Das Modell Volkspartei in der Krise

Sind Parteien, die sozialstrukturell und kulturell nicht mehr die Wirklichkeit unserer Zeit abbilden, noch als Volksparteien zu bezeichnen? Und wenn nein, wie sieht dann die Partei der Zukunft aus?

Die Fünfparteienlandschaft ist da. Sie wird neue Regeln, neue Konstellationen und neue Bedingungen für das politische System in Deutschland etablieren. Wir sind in einem Parteiensystem angekommen mit zwei mittelgroßen (einer 30-Prozent- und einer 20-Prozent-Partei) sowie drei kleingroßen Parteien, in dem die  Summe der Stimmanteile für die „kleineren“ größer ist als die jeder der vermeintlich „großen“ Parteien. Damit steht auch das Konzept der Volkspartei auf dem Prüfstand.


Das gilt nicht nur aufgrund von rückläufigen Wahlergebnissen. Vielmehr stellt sich die Frage, ob Parteien, die sozialstrukturell und kulturell nicht mehr die Wirklichkeit zu Beginn des 21. Jahrhunderts in Deutschland abbilden, noch als Volksparteien zu bezeichnen sind. Denn die Entkopplung von Parteien und Gesellschaft ist mit einem tiefgreifenden weiteren Problem verbunden: Die Kompetenzen, die heute in der Gesellschaft vorhanden sind, in unterschiedlichen Subsystemen und Milieus, werden wegen dieser Verengung in den Parteien nicht mehr abgebildet.

Parteien allerdings, die das Erfahrungswissen, die Kompetenzen einer Gesellschaft nicht entweder in ihrer Mitgliedschaft abbilden oder sie in Netzwerken organisieren, müssen sich die Frage gefallen lassen, inwieweit sie sich programmatisch, intellektuell und kulturell noch auf der Höhe der Zeit befinden. Beide „großen“ Parteien sind in den sich ausdifferenzierenden Klein- und Großmilieus nicht mehr hinreichend vertreten. Damit gehen Seismografen und Trends in der Gesellschaft für die eigene Politikentwicklung und das eigene Politikangebot verloren. Insoweit hat die mangelnde Verankerung einer Partei in unterschiedlichen gesellschaftlichen Milieus eine fatale Konsequenz hinsichtlich ihrer jeweiligen Integrations- und Orientierungsfähigkeit.


Beide großen Volksparteien stehen in einer doppelten Modernisierungskrise, wie Majid Sattar nach der Bundestagswahl im vergangenen Herbst in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung festgestellt hat. Die Union hat sich 2001 gesellschaftspolitisch liberalisiert und 2005 wirtschaftspolitisch sozialdemokratisiert mit der Konsequenz, dass sich das neoliberale Wirtschaftsbürgertum und die katholische Stammwählerschaft heimatlos fühlen. Die SPD hat sich ökonomisch liberalisiert, den Sozialstaat ökonomisiert und die Verteilungsfragen programmatisch neutralisiert. Dies hat zur politischen Heimatlosigkeit vieler Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und der Gewerkschaften geführt oder sie in eine „neue Heimat“ getrieben. Gegen diese doppelte Modernisierungskrise wirkt nur Politik – das heißt: Parteien müssen wieder Richtungsfragen stellen und im Zentrum von Richtungsdiskussionen stehen.


Die Bündelung von Interessen zu politischen Programmen, über die die Bürger abstimmen können, die Rekrutierung von Führungspersonal für öffentliche Ämter, die Bereitstellung einer permanenten Alternative zur jeweiligen Regierung – diese Funktionen kann nur erfüllen, wer sich als Mitgliederpartei versteht. Die Anforderungen an eine Reform der Parteiorganisation sind klar zu benennen, sie ergeben sich aus dem Strukturwandel der letzten Jahrzehnte. Dieser fordert von einer Partei ein Bündel an Kompetenzen:

-- Die Individualisierung von Lebensläufen, die Vielfalt neuer Lebensstile und die damit verbundene Lösung alter Parteibindungen stellen ganz neue Anforderungen an die Dialogkompetenz. Parteien können Unterstützung nur durch Diskursorientierung erreichen. Nur so ist die Bindewirkung von Politik zu verbessern.


-- Politik wird von den Bürgern fast ausschließlich über den Filter der Medien wahrgenommen. Parteien müssen also ihre Kommunikationskompetenz weiterentwickeln, mithin ihre Fähigkeit, Personen und Symbole für die Verbreitung von Ideen und Werten zu nutzen.


-- In der Gesellschaft orientieren sich immer mehr Wähler an der Plausibilität von Konzepten und an den Ergebnissen politischen Handelns. Gleichzeitig hat sich das Tempo, mit dem neue Problemlagen entstehen, erheblich beschleunigt. Das ist eine Herausforderung an die Programm- und Handlungskompetenz von Parteien, das heißt an ihre Fähigkeit, in zentralen Politikfeldern neue Optionen und Chancen aufzunehmen, Korridore für deren Realisierung aufzuzeigen und sie konsequent in die Tat umzusetzen.


-- In der Wissensgesellschaft können Organisationen nicht mehr alle notwendigen Kompetenzen zur Lösung wechselnder Probleme vorrätig halten. Das gilt für Unternehmen ebenso wie für Parteien. Als lernende Organisationen müssen sie Netzwerke als eine Form strategischer Kooperation bilden, um rasch auf wechselnde Anforderungen reagieren zu können. Die Fähigkeit, Kompetenznetzwerke zu knüpfen und damit gesellschaftliche Veränderungen in organisatorischen und institutionellen Strukturen abzubilden, ist das zentrale Erfordernis der Organisationskompetenz einer modernen Partei.

Wenn Parteien den Anspruch haben, gesellschaftliche Formationen abzubilden, um so Interessen artikulieren und bündeln zu können, müssen sie neben der klassischen Organisation auch Netzwerke für die Gesellschaft entwickeln, real und virtuell. Das ist eine Partei mit in unterschiedlichem Maße und zu unterschiedlichen Zeiten aktiven Mitgliedern, aktiven Unterstützern und interessierten Dialogpartnern. Sie sind das wichtigste Kapital der Partei, weil ohne sie kein direkter Dialog mit Bürgerinnen und Bürgern möglich ist. Das Ziel dieser vernetzten Zentren politischer Aktivität ist es, demokratische Bürgerkoalitionen zusammenzufügen, die sozial und kulturell weit heterogener sind, als es die Wählerschaft in der Glanzzeit der Volksparteien je war.

Heute geht es um „Wandel durch Sicherheit“


Aber vor allem muss noch einiges andere geschehen: Parteien müssen wieder Richtungen definieren, müssen Lehrer gesellschaftlicher Veränderungen werden. Die Reformbilanz der vergangenen Jahre ist widersprüchlich in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen. Die versprochene Synthese aus Modernisierungsanstrengungen und Gerechtigkeitsversprechen ist in der Gesellschaft nicht angekommen, der angestrebte Kompromiss zwischen dynamischem Finanzkapitalismus, strauchelndem Sozialstaat und schwächelnder Demokratie kam nicht zustande, weil die Marktgläubigen ihn gar nicht wollten.

Heute geht es um „Wandel durch Sicherheit“. Die Bereitschaft der Menschen, Veränderungen zu unterstützen und ihnen eine Richtung zu geben, hängt davon ab, dass ihnen nicht falsche Sicherheit vorgegaukelt wird, während die Verantwortung beim Einzelnen abgeladen wird. Nicht der ermöglichende Sozialstaat, auch nicht der fürsorgende Sozialstaat, sondern der vorsorgende und gewährleistende Sozialstaat ist die Aufgabe. Progressive governance braucht progressive government. «

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