Der blinde Fleck des Journalismus

Medien kritisieren alles und alle. Doch Kritik am Journalismus geißeln sie als »Medienschelte«. Thomas Meyer erklärt, warum das so nicht gut ist

Im Sinne einer Politik des full disclosure zeigt die Autorin dieses Textes hier dreierlei an. Erstens: Ich bin mit Thomas Meyer nicht befreundet, kenne ihn aber persönlich und schätze ihn. Zweitens: In meinen nunmehr fast 20 Berufsjahren als politische Journalistin habe ich mich öfter über die bornierte Schiedsrichter-Mentalität geärgert, die man sich in unserem Berufsstand offenbar ungestraft leisten kann. Drittens: Bei einem unerwartet kurzen Ausflug in die politische Sphäre war ich selbst der Gegenstand von Berichterstattung, die weitgehend gleichgerichtet ausfiel, zum Teil sach­liche Fehler enthielt und zum Teil ­Urteile fällte, die zumindest mir als Betroffene maßlos vorkamen (die Frau ist total überfordert / unfähig / beratungsresistent / von Hybris besessen / verrückt / kriminell). Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen setze ich mich hier mit Meyers Thesen zur Unbelangbarkeit von Journalisten auseinander.

Das journalistische Übermenschentum

Der Politikwissenschaftler stellt seiner auf ruhige Weise gnadenlosen Analyse des politischen Journalismus in Deutschland eine Formulierung des verstorbenen FAZ-Herausgebers Frank Schirrmacher voran: Der hatte im März 2014, wenige Wochen vor seinem Tod, vor einem um sich greifenden „journalistischen Übermenschentum“ gewarnt. Er illustrierte seine Warnung mit dem Beispiel des ZDF-Moderators Claus Kleber, der im heute journal den Siemens-Vorstandsvorsitzenden Joe Kaeser eher angeprangert als interviewt hatte: Es ging um die Frage, wie Kaesers Russland-Reise im Frühjahr 2014 während der Ukraine-Krise moralisch zu bewerten sei. Meyer fügt diesem Beispiel für die Übergriffigkeit und Rollenanmaßung mancher „Alphajournalisten“ weitere hinzu, etwa das überlange Kreuzverhör, in dem Marietta Slomka den SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel zu der Frage vernahm, ob eine Mitgliederentscheidung der Sozialdemokraten über den Koalitionsvertrag der Großen Koalition verfassungskonform sei. (Slomka war nicht dieser Ansicht, was sie den streng Befragten auch fast acht Minuten lang spüren ließ.) Oder die einzigartige Herablassung, mit der der Spiegel den SPD-Spitzenkandidaten Peer Steinbrück als „Narziss“, „Schauspieler“ und „Clown“ abqualifizierte. Man könnte zahlreiche weitere Belege für solche Überhebungen nennen – wobei ihre Urheber in bemerkenswert geringem Maße zu reflektieren scheinen, wie Derartiges bei den Betroffenen, vor allem aber beim Publikum ankommt. Auflagenschwund und Medienverdrossenheit könnten ja immerhin den Verdacht nahe legen, dass Leser und Zuschauer sich vielleicht doch weniger mit den Haltungsnotenvergebern identifizieren als mit den Benoteten.

In einem Porträt des scheidenden Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Klaus Wowereit, hieß es in der Welt: „Wir erleben in Reinform: Positionsverweigerung zwecks Unangreifbarkeit, hundertprozentiges Emotionsmanagement statt Intuition, Neutralisierung des Menschen durch das Amt, die Maschinalisierung des Klaus Wowereit. ... Zwar sieht dieser Mensch auf dem Sofa aus wie jener – man mag es kaum noch aussprechen – ‚Wowi‘, doch der, den wir kannten, oder zu kennen meinten, hat schon lange diesen Körper verlassen. Vor uns sitzt eine Hülle und redet in Hülsen.“

Wollt ihr sowas über eure Kinder lesen?

In dieser Passage – es gibt viele ähnliche davon im Text – kommt die Frustration darüber zum Ausdruck, dass hier einer nicht mehr mitspielen will, nicht noch einmal ein Feuerwerk abbrennt, keine guten Quotes liefert, sich verdammt noch mal einfach keine Mühe mehr gibt! „Hey Kollegen“, möchte man den Autoren zurufen: „Erstens, hättet Ihr Lust, sowas über Eure Freunde oder erwachsenen Kinder zu lesen? Und zweitens: Der Mann hat sich doch nur deshalb Unangreifbarkeit und verschlusssichere Formulierungen angewöhnt, weil Leute wie ihr, Leute wie wir, Medienleute eben, ihn zu oft für Angreifbarkeiten, für Uneindeutigkeiten haben büßen lassen!“

Dass die „permanente, hautnahe Belagerung“ von Politikern, das „Sammeln von Gesten und Aussagen“, um den Beschriebenen in die Pfanne zu hauen, genau jene hermetischen Persönlichkeiten hervorbringt, die dann allen politischen Berichterstattern so schrecklich auf die Nerven gehen, ist die eine zentrale These von Thomas Meyer. Die zweite ist, dass man sich darüber nirgends beschweren kann. „Kritik an den Medien ist nicht vorgesehen“, schreibt Meyer: „Kritik an ihren Produkten nennen die Journalisten ‚Medienschelte‘. ... Sogar, als im Jahr 2013 die Frau des Rennfahrers Michael Schumacher das Vordringen von Reportern an das Krankenlager ihres bewusstlosen Mannes vergleichsweise sanft rügte, war in den Printmedien zu lesen, sie habe sich zu ‚Medienschelte hinreißen‘ lassen. Man hat den Eindruck, als wäre Kritik an ­Medien und an Journalisten automatisch immer ein Fehltritt.“

Wie Christian Wulff vernichtet wurde

Die Steigerung von „Medienschelte“ ist der Vorwurf, jemand, der Journalisten für irgendetwas kritisiert, wolle die Pressefreiheit einschränken. Das erlebte Bundespräsident Christian Wulff, als er mitten im Skandalstrudel den Chefredakteur der Bild-Zeitung anrief. Liest oder hört man diesen Anruf(text) mit Distanz, dann hat er ganz wenig mit Drohung und ganz viel mit Verzweiflung zu tun – hier bittet ein Mensch, der seit Wochen durch mediales (und, wie wir heute wissen, weitgehend grundloses) Sperrfeuer geht, um Gnade. Das Schlimme soll aufhören, irgendwie. Aber Wulff wird Verzweiflung nicht zugestanden. Ihm, dem in dieser Situation praktisch Machtlosen, wirft man versuchten Machtmissbrauch vor. Das bringen wirklich nur Leute fertig, die niemals selbst auf einer Titelseite vernichtet ­wurden und sich fragen mussten, was Kinder, Eltern, Partner, Freunde und Mitarbeiter nun wohl von ihnen denken mögen.

Wulffs durchaus differenziertes Buch zur Affäre löste Häme aus: Hier stilisiere sich einer als „politischer Märtyrer“, als „Opfer“. „Wie unvoreingenommen können Journalisten noch berichten, wenn ihr eigenes Verhalten infrage gestellt wird?“, fragt der Spiegel im Vorspruch zu einem Interview mit Wulff, das die Rolle der Medien in seinem Fall problematisiert. Allein dieser Gedanke zeigt, wie wenig die Selbstreflexion, die Selbstkritik, eine Verantwortungs- und nötigenfalls auch Entschuldigungskultur heute in der Branche vorgesehen sind – lange vergessen die Zeiten, als Achtundsechziger über „erkenntnisleitende Interessen“ nachdachten und sie kenntlich machten.

Der Journalist sitzt am längeren Hebel

Je mehr die immanente, unbefragte Medienlogik Ort, Zeit und Anlass für Berichterstattung bestimme (und nicht die Sache, um die es geht), desto uneigentlicher werde die Politik, desto gefährdeter die Demokratie, findet Meyer. Dies aber thematisiere niemand, weil „alles, was über das System öffentlich gesagt werden kann, durch das System hindurch muss“. Sprich: Was das Publikum über Medien und ihre Wirkungen auf die Politik erfährt, bestimmen die Medien. „Die Journalisten sollen die Politiker kontrollieren, wer aber versucht, die Journalisten zu kontrollieren oder zumindest zu erforschen, wie das System funktioniert und wo seine immanente Logik zu Verzerrungen führt, muss selbst durch das Nadelöhr der Presse hindurch – und da sitzen die privilegierten Gatekeeper am längeren Hebel. Solange Journalisten nicht gegen Gesetze verstoßen, sind sie insofern in einem präzisen Sinn unbelangbar: Sie können sich nach eigenem Ermessen jeder folgenreichen Kritik entziehen und notfalls den Kritiker auch noch öffentlich bloßstellen.“ Und dazu neigen sie tatsächlich, wenn jemand die heilige Grundregel verletzt, nach der Journalisten unsichtbar sind.

Warum misstrauen Menschen Medien?

Der Soziologe Hartmut Rosa hat vor kurzem in der FAZ die Vermutung aufgestellt, diffus fremdenfeindliche Bewegungen wie Pegida, Protestparteien und Nichtwähler reagierten gar nicht wirklich auf fremde Menschen in unserem Land, sondern auf die sich rasant verändernden Lebensverhältnisse, auf die Entfremdung zwischen politischer Klasse und Bevölkerung, auf eine gestörte Kommunikation zwischen Teilen der Bürger und „denen da oben“. Thomas Meyer würde dieser These vermutlich zustimmen, aber darauf dringen, dass dabei auch die Medien in ihrer Funktion als Kommunikationskanal untersucht werden müssten: „Interessant wäre es, die Rolle zu klären, die das System der medialen Politikvermittlung für die ­Abwendung wachsender Teile der Gesellschaft von der Politik spielt.“

Ich möchte hinzufügen: Und welche Rolle bei der Abwendung von etablierten Medien, von Zeitungen, Magazinen, traditionellen Sendeformaten. Womöglich vermutet das Publikum, dass die Medien ebenso wenig auf seiner Seite wären, wie sie manchmal Empathie und Respekt und den Wunsch nach echtem Verständnis für die Politik aufbringen. Vielleicht spürt das Publikum die Haltung der Besserwisserei deutlicher, als es sie analysiert. Dann allerdings wäre es nicht nur im Interesse der Demokratie (was schon reichen würde), sondern im ureigenen wirtschaftlichen Interesse der Verlage, dass wir den blinden Fleck des Journalismus, die Wirkungsweise der Medien, ausleuchten. Öffentlich, zur Not im Streit. Wer außer uns Journalisten sollte es tun? Thomas Meyers Buch gibt Hinweise für den Bau eines entsprechend starken Suchscheinwerfers.«

Thomas Meyer, Die Unbelangbaren: Wie politische Journalisten mitregieren, Berlin: Suhrkamp Verlag 2015, 186 Seiten, 15 Euro

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