Das neue Leitbild soll »good society« heißen

Sozialdemokratische Denker suchen eine Alternative zum »Raubtierkapitalismus«. Mit ihrer Häme über den Dritten Weg schießen sie übers Ziel hinaus

Die europäische Sozialdemokratie steckt in einer paradoxen Lage: Einerseits haben die Wucht der Finanzkrise und die sich anschließenden staatlichen Rettungsaktionen für Banken und Arbeitsplätze die gesellschaftliche Akzeptanz sozialdemokratischer Politikkonzepte deutlich erhöht. Thomas Meyer stellt deshalb die Frage, ob wir es gar mit einem neuen „sozialdemokratischen Moment“ zu tun haben – vergleichbar mit der Großen Depression in den dreißiger Jahren, die den Boden für Franklin D. Roosevelts Wirtschafts- und Sozialreformen des New Deal bereitete. Andererseits aber beobachten wir das „befremdliche Überleben des Neoliberalismus“ (Colin Crouch), etwa was die austeritätsfixierten Sanierungsprogramme für in Not geratene Staaten der Eurozone angeht. Auch hat die tiefste Krise des Kapitalismus seit achtzig Jahren den europäischen Sozialdemokraten keineswegs scharenweise Wähler zugetrieben: In gerade einmal 9 von 27 Mitgliedsstaaten der EU sind sozialdemokratische Parteien derzeit an der Regierung beteiligt. Sollten wir also tatsächlich Zeugen eines „sozialdemokratischen Moments“ sein, so haben die Parteien der linken Mitte diesen bisher jedenfalls nicht für sich zu nutzen vermocht.

Dafür gibt es viele, ganz unterschiedliche Gründe. Gerade Sozialdemokraten selbst führen die strukturelle Schwäche häufig darauf zurück, es fehle, seit das Konzept des „Dritten Weges“ an Strahlkraft verloren hat, an einer übergeordneten „Erzählung“ für das eigene politische Programm. Die Autoren des Sammelbandes Die Gute Gesellschaft, in dem sich auch Thomas Meyers Text befindet, unternehmen nun den ambitionierten Versuch, sich einem solchen „Narrativ“ zu nähern. Das Buch erschien im Mai anlässlich des 150. Jubiläums der SPD im Suhrkamp-Verlag. Es geht zurück auf eine von der Friedrich-Ebert-Stiftung geförderte Veranstaltungsreihe mit vorwiegend britischen und deutschen Sozialdemokraten unter der Schirmherrschaft von SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles und dem britischen Labour-Abgeordneten John Cruddas.

Der Staat soll es jetzt wieder richten

Das erklärte Ziel des Projektes lautet, ein positives Leitbild für sozialdemokratisches Handeln zu entwickeln. Den Autoren geht es darum, „das Gute zu definieren, um das Bessere möglich zu machen“, schreiben die Herausgeber Christian Kellermann und Henning Meyer in ihrer Einleitung. Wie im englischsprachigen Vorgängerbuch The Future of European Social Democracy: Building the Good Society (Palgrave 2011) noch expliziter herausgearbeitet wird, verstehen die Initiatoren das Konzept der „Guten Gesellschaft“ weniger als systematische Weiterentwicklung, sondern eher als Kehrtwende heraus aus den „Denkschablonen und dem pseudo-pragmatischen Reformdiskurs der Third-Way-Ära“ (Ernst Hillebrand).

In den neunziger Jahren wollten die Reformer des Dritten Weges bekanntlich die traditionelle Dichotomie zwischen Staat und Markt aufheben, die im sozialdemokratischen Denken ihren festen Platz hatte. Märkte brauchen Regeln, so ihre Annahme, aber nur durch wirtschaftliche Dynamik und Innovation seien genügend Mittel zu generieren, um den Sozialstaat, das Gesundheitssystem und gute Bildung zu finanzieren. Ein gutes Jahrzehnt und eine Finanzkrise später pflegen die Autoren der „Guten Gesellschaft“ ein sehr viel antagonistischeres Verhältnis zur Welt der Wirtschaft. Im ersten Beitrag des Bandes beschreibt Andrea Nahles die Gute Gesellschaft als Gegenmodell zum „Raubtierkapitalismus“: Sicherheit, Frieden und Zufriedenheit ließen sich dauerhaft nur garantieren, wenn die „Interessen des Allgemeinwohls“ Vorrang erhielten vor den „Interessen des Marktes“. Eine Kernaufgabe der demokratischen Linken sei es daher, die Machtfrage gegenüber großen Konzernen und wirtschaftlichen Marktkräften zu stellen, „um politische Gestaltungsräume und die Legitimität öffentlicher Güter zurückzugewinnen“.

Diesem Duktus folgen viele der Beiträge. Im Zentrum steht die Kritik an der Marktgläubigkeit der vergangenen Jahre, die verantwortlich sei für die gewachsene Ungleichheit der Einkommen und Vermögen. So setzt sich Hans-Jürgen Misselwitz in seinem lesenswerten Essay „Kapitalismuskritik als Kampf um Werte und Menschenbilder“ mit dem marktliberalen Leistungsbegriff auseinander: Mit Slogans wie „Leistung muss sich wieder lohnen“ impliziere die FDP, dass der freie Markt zur Durchsetzung des Leistungsprinzips beiträgt. Das Gegenteil ist richtig, wie Misselwitz zeigt. Denn allzu oft beruht Markterfolg nicht auf eigener Anstrengung, sondern auf dem Verhältnis von Angebot und Nachfrage, welches wiederum maßgeblich von Zufällen abhängt. Frank Nullmeier hat die Blindheit für das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit deshalb einst als die „Achillesferse des Neoliberalismus“ bezeichnet. Dagegen ist Leistungsgerechtigkeit ein elementarer Teil des sozialdemokratischen Werte-verständnisses. „Das Leistungsprinzip rechtfertigt Unterschiede von Vermögen und Einkommen – wenn sie durch Arbeit bedingt sind“, schreibt Misselwitz. Die Sozialdemokratie habe das alte Versprechen der sozialen Marktwirtschaft „Leistung gegen Teilhabe“ wieder einzulösen: Wachse die Wirtschaft, dann müsse ein angemessener Teil der Wertschöpfung an die Beschäftigten weitergereicht werden.

Mehr Geld für den öffentlichen Dienst?

Aus Sicht von Ernst Hillebrand haben die sozialdemokratischen Regierungen Europas in den vergangenen Jahren genau diese Frage der Wohlstandsverteilung zwischen Kapital und Arbeit komplett aus den Augen verloren. Die Priorität habe einseitig auf Wirtschaftswachstum und der Schaffung von Arbeitsplätzen gelegen, und der linke Gerechtigkeitsdiskurs sei auf den „Umfang redistributiver Sozialpolitik“ beschränkt gewesen. In Wirklichkeit liege die wachsende Ungleichheit in fast allen OECD-Ländern vor allem an der Dynamik der Primärverteilung: Der Anteil der Löhne am Volkseinkommen – die Nettolohnquote – sei ab Anfang der neunziger Jahre gesunken und zugleich der Anteil der Unternehmensgewinne rasant gestiegen.

Aber kann die Politik hier überhaupt Abhilfe schaffen? Sie müsse es nur wollen, argumentiert Hillebrand. Dringend vonnöten seien Reformen des Steuer- und Abgabensystems, die Einführung von Mindestlöhnen und eine offensive Lohnpolitik im öffentlichen Dienst. Zwar ist Hillebrands empirische Analyse stellenweise etwas grobkörnig – seit dem Jahr 2007 steigt die Lohnquote in Deutschland wieder an, und der Grund dafür ist nicht zuletzt die infolge der Agenda-Reformen gestiegene Beschäftigungsquote. Dennoch trifft Hillebrands im Übrigen messerscharfe Kritik einen wunden Punkt sozialdemokratischer Reformpolitik.

Lebensglück statt Wachstum

Überhaupt gehört es zu den Stärken des Bandes, sozioökonomische und wirtschaftspolitische Fragen wieder stärker in den Mittelpunkt zu rücken. Besonders hervorzuheben ist dabei der Beitrag von Sebastian Dullien und Christian Kellermann, die einen – mit vielen konkreten Politikvorschlägen garnierten – normativen Maßstab für eine „gute Wirtschaft“ durchbuchstabieren. Den Autoren zufolge muss die Wirtschaftspolitik des 21. Jahrhunderts nicht nur auf Wachstum zielen. Zugleich sollte sie auch Verteilungsaspekte und verschiedene Dimensionen von Nachhaltigkeit in den Blick nehmen. Dazu passt der Beitrag von Christian Kroll über die Bedeutung der Glücksforschung für linke Politik. Wie er empirisch zeigt, ist das anhand des Bruttoinlandsproduktes gemessene Wirtschaftswachstum für das individuelle Wohlergehen der Menschen weniger wichtig als das Glück, „aktiv zu sein und einer erfüllenden Tätigkeit nachzugehen“. Für Kroll muss das sozialdemokratische Kernanliegen deshalb darin bestehen, mehr Lebenschancen für mehr Menschen zu schaffen und die – umfassend verstandene – Lebensqualität zu steigern. Auch materieller Wohlstand sei in diesem Zusammenhang von Bedeutung, aber dies gelte vor allem für die weniger vermögenden Bevölkerungsgruppen.

Es liegt in der Natur der Sache, dass der vorliegende Sammelband nicht alle denkbaren Aspekte einer Guten Gesellschaft abdecken kann. Dennoch besteht die Schwäche des Buches darin, dass die Autoren ihren Beschreibungen des Leitbildes „Gute Gesellschaft“ keine systematische Bestandsaufnahme der existierenden Gesellschaft gegenüberstellen. Dabei erweist sich erst im Spannungsfeld zwischen normativ-programmatischen Vorstellungen und den Bedürfnissen, Einstellungen und Sorgen der Bürger, wie wirklichkeitstauglich und handlungsleitend ihr Konzept tatsächlich sein kann. Nur wenn die Parteien der linken Mitte ein genaues Gespür für reale gesellschaftliche Entwicklungstrends und Stimmungslagen entwickeln, wird sich der beschworene „sozialdemokratische Moment“ in Gestaltungsmehrheiten überführen lassen.

Wie sieht der »Gute Sozialstaat« aus?

Europas Gesellschaften werden immer vielfältiger und individualistischer, gleichzeitig älter und damit konservativer. Längst sind neue Konfliktlinien entstanden. In der vergangenen Ausgabe der Berliner Republik (2/2013) haben Onawa Lacewell und Wolfgang Merkel herausgearbeitet, dass eine zentrale gesellschaftliche Trennlinie mittlerweile zwischen einem liberalen Kosmopolitismus und einem solidaristischen Kommunitarismus verläuft. Aber auch die Beziehungen zwischen Jung und Alt, Arm und Reich, Einwanderern und Einheimischen werden spannungsgeladener.

Diese Spaltungstendenzen sind in vieler Hinsicht problematisch. Vor allem tragen sie dazu bei, die gesellschaftliche Solidarität und die Legitimität des Sozialstaats zu unterhöhlen; viele Jüngere nehmen diesen nur noch als „Sicherheitsnetz für ältere Menschen“ wahr. Komplizierterweise geschieht dies ausgerechnet zu einer Zeit, in der die Wohlfahrtsstaaten auf neue Herausforderungen wie die gleichberechtigte Erwerbstätigkeit der Frau oder den demografischen Wandel reagieren müssen. Solche aus dem gesellschaftlichen Wandel resultierenden Widersprüche und Zielkonflikte werden Sozialdemokraten nie wirklich auflösen können. Aber wer die Gute Gesellschaft schaffen will, der muss die Vielfalt der realen Veränderungen systematisch zur Kenntnis nehmen und in sein Narrativ integrieren. Das leistet dieses Buch zu wenig. Besonders verwunderlich ist, dass sich kein Beitrag der Frage widmet, wie denn eigentlich ein reformierter Wohlfahrtsstaat der Guten Gesellschaft aussehen könnte. Und derweil die Autoren unisono den „starken Staat“ fordern, wird die ambivalente Haltung der Bürger gegenüber den staatlichen Institutionen, die ja nicht selten selbst neue Ungleichheiten produzieren, nur in Nebensätzen abgehandelt. In Wahrheit hat die neue Skepsis gegenüber deregulierten Märkten mitnichten zu neuem Staatsvertrauen geführt.

Der Dritte Weg war das legitime Vorhaben, auf die wandelnden gesellschaftlichen Realitäten zeitgemäße Antworten zu finden und damit in neue Wählerschichten der Mitte vorzudringen, wobei die Erneuerung der öffentlichen Institutionen im Zentrum stand. Wer Anthony Giddens’ um die Jahrtausendwende erschienenen Schriften heute unvoreingenommen liest, wird feststellen, dass der Vordenker des Dritten Weges für ein ausgewogeneres Verhältnis zwischen erneuertem Staat, regulierten Märkten und vitaler Zivilgesellschaft warb, als ihm nachträglich häufig unterstellt wird. Die Freunde des Dritten Weges sollten sich von den Verfechtern der Guten Gesellschaft inspirieren lassen. Umgekehrt gilt das genauso.

Christian Kellermann und Henning Meyer (Hrsg.), Die Gute Gesellschaft: Soziale und demokratische Politik im 21. Jahrhundert, Berlin: Suhrkamp Verlag 2013, 318 Seiten, 15 Euro

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