Der Ephraim Kishon der Generation Golf

Anmerkungen zum Phänomen Florian Illies

Ach ja, Florian Illies. Nach seinem zweiten Buch muss dieser Seufzer noch ein wenig tiefer ausfallen, als nach dem Erstling Generation Golf. Wäre es nicht schöner, wenn man Illies einfach ignorieren könnte? Es ist doch schon genug gesagt über ihn, der sonst als Feuilletonredakteur für die FAZ schreibt, und seine Bücher, was beides schwer zu trennen ist. Denn wenn Illies über die Generation Golf schreibt, meint er sich selbst, schließt er von sich auf andere aus den Jahrgängen 1965 bis 1975 (also auch Leute wie mich). Schreibt er "unsere Jugend", meint er "damals in Hessen am Ende der Siebziger und Anfang der Achtziger". Auch in seinem zweiten Buch Anleitung zum Unschuldigsein ist das unverkennbar - wenngleich ironisch abgefedert. Illies′ Ausführungen haben mit der Gesellschaft der Bundesrepublik etwa so viel zu tun wie ein Buch von Hera Lind mit der realen Rolle der Frauen. Aber das sind längst bekannte Vorwürfe, geschenkt - wenn es denn gut geschrieben ist. Auch dass es ein oberflächlicher, noch dazu peinlich markenfixierter Lifestyle ist, den er beschreibt - abgehakt. Wer Tiefes erwartet, darf sich eben nicht damit beschäftigen.

Leider ist auch Illies′ Oberfläche nicht immer glänzend. Mich als Kind der Bundesrepublik erinnert er an eine Kinderbuchfigur jener Tage, den Scheinriesen Turtur bei Michael Ende (Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer), der beim Näherkommen immer kleiner wird. Illies′ erstes Buch, Generation Golf, war die Geschichte einer vergleichsweise glücklichen Kindheit in der Provinz. Das Buch bezog seinen Titel aus der VW-Werbung, deren Slogans auch die Kapitelüberschriften hergaben ("Die Frage nach der Richtung hat sich somit erübrigt"). Der Golf wurde in dieser kleinen Autobiografie zum paradigmatischen Gefährt einer ganzen Generation erklärt, was mit den hochtrabenden VW-Werbesprüchen schön harmonierte. Lob und Kritik gab es in Mengen, doch beides verdeckte, dass es sich hier eigentlich nur um einen großen Spaß handeln konnte.

Sein zweites Buch Anleitung zum Unschuldigsein gibt sich - so der Untertitel - als "Übungsbuch für ein schlechtes Gewissen" aus. In Kapiteln wie "Heute ernähre ich mich falsch" oder "Heute feiere ich Weihnachten, das Fest der Schuldgefühle" führt Illies Zwänge der deutschen Gesellschaft vor - mit ihren, so der Autor, notwendigerweise katastrophalen Folgen für das Gewissen. Am Ende jedes Kapitels gibt es eine Übung. Im Kapitel "Heute gehe ich am Schild einer Zahnarztpraxis vorbei" lautet sie beispielsweise: "Wir schneiden aus einem Lehrbuch für Zahnmedizin die übelsten Farbfotos von Parodontose und Zahnfäule aus und kleben diese über die Etiketten des Nutella-Glases und der Colaflasche".

Das Buch hat nur wenige gute Kapitel ("Heute fahre ich als Deutscher nach Italien und schäme mich dafür, Deutscher zu sein"). Vielleicht möchte Illies für einen Stadtneurotiker gehalten werden, wenn er immer wieder seine Ängste vor der Dynamik von gesellschaftlichen Zwängen, Fauxpas und sozialer Ächtung reflektiert. Aber an zu vielen Stellen wird seine Idee als bloße Masche erkennbar. Insgesamt ein Eindruck wie von Kolumnen, die so oder ähnlich in Zeitschriften von Brigitte bis Eltern for Familiy erscheinen könnten. Ja ja, will man während der Lektüre ständig murmeln, heutzutage hat man ein schlechtes Gewissen, wenn man Möbel aus Tropenholz kauft, wenn man sich nicht gesund ernährt oder wenn das Handy im falschen Moment klingelt. Das Leben ist eben kompliziert.

Nachgeholter Ungehorsam

Was also ist es, das hier einerseits verärgert und andererseits zur Auseinandersetzung nötigt? Da ist zum einen die publizistische Zwangs-Eingemeindung, die wieder einer ganzen Alterskohorte von zehn Jahren widerfährt. Vielleicht einer der Schlüssel zu Illies′ Erfolg, denn wer liest nicht gern etwas über sich selbst? Er nutzt die Konjunktur, die die Generationenetiketten in den letzten Jahren erlebten - allerdings ohne zu erklären, woher die vielleicht kommen. Das ist zugleich eine der echten Schwächen des Buches: Illies vergibt die Chance, seine Generation Golf so weiterzuentwickeln, dass es im Rückblick ein gutes Buch wird. Keine intellektuelle Strömung - sie muss ja nicht mal politisch sein! - spiegelt sich in seinen Elaboraten wider. Kein Vergleich mit anderen Generationen oder Generationenbegrifflichkeiten. Es muss ja nicht gleich Schelsky mit seiner "skeptischen Generation" sein, aber er hätte ja mal bei Leggewie (Die 89er) nachsehen können, oder auch bei Reinhard Mohr (Zaungäste).

Statt dessen hat Illies einen Großteil seiner Erkenntnisse bei Matthias Horx ausgeliehen (siehe Aufstand im Schlaraffenland oder Die wilden Achtziger). Plötzlich sind die Tonlage und das Lebensgefühl wieder da, die der bereits vor mehr als zehn Jahren beschrieben hatte. Illies′ Ungehorsam gegenüber der Alternativkultur der Siebziger und Achtziger ist nicht nur nachholend, sondern eben auch abgekupfert. Entsprechend stellt sich bei der Lektüre eine gewisse Ermüdung ein: Der linke Betroffenheitskult, sinnentleerte Protestrituale, die geistige Erschöpfung linker Utopien im westdeutschen Alltag - der Mann hat ja Recht. Aber wo ist das Neue? Dem Wandel des Zeitgeistes seit der Wiedervereinigung nachzuspüren, dieser Herausforderung verweigert er sich. Vorlagen ohne Ende - wäre Illies Fußballer, er trüge den Beinamen "Chancentod".

Zu Ende denken, das ist seine Sache nicht

Was ist es also, was aus den kleinen Büchlein das "Phänomen Illies" gemacht hat? Da ist einmal seine spürbare Ehrlichkeit. Illies meint wirklich, was er schreibt. Er mag sich nicht rechtfertigen, wenn er den Müll nicht trennt; er will sich nicht für die dritte Welt interessieren müssen. Und er möchte seine Markenklamotten schön finden dürfen, ohne sich deshalb geächtet zu fühlen. Das ist das Streben nach Unschuld, das seinem zweiten Buch den Titel gab. Wie in Generation Golf sind all diese Wünsche offen ausgesprochen, gleichzeitig reflektiert und ironisiert. Das bietet Lesern Ansatzpunkte, allerlei Tiefsinn in seine Zeilen hineinzudeuten. Aber mit welchem Recht?

Tatsächlich tappt der Leser in eine Reflexionsfalle, die deshalb so wirksam ist, weil Illies sie offen auslegt hat: Er will gar nicht viel reflektieren. Probleme zu Ende denken ist seine Sache nicht. Er passt damit in die Gegenwartskultur, die alte Kalauer zur Comedy veredelt und keinen Gag an den intellektuellen Tiefsinn verlieren mag. Um ein altes Bonmot zu zitieren: Illies ist längst nicht so tiefsinnig, wie er flach tut.

Wenn Illies das bloß mal so schreiben würde!

Aber es gibt noch mehr zu sagen: Illies hat ja Recht, der Individualismus ist in Deutschland nicht sehr ausgeprägt. Die Fähigkeit, Dissens und Konflikte auszuhalten, ist noch wenig verbreitet. Abgesehen von der kleinen Szenerie der mediennotorischen Vorzeige-Intellektuellen setzt man bei uns immer noch lieber auf die Gemeinschaft der großen Gruppe. Das Gefühl, viel Unsinn vorgesetzt zu bekommen, ohne zu widersprechen, beschleicht nicht nur Florian Illies bei der Betrachtung seines Alltages. Das soziale Kuschelbedürfnis ist groß.

Auch die Art, in der Illies die Peinlichkeiten des Alltags schildert, von den absurden Weintrinkritualen der Neureichen bis zur Erfolgsvoraussetzung Sonnenbankbräune, trifft den Punkt. Das gilt nicht nur für die alltagstauglichen Themen wie "Rosenverkäufer im Lokal" und "Geburtstagsfeiern bei Freunden". Auch im Politischen muss es nicht verkehrt sein. Jeder kennt die Autoritäten der deutschen Gegen-Bundesregierung, gegen die sich Illies allerdings mit reichlicher Verspätung erhebt. Political Correctness nach Art von Jan Philipp Reemtsma oder Jürgen Habermas - man muss kein CSU- Wähler sein, um davon auch mal genervt zu sein.

Wenn Illies das bloß mal so schreiben würde! Tut er aber nicht, sondern belässt es bei Andeutungen, aus denen man herauslesen mag, was man will. Kritisiert er die Political Correctness? Oder das Missverstehen dieses Begriffs (was übrigens ein schönes Thema wäre)? Oder geht es Illies wirklich nur um die Mühsal des Mülltrennens und die Qual der Tempo-30-Zonen? Man erfährt das alles höchstens andeutungsweise. Auch hier: wieder Vorlage um Vorlage versiebt. Zur Analyse der geistigen Situation seiner Zeit, der Gesellschaft oder der Politik ringt er sich partout nicht durch. Illies macht Witze über den deutschen Zeitgeist wie ein Büttenredner über Schwiegermütter und Beamte: Es passt immer. Es ist beliebig. Um die Dinge anders zu sehen, wäre Denken und Argumentieren nötig - intellektuelle Arbeit, wie sie Illies ja gerade lächerlich machen will.

So weiß man zwar nie, worauf der Autor mit seinen kleinen Geschichten gerade hinaus will, aber lustig zugehen tut es immer. Mit der Art seines Humors wirkt Florian Illies allerdings unterm Strich ein bisschen wie der Ephraim Kishon der Gegenwart. Spätestens die Original-Kishon-Pointe bei ihm macht diesen Eindruck zur Gewissheit. Auch das ein Erfolgsfaktor: Dieser Humor findet den richtigen Mittelweg, der wohlig eingebettet in den Zeitgeist fraglose Zustimmung sichert und dem Leser zugleich das Gefühl vermittelt, hier schreibe ein Rebell, ein Außenseiter der ausspricht, was sonst keiner zu sagen wagt. Die Revolte als Leseerlebnis im Designersessel.

Uns juckt das nicht, ruft Illies

Nun gäbe es auch bei der betont unpolitischen Haltung die Möglichkeit, auch einmal den laufenden Schwachsinn der anderen Seite aufzuspießen: die Absurdität der Arbeitswelt mit ihren halbgaren Management-Phrasen etwa, die Zauberwelt der deregulierten Wirtschaft und vielleicht auch der Medien. Doch dafür, diese Kräfte mit ihrem gewaltigen und nicht immer intelligentem Normierungsdruck zu attackieren, reicht Illies′ rebellische Haltung nicht aus - eine halbierte Wahrnehmung, die auf den ersten Blick verwundert.

Nur an ganz wenigen Stellen wird Florian Illies in seiner Anleitung zum Unschuldigsein konkret. Gegen Ende, im Kapitel mit der bezeichnenden Überschrift "Heute schäme ich mich, weil es mir gut geht" steht dann aber doch folgender Satz: "Unser klassenfeindliches Klassensystem hat leider niemandem mehr beigebracht, soziale und finanzielle Unterschiede als ein Naturgesetz zu akzeptieren, wie das in Frankreich und England ganz selbstverständlich geschieht." Und dieser Satz: "Inzwischen sind dieser Staat (die DDR) und seine Gleichheitsideologie verschwunden, und auch erste SPD-Politiker erkennen die Folgen einer vierzigjährigen Vernichtung und Verhinderung von Großbürgertum und Bürgertum."

Langsam formt sich das Bild: Dieser Autor ist gar nicht ironisch (was er allerdings auch nie behauptet hat). Er meint tatsächlich, was er sagt: Er will endlich das schlechte Gewissen austreiben. Umweltverschmutzung und Kriegsgefahren, Kinderarbeit und Obdachlosigkeit? Uns juckt das nicht, ruft Illies. Ihm geht es gut, und das will er endlich genießen. In Zeiten der Spaßgesellschaft sehen es die meisten so - hier wird sie vorgetragen mit dem Pathos des Revolutionärs.

So leuchtet hinter Illies′ Zeilen das Idealbild behäbigen Honoratiorenlebens auf: materiell gesättigt, sozial geachtet, nicht hinterfragt. Doch der Zeitgeist steht zwischen ihm und diesem schönen Zustand. Ein Zeitgeist, der immerhin nicht einfach per Gesetz geändert oder wegliberalisiert werden kann - noch immer nicht. Ein Zeitgeist, der bis heute lästige Restbestände von Umweltbewusstsein enthält, von sozialer Verantwortung und gesellschaftlichem Bewusstsein. Überbleibsel eines ehedem linken gesellschaftlichen Konsenses, der mit seinen Imperativen etwas anstrengender war, als das, was Illies sich wünscht. Alle verbalen Pirouetten des Autors drehen sich um den einen Punkt, dass dieses bequeme Leben, trotz aller Leistung und allen Geldes nicht möglich ist. Pech für Illies.

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