Demokratie erneuern, Demokratie leben

Von Hans-Peter Bartels und der AG Demokratie der SPD-Bundestagsfraktion - Vorschläge für drei Handlungsfelder

A. Reformen im politischen Betrieb

Die Debatte über Reformen, die zur Überwindung von Politikverdrossenheit und Demokratiedistanz beitragen können, wird oft sehr vordergründig und deklaratorisch geführt. Immer wieder ist von der „Öffnung“ der Parteien für neue Leute die Rede (aber sie verlieren kontinuierlich Mitglieder), von „mehr Bürgerbeteiligung“ (aber das Ohnmachtsgefühl scheint weiter zu wachsen) und von „neuen Formen“ der Demokratie (die aber, wenn es sie denn gibt, die Legitimationskrise der verfassungsmäßigen politischen Willensbildung auch nicht gerade beseitigt haben). Alle diese Floskeln sind gut gemeint, helfen aber – offensichtlich – nicht.

  • Die Wahlbeteiligung geht tendenziell auf allen Ebenen sowie im Westen und im Osten zurück (Bund 2009: 70,8 Prozent).
  • Den Mitgliederparteien schwinden die Mitglieder (SPD 1990: 950.000, 2010: 505.000; CDU 1990: 750.000, 2010: 505.000).
  •  Die Zersplitterung der Parteienlandschaft nimmt zu, die Bindekraft der beiden großen Volksparteien CDU/CSU und SPD sinkt (Konzentrationsgrad der Stimmen 1976: 91 Prozent, 2009: 57 Prozent).
  • Nach Umfragen ist die Zufriedenheit mit der Demokratie in Deutschland (aber auch in anderen westlichen Demokratien) ein prekärer Wert: um 50 Prozent; dramatisch schlechter noch in Ostdeutschland.
  •  Politikverdrossenheit gehört zum guten Ton und wird auch so gelernt. Nach einer Studie der Universität Potsdam 2005 gaben 90 Prozent der jungen Brandenburger zwischen 12 und 20 Jahre an, sie seien „politikverdrossen“.
  • Jeder vierte erwachsene Bundesbürger fände eine Alternative zum politischen Pluralismus unserer Verfassungsordnung attraktiv und stimmt (FES-Studie 2010) dem Satz zu: „Was Deutschland jetzt braucht, ist eine einzige starke Partei, die die Volksgemeinschaft insgesamt verkörpert.“

Um Missverständnissen vorzubeugen: Unsere in sechs Jahrzehnten (im Osten seit 21 Jahren) erprobte Demokratie des Grundgesetzes funktioniert, alles geht seinen Gang, das Volk lebt in Frieden, die Wirtschaft floriert – aber im Verhältnis vieler Bürgerinnen und Bürger zu ihrer staatlichen Ordnung ist ein Unbehagen zu spüren, das Beachtung sucht und auf Veränderung dringt.

Veränderungen am politischen System aber sollten von Demokraten selbst ausgehen, nicht von Populisten und Extremisten. Deutschlands Weg im 20. Jahrhundert ist eine schreiende Warnung vor deren feixendem „Wir können auch anders!“

Demokratie vererbt sich nicht. Sie ist nicht vor aller Erfahrung von alleine da, sondern muss von jeder Generation neu gelernt, eingeübt und gelebt werden. Demokratie wurde erkämpft, sie kann auch – wie in Vergangenheit und Gegenwart an vielen Stellen der Welt zu sehen – verloren gehen. Es gibt eine Geschichte, Erfahrungen, eine demokratische Praxis. Es gibt Spielregeln, die man sich aneignen kann – und die sich weiterentwickeln lassen.

Die Vernachlässigung und Verwahrlosung des politischen Bewusstseins dafür, dass Demokratie Pflege braucht, dass sie Arbeit, Mühe und Leidenschaft erfordert, hat zu einer Situation geführt, in der jetzt zusätzliche Anstrengungen nötig sind: in der Schule, in der politischen Bildung, in den Medien – und selbstverständlich auch im politischen Betrieb selbst.

Wenn die Vorurteile und die Verdrossenheitsklischees verschwinden sollen, müssen die Vorbilder stimmen. Der Willensbildungsprozess nach demokratischen Prinzipien wie „Mehrheit“ und „Opposition“ oder „Streit“ und „Kompromiss“, der etwa den Alltag der parlamentarischen Praxis prägt, muss als Normalfall sichtbarer werden. Die parlamentarische Demokratie ist kein Verfahren zur Vermeidung von Streit. Aber zweifellos kann man besser streiten, als es heute oftmals geschieht!

Zu verbessern sind Regeln und Verfahren im Sinne von Eindeutigkeit und Demonstrativität. Das betrifft gesetzliche Regelungen, Geschäfts- und Tagesordnungen sowie gegebenenfalls die Verfassung. Zu überprüfen sind auch Verhaltensmuster und Sprache der politischen Repräsentanten im öffentlichen Raum. Auch hier hat sich manches eingeschliffen durch die Orientierung an schlechten Vorbildern. Niemand muss „politikerhaft“ sprechen wie eine Phrasendreschmaschine.

Folgende Vorschläge für den Bereich Parlament/Regierung scheinen einer näheren Prüfung und gegebenenfalls den Versuch einer parteiübergreifenden Konsensbildung im Parlament wert:

  • Einführung von Bürgerinitiativen, Bürgerbegehren, Bürgerentscheid auf Bundesebene (Volksgesetzgebung): „In gesetzlich festzulegenden Grenzen sollen sie die parlamentarische Demokratie ergänzen, und zwar nicht nur in Gemeinden und Ländern, sondern auch im Bund. Wo die Verfassung der parlamentarischen Mehrheit Grenzen setzt, gelten diese auch für Bürgerentscheide.“ (Grundsatzprogramm der SPD, S.32)
  • Einführung einer konsultativen Volksbefragung
  • Einfügung einer Oppositionsklausel ins Grundgesetz, in der die Aufgabe der parlamentarischen Opposition beschrieben wird. In einigen Landesverfassungen (z. B. Hamburg, Sachsen, Mecklenburg-Vorpommern) gibt es diese schon. Auch die Einfügung eines Artikels, in dem die Aufgabe von Fraktionen bestimmt wird, wäre zu prüfen.
  • Klarere Fassung Art. 21/Parteien wirken mit (wer wirkt noch alles mit?)
  • Keine Nebentätigkeiten von Abgeordneten (Bund, EU)Lobbyregister beim Deutschen Bundestag
  • Keine Spenden von Firmen und Verbänden an Parteien
  • Überprüfung des Wahlrechts im Fünf-Parteien-System (Boom der Überhangmandate)
  • Verfassungsfeste Diätenregelung, die ständige Selbstbefassung überflüssig macht (Kopplung an Entwicklung des durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommens, Inflation, BSP o. ä.)
  • Komplett-TV-Übertragung von Bundestagssitzungen auch abends und nachts; öffentliche Übertragung von Ausschusssitzungen (Konferenzschaltung): d. h. von 365 Tagen könnte Phoenix an 66 Tagen (22x3) Parlamentsfernsehen sein. Begonnen werden sollte mit der öffentlichen Übertragung der Sitzungen des Petitionsausschusses.
  • Gelegentlich „auswärtige“ Ausschusssitzungen, öffentlich
  • Reduzierung der Zahl der Plenumsdebatten, Abschichtung auf öffentlich tagende Ausschüsse
  • Kürzere Reden, gegebenenfalls auch vom Platz aus (lebendigere Ästhetik)? Frei zu halten?
  • Statt halbstündiger Unterrichtung durch die Bundesregierung zu einem Kabinettstagesordnungspunkt mittwochs eine Stunde Befragung der Bundesregierung bei Anwesenheit von Kanzlerin/Kanzler (wie in Großbritannien: Prime Minister’s Questions)
  • Zulassung von fünf Bürgerfragen in der Fragestunde des Deutschen Bundestages. Die Frage selbst (einschließlich Absender) wird vom antwortenden Regierungsmitglied verlesen und mündlich beantwortet. Die Abgeordneten haben auch zu diesen Fragen ein Nachfragerecht. Darüber hinaus streben wir einen grundlegenden Ausbau der Mitwirkungsmöglichkeiten und eine umfassende Transparenz des Verfahrens im Petitionsrecht an.
  • Noch bessere politisch-bildnerische Begleitung von Berlin-Besuchern durch Bundestag und Bundespresseamt (z. B. Broschüre „Fakten – der Bundestag auf einen Blick“). Vorsicht vor Halb-Verstandenem und Früher-mal-Richtigem!
  • Verständigung auf eine „Abgeordneten-Ethik"
  • Sprachmuster – nicht selbst Politikverdrossenheit das Wort reden (Prof. Zeh):
    • Sagt niemals, es sei ja „nur parteipolitisch“, was der politische Gegner vorbringe!
    • Schlagt niemals vor, man möge ein bestimmtes Thema „aus dem Wahlkampf heraushalten“!
    • Hört auf damit, jede Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts als „schallende Ohrfeige“ für die im Rechtsstreit unterlegene Seite zu bezeichnen!
    • Missbraucht nicht die Befürchtung, etwas „fördere die Parteienverdrossenheit“, in der politischen Auseinandersetzung!
    • Erzählt auch nicht zu oft die Sage, „früher“ sei es im Bundestag viel besser gewesen, es habe gewaltigere Redner, bedeutendere Persönlichkeiten und knorrigere Charaktere gegeben! Es ist nur eine Alterserscheinung, so zu reden.
  • Immer die Bedingungen politischen Handelns mit thematisieren – als in der Öffentlichkeit politisch Handelnder
  • Die Demokratie zu erklären und dem Verdrossenheitspopulismus entgegenzuwirken, könnte eine der wichtigsten Aufgaben des Bundespräsidenten sein.


B. Demokratie braucht Demokraten: Grundlagen einer zeitgemäßen Demokratischen Bildung in der Schule

Die Grundwertekommission beim Parteivorstand der SPD definiert Demokratie in einem 2009 erschienenen Papier als „einzig verlässliche legitime Ordnung der Freiheit“. Weiter heißt es: „Freiheit und Demokratie sind für die Sozialdemokraten universell gültige Prinzipien.“ Demokratie ist für uns dabei mehr als parlamentarische Demokratie, sie reicht weit bis in das Leben eines jeden Einzelnen hinein. Das ist der gedankliche Ausgangspunkt, von dem aus wir uns mit der Frage von Demokratieverdrossenheit und Demokratischer Bildung befassen. Klar ist dabei: Demokratie braucht Demokraten oder, anders ausgedrückt, Demokratie als Herrschafts- und Gesellschaftsform braucht feste sozial-moralische Unterstützung. Aktuelle Demokratiestudien belegen, dass diese Unterstützung, gerade bei Kindern und Jugendlichen – und damit den Demokratinnen und Demokraten von morgen – zunehmend erodiert. Darum stellen wir uns die Frage: Wie muss Demokratische Bildung in der Schule aussehen, um aus jungen Menschen Demokratinnen und Demokraten zu machen?

Derzeitige Demokratiestudien zeigen das grundsätzliche Problem, dass verzerrte Vorstellungen von demokratischen Prozessen und Institutionen weit verbreitet sind. So nehmen z. B. zwei Drittel der Deutschen an, dass es die Aufgabe der Opposition sei, der Regierung zu helfen. Da ist es nicht weiter verwunderlich, wenn die Opposition in ihren Augen einen schlechten Job macht. Auch andere falsche Erwartungen an Demokratie, wie z. B. ein stark auf Harmonie orientiertes Verständnis, führen bei Kindern und Jugendlichen automatisch zu Enttäuschungen. Demokratie, deren notwendiger Kern ja gerade der Streit um die besten Ideen ist, kann an diesem Vorverständnis nur scheitern. Darum ist es wichtig, Demokratische Bildung stärker an den Vorurteilen, an den Ressentiments und pseudoplausiblen Parolen des verdrossenen Mainstreams ansetzen zu lassen.

Auch ist zu berücksichtigen, dass sich der Gegenstand der Demokratischen Bildung zunehmend wandelt. Parlamentarische Prozesse sind komplexer und schwerer zu vermitteln als noch vor dreißig Jahren, und auch die Demokratie vor Ort ist schwerer zu durchschauen und jedenfalls immer daran geknüpft, dass Jugendliche sich aktiv informieren müssen. Die Lebenswelt der Jugendlichen ist heute eine andere – im Positiven wie Negativen. An dieser Stelle sei als ein Beispiel die ungeordnete Informationsflut genannt, der junge Menschen durch das Internet ausgesetzt sind. Einerseits kann das die demokratische Beteiligung erschweren, da Informationen gewichtet und bewertet werden müssen. Andererseits bietet das Internet ganz neue und vielfältige Möglichkeiten, sich demokratisch zu beteiligen. Eine zeitgemäße Demokratische Bildung kann helfen, Zusammenhänge zu kategorisieren und zu verstehen und die sich bietenden Chancen zu nutzen.

Schülerinnen und Schüler müssen die Grundlagen von Demokratie als Herrschaftsform erlernen. Demokratie muss aber zugleich auch als Lebensform vermittelt werden. Kinder und Jugendliche sollten ganz selbstverständlich an demokratischen Prozessen beteiligt sein. Dabei lernen sie demokratische Handlungskompetenzen wie Verantwortung, Urteils-, Kritik- und Handlungsfähigkeit am besten, denn junge Menschen entwickeln demokratisches Verständnis vor allem über persönliche Erfahrungen und eigenes Handeln. Schule muss hierfür eine breite Gelegenheitsstruktur bieten und demokratische Beteiligung einfordern.

Diese Überlegungen machen deutlich, dass sich Demokratische Bildung veränderten Rahmenbedingungen anpassen und neue Schwerpunkte setzen muss, damit sie mehr Akzeptanz erlangen und dazu motivieren kann, sich an demokratischen Prozessen zu beteiligen.

Soziale Demokratie: Soziale Teilhabe als Voraussetzung für demokratische Teilhabe

Für Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten gehört zur Frage nach der Beteiligung an demokratischen Prozessen immer auch die Frage nach den Bedingungen, sich beteiligen zu können. Entscheidend für eine erfolgreiche Demokratische Bildung aus sozialdemokratischer Sicht ist daher besonders die Frage: Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit junge Menschen erlernte Fähigkeiten der demokratischen Teilhabe in ihrer persönlichen Lebenswelt tatsächlich aufgreifen und in die Tat umsetzen können?

Auf diese Frage gibt das von aktuellen Studien ermittelte Demokratieverständnis Jugendlicher eine interessante Antwort. Auch wenn die Demokratie als Staatsform von den meisten jungen Menschen akzeptiert wird, kritisieren sie ihre praktische Verwirklichung. Es herrscht eine hohe Unzufriedenheit mit der demokratisch-politischen Realität. Demokratie soll in den Augen der Jugendlichen mehr sein als die bloße Möglichkeit, sich an politischen Prozessen zu beteiligen. Sie muss zugleich die entsprechenden Voraussetzungen dafür generieren. In sozialer Teilhabe sehen viele junge Menschen die Voraussetzung für demokratische Teilhabe.

Auch das Hamburger Grundsatzprogramm der SPD benennt soziale Teilhabe als Voraussetzung, um Möglichkeiten zur demokratischen Teilhabe aktiv nutzen zu können. „Nur wer sich sozial ausreichend gesichert weiß, kann seine Freiheit nutzen.“

Hier wird es in Zukunft darauf ankommen, den Begriff der Sozialen Demokratie mit Leben zu füllen und für die Menschen erlebbar zu machen. Soziale Ausgrenzung behindert politische Teilhabe. Demokratie muss so ausgestaltet werden, dass sie das Versprechen des sozialen Aufstiegs für alle – unabhängig von der sozialen Herkunft – ermöglicht. Wir müssen uns bemühen, allen Menschen in unserer Gesellschaft die Möglichkeit der demokratischen Teilhabe über soziale Teilhabe zu eröffnen und zu erleichtern.

Dieser Anspruch wird auch in dem Beschluss des SPD-Parteivorstands „Mehr Demokratie leben“ deutlich: „Wir müssen … wieder dafür sorgen, dass wir in Deutschland das demokratische Versprechen der sozialen und gesellschaftlichen Teilhabe einlösen. Das Versprechen der demokratischen Gleichheit bezieht sich nämlich nicht nur auf die politischen Beteiligungsrechte, sondern auch auf das Ziel von mehr sozialer Gerechtigkeit.“

Schule als Handlungsfeld gelebter Demokratie – Akteure und Instrumente

Wie also kann eine zeitgemäße Demokratische Bildung in der Schule als zentralem Ort des Lernens konkret umgesetzt werden? Nicht unerwähnt bleiben soll an dieser Stelle, dass auch andere Akteure, etwa Familie, Kita, Vereine, Parteien, Kommunen und Medien, an der Demokratischen Bildung von Kindern und Jugendlichen mitwirken. Auch die Träger der politischen Bildung leisten einen Beitrag bei den hier behandelten Fragen. Die folgenden Punkte beziehen sich auf die Schule.

Schule als Handlungsfeld gelebter Demokratie:
Schülerinnen und Schüler müssen in der Schule die Möglichkeiten haben, sich aktiv zu engagieren und einzubringen. Durch das Mitwirken an Schülerzeitungen, Schülerradios, sozialen und kulturellen Projekten lernen Kinder und Jugendliche, Verantwortung zu übernehmen. Im Unterricht müssen demokratische Handlungskompetenzen erlernt werden. Am besten geht das, wenn es auch im Unterricht demokratisch zugeht. Eine Demokratisierung der Schule darf nicht vor den Klassenzimmern halt machen. Gerade die Einrichtung von Ganztagsschulen eröffnet ein riesiges Potenzial zur Demokratisierung von Schulen. Ein solcher Prozess ist eine Herkulesaufgabe, die Schulen mitunter nicht allein bewältigen können. Demokratie-Coaches, die Schulen bei der Demokratisierung ihres Alltags begleiten und unterstützen, können dabei eine wichtige Rolle spielen. Darüber hinaus können demokratische Handlungskompetenzen auch durch Debattier-Clubs und Debattier-Wettbewerbe weiter ausgebildet werden. Auch Rollenspiele (UN, Gemeinderat) veranschaulichen demokratische Prozesse und ermutigen Jugendliche zur aktiven Teilhabe. Eine gelebte Anerkennungskultur (Preisverleihungen, Urkunden, Medienberichte) verdeutlicht Wertschätzung gegenüber demokratischem Handeln und stiftet andere zum Nachahmen an, wie etwa beim Wettbewerb „Demokratisch Handeln.“

Schule muss in sich demokratisch organisiert sein:
Lehrerinnen und Lehrer, Eltern, Schülerinnen und Schüler müssen zu gleichen Teilen an allen wichtigen Entscheidungen des Schulalltags beteiligt werden (Drittelparität). Dafür müssen die Mitwirkungsgremien innerhalb der Schule gestärkt werden sowie ernsthafte Mitwirkungs-, Mitsprache- und Mitentscheidungskompetenzen in Schulangelegenheiten erhalten. Demokratische Bildung muss in der Schule eine fächerübergreifende Aufgabe sein und darf sich nicht auf den Politikunterricht (soweit überhaupt vorhanden) beschränken. Und Demokratische Bildung ist nicht nur etwas für die Oberstufe, bereits in der Grundschule können kindgerechte Methoden die Grundlage für demokratisches Verständnis und Miteinander legen. Dafür ist eine zielgerichtete demokratiedidaktische Aus- und Fortbildung der Lehrerinnen und Lehrer notwendig. Auch eine hinreichende Deckung des Fachlehrerbedarfs muss sichergestellt werden.

Begegnungen zwischen Schülerinnen und Schülern mit Politikerinnen und Politikern:
Durch den regelmäßigen Kontakt zwischen Schule und Vertreterinnen und Vertretern von Parteien und po
litischen Institutionen wird Politik durch Personalisierung erlebbar.i Auch der Deutsche Bundestag sowie andere politische Institutionen (Bundesrat, Ministerien, Landesparlamente, Rathäuser) bieten zahlreiche Aktivitäten speziell für Kinder und Jugendliche (Jugend im Parlament, KuppelKucker.de, Girls’ Day, Jugendmedientage) an. Diese sollten von den Schulen noch stärker als bisher genutzt und von den Abgeordneten noch offensiver angeboten werden.

Brückenfunktion der Schule zum sozialen und gesellschaftlichen Umfeld stärken:
Demokratische Beteiligung der Jugendlichen bedeutet auch, über die Schule hinaus am eigenen Wohnort aktiv zu werden. Schule wird so zum „Haus des praktischen Lernens“.

C. Demokratie und Medien

Wir leben in einer Mediengesellschaft. Diese Feststellung wird niemand ernsthaft bestreiten. Aber was besagt das? Politische Entscheidungen lassen sich in pluralistischen Gesellschaften weder in obrigkeitsstaatlicher Manier noch in hierarchischer Willensbildung treffen. Politische Herrschaft muss besonders in Demokratien auf Zustimmung und Akzeptanz basieren. Entscheidungen müssen vermittelt werden.

In modernen Gesellschaften wie der Bundesrepublik Deutschland funktioniert dieser Informations- und Vermittlungsprozess ganz wesentlich über Massenmedien. Fernsehen, Zeitungen und Zeitschriften, Radio und Internetmedien entscheiden darüber, was eine Nachricht ist, worüber öffentlich diskutiert wird. Was wir wissen oder zu wissen glauben, haben wir gehört, gelesen, gesehen.

Die besondere Privilegierung der Massenmedien durch Gesetzgebung und Rechtsprechung wird mit dieser politischen Funktion für die demokratische Gesellschaft begründet. Die Medien leisten eine öffentliche Aufgabe, sie stellen den Raum der Öffentlichkeit her, ihnen kommen öffentliche Funktionen zu: Zum einen können sie als zentrale Vermittlungsinstanz für öffentliche Diskussionen die entsprechenden Foren bieten und somit gesellschaftliche Debatten ermöglichen. Zum anderen nehmen Medien auch eine Orientierungs- und Willensbildungsfunktion wahr, indem sie sich selbst an Debatten mit eigenen Positionen und Wertungen beteiligen.

Aber werden die Medien diesem öffentlichen Auftrag auch tatsächlich gerecht? Realistisch gesehen: nicht immer. Jedenfalls lassen sich hier vielfältige Entfremdungsprozesse beobachten: Die Auflagen der Zeitungen sinken, die öffentlich-rechtlichen Fernsehprogramme verlieren kontinuierlich Zuschauer. Im Mediensystem macht sich eine Tendenz zur Popularisierung und Boulevardisierung des Journalismus breit. Kritischer Journalismus wird schleichend marginalisiert.

Gleichzeitig kommen immer stärker Zweifel am Abstandsgebot zwischen Politik und Medien auf. Zunehmend drängt sich der Hang zum „Schiedsrichterjournalismus“ bzw. der mediale Versuch, „Ersatzpolitiker“ zu spielen, in den Vordergrund. Nicht mehr die Darstellung, Organisation und Kommentierung von aktuellen politischen Debatten und Entscheidungen steht im Zentrum, sondern der Wille, selbst „Politik zu machen“. Dies beginnt bei der Pose des „Die Politiker können es alle nicht“ über „Wir sagen euch mal, wie es eigentlich gehen müsste“ bis hin zu dem Versuch, selbst das zukünftige Spitzenpersonal zu bestimmen.

Der Fall des ehemaligen Verteidigungsministers Karl-Theodor zu Guttenberg ist für diese Tendenz paradigmatisch. Sein Aufstieg zum „beliebtesten Politiker Deutschlands“ war in erster Linie ein mediales Produkt. Mit einer breit angelegten Personalityshow, die nicht auf Boulevardformate begrenzt war, versuchten Teile der Medien mit beachtlichem Erfolg einer Person den Weg – an den demokratisch legitimierten Institutionen vorbei – in höchste Staatsämter zu ebnen. Auch Guttenbergs politischer Absturz war letztendlich ein mediales Produkt. Der politische Betrieb spielte dabei eher eine begleitende, nachvollziehende Rolle. Die eigentliche Auseinandersetzung fand in den Medien statt. Dies wirft Legitimationsfragen auf: Wer bestimmt in den Medien den Ton und die Richtung?

Eng damit verbunden ist die Beförderung von Verdrossenheitsklischees, zum Beispiel in den beliebten öffentlich-rechtlichen Fernsehtalkshows. Da versagt dann „die Politik“ – nicht die Bundesregierung oder die Opposition. Abgehoben sind „die Politiker“ ohnehin. Erst in einem ARD-Fernsehstudio in Köln oder Berlin treffen sie auf die „Wirklichkeit“. Mit der Beförderung dieser Klischees unterminieren Medien aber die Grundlagen unserer seit über sechzig Jahren ganz stabil funktionierenden Demokratie. Gerade der öffentlich-rechtliche Rundfunk, der mit Gebühren finanziert einen Bildungs- und Vermittlungsauftrag wahrnehmen sollte, wird dem immer weniger gerecht. Noch so sorgfältig gecastete Talkshows können die parlamentarischen Debatten weder erklären noch ersetzen.

Eine besondere Stellung in der Mediengesellschaft nehmen die so genannten Neuen Medien ein: In den letzten Jahren gab es hier, besonders durch das Web 2.0, bemerkenswerte Weiterentwicklungen. Soziale Netzwerke knüpfen millionenfach hierarchielose Beziehungen, Videoplattformen wie YouTube spannen ein audiovisuelles Netz um den Globus, an dem jeder von überall mitstricken kann. Damit einher geht eine enorme Ausweitung der theoretischen Partizipationsmöglichkeiten und -forderungen.

Gleichzeitig wirft diese Entwicklung aber auch Probleme auf. Wer (Bildung, Alter, Einkommen) hat Zugang zu diesem Medium? Und wer nutzt es in dem beschriebenen Sinne? Welche Legitimation und Verbindlichkeit steht beispielsweise hinter Millionen Klicks auf Facebook? Die bisherigen Versuche in Deutschland, eine „Online“-Bewegung (Gauck, Guttenberg) in eine reale politische Bewegung zu transformieren, etwa durch große Demonstrationen auf der Straße, sind gescheitert. Und ob die Freiheitsbewegungen in der arabischen Welt erst durch Internetkommunikation über Facebook oder Twitter möglich wurden, daran lässt sich zweifeln. Die Dritte Welle der Demokratisierung in den achtziger Jahren in Europa kam schließlich auch noch ganz ohne das Internet aus. Man sollte vorsichtig sein, die Möglichkeiten des Internets zu überschätzen: Am Ende bleibt es ein Kommunikations-Mittel, wenn auch ein wirkungsmächtiges!

Folgende Vorschläge für den Bereich der Medien scheinen einer näheren Prüfung und einen Versuch wert, darüber mit Nutzern und Verantwortlichen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und der Printmedien zu diskutieren.

  • Die Entwicklung eines eigenständigen Parlamentsmagazins zu guter Sendezeit im öffentlich-rechtlichen Fernsehen (ARD, ZDF): Bislang wird die parlamentarische Tätigkeit in den Spartenkanal Phoenix abgedrängt. ARD und/oder ZDF sollten künftig einmal wöchentlich ein neuartiges Magazin ausstrahlen, das Bemerkenswertes aus Bundestag und Landtagen zusammenfasst, aber auch tatsächliche Funktionsweisen und Abläufe des Parlamentarismus vermittelt.
  • Notwendig ist eine verstärkte Ausrichtung der Websites der öffentlich-rechtlichen Sender hin zu multimedialen (und gegebenenfalls auch im schulischen Rahmen nutzbaren) Bildungsangeboten. Im Streit mit den privaten Medienkonzernen hätten die öffentlich-rechtlichen Sender hiervon zusätzlich den Vorteil eines Legitimationsgewinns der eigenen Internet-Angebote.
  • Regierungsmitglieder und Parlamentarier sollten sich aus den Gremien des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zurückziehen. Dadurch würde die Freiheit zur Kritik steigen – dem Verdacht der unzulässigen Einflussnahme wäre der Boden entzogen.
  • Die Auslagerung der Produktion von Polittalkshows für das öffentlich-rechtliche Fernsehen in private, meist mit den Moderatoren verbundene Produktionsunternehmen verstärkt die Tendenz zur inhaltlichen Verkürzung, Zuspitzung und Dramatisierung und befördert das Bild einer „Skandal- und Aufregungsdemokratie“ zusätzlich. Deshalb muss beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen die Produktion von Polittalkshows wieder in Eigentätigkeit der Sendeanstalten erfolgen.
  • Der Bund hatte früher über das Bundespresseamt einen Etat für Forschungsprojekte im Bereich Medien und Kommunikation. Er sollte wieder eingeführt werden. Studien zur Mediennutzung, Medienwirkung und Medienkompetenz könnten hierüber gefördert werden.
  • Das Potenzial des Bürgerjournalismus wird derzeit bei weitem noch nicht ausgeschöpft. Die politischen Parteien könnten die Entwicklungen auf diesem Sektor stärker propagieren und vorantreiben. Dazu könnten Einrichtungen aufgebaut werden, in denen unterschiedliche Arten von Bürgerjournalismus nach bestimmten qualitativen Maßstäben von jedem interessierten Bürger „erlernt“ werden können. Dieser Bürgerjournalismus könnte als neue Form des Journalismus negativen oder restriktiven Tendenzen der Mediengesellschaft erfolgreich entgegenwirken.
  • Ein unabhängiger Medienrat sollte dauerhaft beim Bundespräsidenten eingerichtet werden. Dieser hätte die Aufgabe, jährlich einen Bericht zur Lage der Medien herauszugeben und öffentliche Debatten über Entwicklungen in der Mediengesellschaft anzustoßen.
  • Wünschenswert wäre, die bisher föderal zersplitterten Kompetenzen der rechtlichen Medienaufsicht auf der Bundesebene zu bündeln.
  • Zeitungen sind für Meinungsvielfalt und Demokratie unverzichtbar. Zur Stärkung von Printmedien ist es notwendig, Qualitätsjournalismus – auch durch Angebote zur Aus- und Weiterbildung – zu fördern. Dafür sollten auch öffentliche Mittel bereitgestellt werden.
  • Nicht nur der Markt, sondern auch die Medienpolitik ist gefordert, immer neue Leistungsziele und -anreize zu finden, Entwicklungen und Prozesse zu begleiten und zu moderieren, ohne dabei den Grundsatz der Staatsferne zu unterlaufen. Mögliche Maßnahmen wären: die Förderung medienkritischer Foren; eine Talentförderung bei der Vergabe von Stipendien für themengebundene Recherchen wie z. B. vom Netzwerk Recherche e.V.; die Auslobung hoch dotierter, dem Qualitätsjournalismus verpflichteter Medienpreise in großen nationalen Wettbewerben ähnlich dem Deutschen Filmpreis.
  • In einem Vielkanal-Fernsehsystem und einer Zeitungskultur, deren Macher sich selbst im Niedergang betrachten, wird bei einer weiteren Ausweitung des online-Angebotes kritischer, informierender Journalismus nur dann eine Zukunft haben, wenn die Bürger über eigene Medienkompetenz verfügen. Damit ist weniger die technische Fertigkeit zur Nutzung von Medien wie z. B. dem Internet gemeint als die Fähigkeit, Informationen selbstbestimmt und reflektiert auswählen und bewerten zu können. Schon einfache Leseförderung leistet einen Beitrag dazu. Die Vermittlung dieser Art von Medienkompetenz ist eine wichtige Aufgabe aller schulischen und außerschulischen Bildungseinrichtungen. «


Die Mitglieder der AG Demokratie der SPD-Bundestagsfraktion sind: Hans-Peter Bartels, Marco Bülow, Sebastian Edathy, Siegmund Ehrmann, Kerstin Griese, Barbara Hendricks, Petra Hinz, Oliver Kaczmarek, Daniela Kolbe, Ute Kumpf, Dirk Lange, Katja Mast, Wolfgang Merkel, Tobias Mörschel, Sönke Rix, Michael Roth, Martin Schwanholz, Rolf Schwanitz und Thomas Steg

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