Das Spektakel der reinen Unvernunft

Finanzkrise und »Rettungsschirme« werfen die Völker Europas auf ihre nationalen Ressentiments zurück. Genau solche Lagen haben früher zu gewalttätigen Auseinandersetzungen geführt. Wie weit ist der Weg von der Krise in den Krieg?

Es herrscht Krieg. Währungskrieg, Handelskrieg, Klassenkrieg. In den arabischen Staaten erhebt sich das Volk. Systeme brechen zusammen. Eine weltumspannende Kriminalität torpediert die rechtsstaatlichen Systeme aus dem Untergrund. Staats- und Finanzkrisen rütteln an den Fundamenten der Gesellschaften. Wenn sich für die westliche Schuldenkrise nicht bald eine Lösung findet, droht sogar ein Weltkrieg, weil zu wenige Menschen zu viel besitzen – und zu viele zu wenig haben.

Wer an dieser Stelle eine Angstneurose vermutet, sollte sich daran erinnern, dass es am 14. November 2012 in ganz Europa erneut zu Protesten gegen die Sparpolitik der Regierungen kam. Die Generalstreiks in Spanien und Portugal sind ein ernstes Warnsignal dafür, dass die Geduld und Leidensfähigkeit vieler Menschen in Südeuropa am Ende sind. In Italien kam es zu guerillaähnlichen Szenen. In Spanien wurden mehr als 40 Menschen verletzt, darunter 18 Polizisten. 110 Streikende wurden festgenommen.

In Portugal war es der dritte Generalstreik in zwölf Monaten. Die Gesamtverschuldung des Landes lag zu diesem Zeitpunkt bei 120 Prozent. Das mittlere Einkommen der Portugiesen beträgt kaum mehr als 1.000 Euro; fast jede vierte Familie lebt unterhalb der Armutsschwelle. In Spanien war Ende 2012 jeder zweite junge Mensch unter 25 Jahren arbeitslos, in Portugal jeder Dritte – Tendenz steigend. Immer neue Kürzungen bei Renten, Löhnen, Bildung, Gesundheit und sozialen Leistungen verschärfen die Not. Und das Klima wird sich weiter erhitzen, wenn die „Spar-Axt“ nicht endlich mit größerem Augenmaß an die staatlichen Schuldenberge angesetzt wird.

Die Wut geht einher mit dem Ansehensverlust der südeuropäischen Amtsträger. Ihnen wirft man vor, die öffentlichen Kassen in den vergangenen Jahren regelrecht geplündert, Steuergelder massiv vergeudet oder sogar veruntreut zu haben. Und nun fordern eben diese Politiker vom „kleinen Mann“, doch bitte Opfer zu bringen. Gleichzeitig schleusen viele multinationale Konzerne und Multimillionäre einen Großteil ihrer Gewinne am Finanzamt vorbei. Der Schwiegersohn des spanischen Königs steht unter dem Verdacht, ergaunerte öffentliche Gelder in Steuerparadiesen geparkt zu haben. Vetternwirtschaft, Korruption und Steuerbetrug gelten auf der iberischen Halbinsel als die größten Wachstumshindernisse.

So viele Brandherde wie nie zuvor

Die Politik steckt in einer Glaubwürdigkeitskrise, weil das Gefühl für gerechte Lastenverteilung verlorengegangen ist. In Spanien werden marode Banken mit öffentlichen Milliardenhilfen gerettet. Aber wenn Familien ihre Hypotheken nicht mehr bedienen können, landen sie gnadenlos auf der Straße. Wird das Versprechen Europas nicht eingelöst, die absterbende Wirtschaft der Krisenländer anzukurbeln, könnte eine „Radikalisierung der Straße“ erfolgen. Allerdings: Sollte die Lernkurve der Politik weiter so flach verlaufen wie bisher, dann könnte es sein, dass die Radikalisierung eine Zukunft überhaupt erst wieder ermöglicht. Es ist höchste Zeit für die Einsicht, dass in einer „marktkonformen Demokratie“, die sich dem Ereignisdruck der Märkte beugt, der Parlamentarismus unter die Räder kommt. Die parlamentarische Demokratie droht durch einen perpetuierten Ausnahmezustand ersetzt zu werden, in dem die jeweilige Exekutive nach Gutsherrenart über existenzielle Grundfragen ganzer Nationen entscheidet.

Zwischen Politik und Finanzwelt tobt ein Machtkampf. Die Kriegsführung der Finanzindustrie ist vergleichbar mit den Strategien militärischer Eroberer der Vergangenheit: Die Finanzwirtschaft zielt auf die Übernahme staatlicher Infrastruktur und die Aneignung von Land und Ressourcen. Sie fordert ungeheure Tributzahlungen und führt zu unkontrollierten Schuldenmengen. So haben sich die Finanzmärkte in Schlachtfelder verwandelt. Dort finden Stellvertreterkriege statt, geprägt von nationalen und partikularen Interessen und einer besonderen Art der Gewaltausübung. Die Schulden-, Kredit- und Zinspolitik von Regierungen, Zentralbanken, Geschäftsbanken und anderen Finanzinstitutionen führte dazu, dass sich viele Brandherde ausgebreitet haben. Das mittels langjähriger harter und ehrlicher Arbeit geschaffene Vermögen ganzer Generationen verglüht darin. Der Kapitalismus ist zu einer Kampfansage an die – bisher überwiegend von der Leistungsethik bestimmte – bürgerliche Welt verkommen. Individuelles Glück und gesellschaftliche Ordnung sind in das Visier von Angreifern geraten, die das Gemeinwohl ihrer hemmungslosen persönlichen Bereicherungsgier opfern.

So ist der gesellschaftliche Frieden in Gefahr geraten – nicht nur in Europa. Das 20. Jahrhundert hat in erschreckender Fülle und Eindeutigkeit gezeigt, dass wirtschaftliche Probleme, ethnische Spannungen und staatlicher Machtzerfall immer die Vorboten blutiger Gemetzel sind. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts gibt es so viele neue Brandherde wie nie zuvor. Alle Vorbedingungen für Kriege und Bürgerkriege prallen zeitgleich aufeinander.

Mit den saisonüblichen Litaneien von Politikern ist in dieser Lage niemandem geholfen. Sie ähneln immer mehr Gebetsritualen, die man besser Theologen überlassen sollte. Einige von ihnen äußern sich freilich qualifizierter und klarer zur Finanzkrise als viele deutsche Politiker. Man beachte etwa die Klarheit der Gedankenführung des Jesuitenpriesters Friedhelm Hengsbach in seinem Buch Ein anderer Kapitalismus ist möglich.

Hingegen wird die Fortsetzung der bisherigen Politik keine nachhaltigen und gerechten Lösungen bringen. Die Zeiten, in denen wir die Sicherung des eigenen Glücks an inkompetente und selbstsüchtige Machthaber delegierten, sollten vorbei sein. Jeder muss die Realisierung seiner Lebenschancen in die eigenen Hände nehmen. Jegliches Vertrauen in die Gemeinwohlorientierung der Geldeliten und die erforderliche Kompetenz politischer Führungszirkel ist unangebracht. In zahlreichen Staaten hat die Politik ihre Unabhängigkeit gegen die eigensüchtigen Pseudowahrheiten der Bankenoligarchie eingetauscht. Die bereits in einigen Ländern eingesetzten „Expertenregierungen“ sind Vorformen eines Ausnahmezustandes, aus dem mittlerweile selbst demokratische Wahlen nicht mehr ohne weiteres herausführen.

Trotz der offensichtlich gewordenen gesellschaftszerstörenden Wirkungen eines entfesselten Finanzkapitalismus versuchen zu viele Politiker nach wie vor, die Verhältnisse schönzureden, an deren Entstehung sie selbst beteiligt waren. Amtsinhaber fühlten sich ausgerechnet denjenigen Unternehmern besonders verpflichtet, die sich die Regierung wiederum eigentlich vom Hals halten wollten – eine Haltung, die durch die vorherrschende Ideologie freier Märkte noch verstärkt wurde.

Die letzte Instanz des Kapitalismus

Somit ist das Versagen der Finanzmärkte auch Ausdruck eines staatskapitalistischen Systemversagens. Deshalb verlangen die anhaltenden Finanzkrisen eine neue Debatte über Inhalt und Reichweite des Sicherheitsbegriffs. Die um sich greifende Verwendung des Ausdrucks „Krieg“ zeigt schon jetzt, dass auch die innere Sicherheit nicht mehr auf die klassischen Grenzen individuellen Rechtsgüterschutzes zu beschränken ist.

Der zunehmende Verlust des Vertrauens in die Problemlösungskompetenz demokratisch legitimierter Politik gefährdet den sozialen Frieden und führt zu einer Fülle von Folgeproblemen, die mit polizeilichen Mitteln nicht lösbar sind. Der gegensätzliche Charakter von Wirtschaftsordnungen und nationalen Interessen hat sich derart verschärft, dass gewaltsame Entladungen nicht mehr auszuschließen sind. In einer globalisierten Welt muss für ein Mindestmaß an ökonomischem Anstand gesorgt werden, weil davon auch der innere Frieden in Europa abhängt. Mit den gewaltigen Finanzkrisen geht eine ebenso große Vertrauenskrise einher, welche die Glaubwürdigkeit des wirtschaftlichen Systems, die Gerechtigkeit und die Handlungsfähigkeit des demokratischen Staats akut gefährdet. Der Staat tritt über den Sündenfall des Monetarismus in Form einer expansiven Geldschöpfung der Notenbanken als „letzte Instanz“ des Kapitalismus in Aktion. Die strukturelle Gewalt der Ökonomie wirkt oft direkt in die Politik hinein und steuert die Staatsgewalten, zwingt also den Staat zu ganz bestimmten Prioritäten und definiert, was „systemrelevant“ ist und was nicht.

Politiker, Finanzmarktakteure und Wohlstandsbürger haben sich im Börsenspiel zur tragischen Schicksalsgemeinschaft verschworen und huldigen der wundersamen Geldvermehrung an den Finanzmärkten wie einer monetären Befreiungstheologie auf dem Weg ins Scheinparadies der Pumpwirtschaft. Die Mehrzahl der Marktteilnehmer sucht nach neuen und möglichst einfachen Methoden des Geldverdienens, so dass Panikattacken, Krisen und Zusammenbrüche unumgänglich werden. Der besonders von den Finanzderivaten hinterlassene Abgrund scheint unüberbrückbar.

Die Abdankung der Politik ist neben den wirtschaftlichen Folgen eine der schlimmsten Konsequenzen der Finanzkrise. Sie war auch eine Voraussetzung der Entwicklung, die zu den größten schadenstiftenden Ereignissen der neueren Wirtschaftsgeschichte geführt hat. Mit Rattenfängerformeln („Leistung muss sich wieder lohnen“) hat man zum Aufbau einer infamen Täuschungskultur beigetragen. Die Märkte wurden auf einmal zum Ort sozialer Gerechtigkeit. Man brauchte ihnen angeblich nur möglichst viele Entscheidungen zu überlassen. Eine Auseinandersetzung über die Sinnhaftigkeit bestimmter Marktprozesse erschien überflüssig.

Demokratie in rauchenden Trümmern

Die vergangenen Jahre der Finanzkrise haben jedoch den illusorischen, wenn nicht sogar betrügerischen Charakter dieser „Philosophie“ enthüllt. Heute steht fest, dass die Finanzmärkte versagt und die Staaten sich unterworfen haben. Dabei hätte doch jedermann erkennen können, dass sich Märkte weder von selbst regulieren noch darauf programmiert sind, dem Gemeinwohl zu dienen. Angeblich hochprofessionelle Banker mussten einräumen, dass sie Papiere, die sie für Milliardenbeträge gekauft hatten, selbst nicht verstanden haben. Noch schlimmer: Sie mussten davon ausgehen, dass fast alle Mitbewerber sich ebenfalls mit diesen toxischen Abfällen eingedeckt hatten. Deshalb waren diese noch nicht einmal mehr kreditwürdig. Die Folge: Auf einmal sollte es keinen Kredit mehr ohne Staatsgarantie geben. Es war die Geburtsstunde einer paradoxen Welt: Die Staaten mussten die Banken retten, nicht umgekehrt.

In der Politik ist wie in der Wirtschaft ein Zustand eingetreten, der unter anderem deshalb an kriegsähnliche Verhältnisse erinnert, weil er sich durch die Abwesenheit von Vernunft und Logik auszeichnet. Im Verlauf von Kriegen kommt es regelmäßig zur Verselbständigung und schließlich zur Institutionalisierung menschenverachtenden Irrsinns. So wie man in Kriegen dem siegreichen Feldherrn zu folgen bereit ist, glaubt man heute, dass „Expertenregierungen“ den Müll beseitigen können, den die Akteure der Finanzmärkte hinterlassen haben. Demokratisch legitimierte Regierungen sind aber immer weniger imstande, die weitere Ausbreitung der toxischen Abfälle in den Tresoren von Geschäfts- und Zentralbanken zu verhindern. Sie agieren in einer rauchenden Trümmerlandschaft, die von Cliquen der Finanzwirtschaft in der Manier marodierender Söldnerarmeen ohne Rücksicht auf Verluste angerichtet wurde.

Es stellt sich deutlicher denn je die Frage, ob die gegenwärtige Krise groß genug ist, um trotzdem zu einem anderen Kapitalismus zu kommen – oder ob die Regierungen noch eine Katastrophe brauchen, um das Gebotene zu tun. Gleichzeitig sind wir in Deutschland mit einer paradoxen Situation konfrontiert: Die Finanz- und Wirtschaftskrise historischen Ausmaßes hat im Alltagsbewusstsein der hiesigen Bevölkerung kaum nachhaltige Spuren hinterlassen. Hierzulande wird die Krise nach wie vor überwiegend wirtschafts-, fiskal- und arbeitsmarktpolitisch bearbeitet. Sie steht in Deutschland noch nicht im Zentrum größerer sozialer Auseinandersetzungen.

Anders in Italien, Griechenland, Spanien, Portugal, Zypern, Slowenien und vielleicht auch bald in Frankreich. Man hat in diesen Ländern wohl schon verstanden, dass sich auf den Schauplätzen der internationalen Finanzwirtschaft kein effizientes Zusammenspiel vernünftiger Akteure, sondern ein „Spektakel reiner Unvernunft“ vollzieht. Es hat sich sogar der Eindruck festgesetzt, dass die Billionen Euro, die in „Rettungsschirme“ gesteckt werden, Europa nicht einigen, sondern die Völker wieder auseinanderdividieren, sie auf ihre nationalen Traditionen und Ressentiments zurückwerfen. Genau das ist die Konstellation, die in Europa wie auf keinem anderen Kontinent dieser Erde bereits früher immer wieder zu verheerenden kriegerischen Auseinandersetzungen führte.

zurück zur Ausgabe