozent befürworten, dass „die Regierung eine Krankenversicherung für alle Bürger garantiert, selbst wenn dies Steuerhöhungen bedeutet“.

„Hartes“ oder „weiches“ Realignment?

Auch die Einstellungen zu sozialen Fragen haben sich dramatisch verändert. Gemäß der Pew-Umfrage vom März 2007 fiel der Anteil der Amerikaner, die glauben, Schulbehörden sollten schwule Lehrer entlassen dürfen, von 51 Prozent im Jahr 1981 auf 28 Prozent. Der Anteil derer, die es für Frauen „schwieriger“ machen wollen, eine Abtreibung vornehmen zu lassen, fiel von 47 auf 35 Prozent. Der Anteil von Amerikanern, die es in Ordnung finden, wenn Schwarze und Weiße Beziehungen miteinander führen, stieg von 48 auf 83 Prozent . Die Studie ergab auch, dass 62 Prozent der Gesamtbevölkerung (und 83 Prozent der Hochschulabsolventen) der Ansicht widersprachen, dass „die Wissenschaft zu weit geht und der Gesellschaft schadet“.

Diese Einstellungen setzten sich bereits im Laufe der neunziger Jahre durch, doch der 11. September und die Angst vor einem unmittelbar bevorstehenden Terroranschlag hauchten dem Konservatismus – und besonders dem Sozialkonservatismus – der achtziger Jahre zeitweilig noch einmal neues Leben ein. (Überzeugende Untersuchungen aus der Psychologie deuten darauf hin, dass Todesangst traditionelle Haltungen in sozialen Fragen befördert.) Heute jedoch, mit sieben Jahren Abstand zum 11. September, sind die liberalen Einstellungen mit aller Macht wieder hervorgetreten. Momentan scheint die anbrechende Rezession die Wähler sogar noch weiter nach links zu drängen. Wie Obama in Wirtschaftsfragen agiert, wird weitgehend darüber bestimmen, ob sich die neue demokratische Mehrheit, die ihn ins Amt befördert hat, als flüchtiges Phänomen erweist oder Bestand haben wird.

In der amerikanischen Geschichte hat es zwei Arten von Realignments gegeben: „harte“ und „weiche“. Die Realignments der Jahre 1896 und 1932 waren hart. Sie legten jeweils den Grundstein für die dreißigjährige Vorherrschaft einer Partei, für Zeiten, in denen diese Partei den Großteil aller Wahlen auf nationaler, bundesstaatlicher und lokaler Ebene gewann. (Im Laufe des New-Deal-Realignment von 1932 bis 1968 stellten die Republikaner nur 8 Jahre lang den Präsidenten; eine Mehrheit im Kongress besaßen sie sogar nur in 4 von diesen 36 Jahren.) Die konservative Neuausrichtung der Republikaner im Jahr 1980 hingegen war nur weich. Sie begann 1968, wurde von der Watergate-Affäre unterbrochen, setze sich während Carters Präsidentschaft fort und erreichte mit Reagans Erdrutschsieg ihren Höhepunkt. Doch selbst zu dieser Zeit behielten die Demokraten die Mehrheit im Repräsentantenhaus und eroberten 1986 auch den Senat zurück. Die Republikaner gewannen die Kongresswahlen von 1994, doch der Präsident war ein Demokrat, dem 1996 mühelos die Wiederwahl gelang. Burnham hat die neunziger Jahre als Zeit eines „instabilen Gleichgewichts“ zwischen den Parteien bezeichnet.

Zwei Jahrzehnte Wahlkampf gegen Hoover

Was die Realignments der Jahre 1896 und 1932 so „hart“ machte, war der Umstand, dass sie mit großen Rezessionen zusammenfielen. Die politischen Tendenzen zeichneten sich zwar bereits vor den Wahlen ab – Präsidentschaftskandidat Al Smith zum Beispiel gewann die Wähler in den Städten bereits 1928 für die Demokraten. Doch die Depression der 1890er Jahre und noch mehr die Große Depression wirkten als Katalysatoren und beschleunigten jeweils solche Trends. McKinley und die Republikaner machten den Demokraten Grover Cleveland für die Krise in den 1890ern verantwortlich. Franklin Roosevelt wies die Schuld am Börsencrash 1929 und an der darauf folgenden Depression Herbert Hoover zu. In beiden Fällen wirkte das Stigma auf Jahrzehnte hinaus. Die Demokraten führten noch immer erfolgreich Wahlkämpfe gegen Herbert Hoover, als dieser schon 20 Jahre nicht mehr im Amt war.

Was die Finanzkrise verändert hat

Reagan und die Republikaner konnten 1980 und danach Vorteile aus der tiefen Zerrissenheit der Demokraten in Sachen Bürgerrechte und Abtreibung ziehen, aber als Katalysator dienten ihnen das Geiseldrama im Iran sowie die Stagflation der späten siebziger Jahre, die zu einer Rezession führte. Bis zu den Wahlen von 1992 hatte sich die Wirkung dieser Ereignisse weitgehend verflüchtigt. Dies verhinderte, dass Reagans Republikaner eine harte und andauernde Mehrheit herausbilden konnten, wie sie die Demokraten in der New-Deal-Ära besessen hatten.

Wird sich das demokratische Realignment von 2008 als hart oder weich erweisen? Zunächst schien es nur weich zu sein. Ähnlich wie das Reagan-Realignment begann es nur zögerlich: Clintons Sieg 1992 war vergleichbar mit Richard Nixons Erfolg von 1968, wobei Ross Perot die Rolle des Spalters spielte, die 1968 George Wallace innegehabt hatte. Der Demokratische Trend wurde von Clintons Skandalen gebremst und vom 11. September unterbrochen. Nimmt man dies zum Maßstab, scheint 2008 eher 1980 zu gleichen als den Jahren 1932 oder 1896.

Aber die einsetzende Finanzkrise hat dies womöglich geändert. Der bevorstehende Abschwung könnte der Großen Depression der dreißiger Jahre ähnlicher sein als den relativ leichten Rezessionen der Jahre 1980 oder 1991. So bedrückend es sein mag: Zwischen den Umständen, die zur Großen Depression führten und denen, die zur jetzigen Notlage beigetragen haben, bestehen frappierende Ähnlichkeiten. In beiden Fällen gingen dem Niedergang Überkapazitäten in Branchen voraus, die zuvor entscheidend für das Wachstum gewesen waren: die Autoindustrie in den zwanziger Jahren, die Telekommunikations- und Computerbranche in den neunziger Jahren. In beiden Fällen traten zunächst milde Rezessionen ein (1927 und 2002), die durch Regierungsmaßnahmen überwunden werden konnten, bevor der endgültige Niedergang einsetzte. Sowohl in den zwanziger Jahren als auch in diesem Jahrzehnt setzte die US-Notenbank die Zinsen herab, und die Regierung Bush senkte die Steuern. Statt jedoch wirkliche Erholung zu bewirken, setzten diese Maßnahmen spekulative Exzesse in Gang – in den zwanziger Jahren auf den Aktienmärkten und in der jüngsten Zeit ebenfalls auf den Immobilienmärkten. Daraus erwuchs jeweils ein Turm von faulen Krediten, der in sich zusammenfiel, als Konsumnachfrage und Investitionen zum Erliegen kamen. In beiden Fällen blieb die Wirtschaftskrise nicht auf die Vereinigten Staaten beschränkt, sondern griff auch international um sich, was die Erholung deutlich erschwert.

Was Wähler langfristig bindet

Natürlich bestehen zwischen den beiden Perioden auch Unterschiede. Zum einen ist es diesmal viel wahrscheinlicher, dass eine weltweite Depression mit Hilfe internationaler Zusammenarbeit verhindert werden kann. Trotzdem ist es möglich, dass sich die Rezession im Laufe des kommenden Jahres verschärft. Zumindest das Gespenst einer erneuten Depression geht mittlerweile um, was 1980 und 1991 niemals der Fall war.

Sofern Obama und die Demokraten im Kongress entschlossen agieren, können sie nicht nur den Abschwung stoppen, sondern auch das Fundament für eine dauerhafte Mehrheit legen. Wie im Falle von Franklin D. Roosevelts New Deal werden viele der Maßnahmen, die notwendig sind, um gegen die jetzige Rezession vorzugehen, zugleich dazu beitragen, den langfristigen Wahlerfolg der Demokraten zu sichern. Viele Wähler in den Südstaaten blieben nicht zuletzt wegen Roosevelts Elektrifizierungsprogramm noch über Generationen den Demokraten treu; ein ähnliches Programm, diesmal um das amerikanische Hinterland mit Breitbandanschlüssen zu versorgen, könnte solche Wähler heute erneut dauerhaft ins Lager der Demokraten führen. Und ein nationales Krankenversicherungssystem könnte für die Zukunft der Demokraten die gleiche Bedeutung haben, die einst die Einführung der Sozialversicherung für die langfristige Zementierung der New-Deal-Mehrheit besaß.

Der Wandel, den Amerika braucht – und will

Kein Zweifel, den Amerikanern sind ambitionierte Regierungspläne nie ganz geheuer. Dieses Land, schrieb der Historiker Louis Hartz, ist auf dem Liberalismus eines John Locke gegründet. Aber wie bereits Roosevelt nach seiner Wahl feststellte, bringen nationale Krisen in Amerika die Bereitschaft zu dramatischen Maßnahmen hervor. Überdies bekommt es Obama nicht mit so eindrucksvollen Kontrahenten zu tun wie vor ihm Jimmy Carter und Bill Clinton. Nach ihrer Niederlage ist die Republikanische Partei bis auf Weiteres gespalten und demoralisiert. Und ganz so wie die Große Depression das Thema Prohibition sowie andere soziale Streifragen von der Tagesordnung verschwinden ließ, hat die aktuelle Krise den Kulturkrieg der vergangenen Jahrzehnte beiseite gedrängt. Im Wahlkampf des Jahres 2008 spielte er ganz einfach keine Rolle mehr.

Sollten Obama und die Demokraten hingegen die Ratschläge des „offiziellen Washington“ befolgen, sollten sie also zögerlich agieren, sollten sie Reformen bloß häppchenweise auf die Agenda setzen und sogar ihren geschlagenen Gegnern nach dem Munde reden – dann würden sie die Krise am Ende weiter verschärfen und die eigene Glaubwürdigkeit zerstören. Was ein hartes und langfristiges Realignment zugunsten der Demokraten hätte werden können, würde dann zu einem weichen, womöglich sogar zu einem gescheiterten Realignment. Das ist nicht der change, den Amerika heute braucht – und will.

Aus dem Englischen von Danilo Scholz


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