Das Konzept ist da, noch fehlt die Traute

Unter Sozialdemokraten ist eine Debatte über das sozialpolitische Profil der SPD entbrannt - geführt vor allem in der »Berliner Republik«. Wo manche mangelnde Orientierung konstatieren, wollen andere zurück in die Vergangenheit. Ganz verkehrt, meint Wolfgang Schroeder. In Wirklichkeit besitze die SPD mit dem vorsorgenden Sozialstaat ein absolut zukunftsweisendes Programm. Jetzt sollte sich die Partei darauf konzentrieren, es mit Leben zu füllen.

„Für welche soziale Idee steht die SPD?“, fragt Michael Miebach in der Berliner Republik 5/2011 und konstatiert: „Ausgerechnet bei ihrem Leib- und Magenthema Sozialpolitik steht die deutsche Sozialdemokratie derzeit ohne programmatische Orientierung da.“ Keine Orientierung weit und breit? Ganz so schlimm scheint es nicht zu sein. Denn Miebach macht selbst auf das Leitbild des vorsorgenden Sozialstaates aufmerksam, das sich die SPD spätestens mit dem Hamburger Programm auf die Fahnen geschrieben hat. Um das Versprechen von Sicherheit und Aufstieg unter den gewandelten Bedingungen im 21. Jahrhundert zu erneuern, so lässt sich dort nachlesen, „entwickeln wir den Sozialstaat weiter zum Vorsorgenden Sozialstaat“. Es folgen elementare Prinzipien einer vorsorgenden Sozialpolitik: Vorsorge und vorausschauendes Denken, Orientierung an Befähigung, Teilhabe, Emanzipation und Sicherheit, ressortübergreifende Vernetzung, früh ansetzende und individuelle Förderung et cetera.

Unter dem vorsorgenden Sozialstaat versteht man also eine Sozialpolitik, die früh, intensiv und infrastrukturorientiert in die Menschen investiert. Es handelt sich um eine Sozialpolitik, die mit den individuellen und gesellschaftlichen Zukunftsperspektiven sensibel und vorausschauend umgeht. Eine solche Politik, so meine ich, muss auf personale Dienstleistungen, Netzwerke, kompetente Akteure und soziale Dienste setzen. Vor allem darf sie sich nicht damit zufriedengeben, dass der Sozialstaat fragmentiert ist. Vielmehr ist es für dieses Konzept konstitutiv, dass durch Kooperationen und Netzwerke die Abschottung der Ebenen, Institutionen und Akteure abgebaut wird.

Doch zunächst einige Worte zu einem Missverständnis, mit dem sich dieses Leitbild von Anfang an konfrontiert sah, nämlich dem programmierten Zielkonflikt zulasten der Nachsorge. Konkret wird befürchtet, dass es künftig statt Rentenerhöhungen nur noch Investitionen in Kinderkrippen, Ganztagsschulen und lebenslanges Lernen gibt. Auch Ernst Hillebrand plädiert in der Ausgabe 4/2011 der Berliner Republik dafür, den Sozialversicherungsgedanken stärker zu betonen und dafür zu sorgen, „dass ‚Leistungsanerkennung’ wieder zu einem bestimmenden Funktionsmerkmal der sozialen Sicherungssysteme wird und dass Sozialstaatsleistungen wieder stärker gekop-pelt werden an die erbrachten Vorleistungen der einzelnen Bürger“. Sonst drohe „eine Rebellion der Steuer- und Beitragszahler“.

Für sich genommen ist diese Position nicht zu beanstanden. Sie steht aber keinesfalls im Widerspruch zur Strategie der Vorsorge. Denn um „Leistungen“ zu erbringen, bedarf es bestimmter Voraussetzungen. Dass diese fehlen, entwickelt sich zum zentralen Problem für die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft. Solche Defizite sollen mittels der Vorsorge abgebaut werden. Zudem muss darauf hingewiesen werden, dass moderne Doppelverdiener-Familien der Mittelschicht von steuerfinanzierten Investitionen in soziale und haushaltsnahe Dienstleistungen profitieren werden.

Partei der ausgedachten Widersprüche

Der vorsorgende Sozialstaat ist ohne den Rahmen des monetär kompensierenden und nachsorgenden Sozialversicherungsstaates nicht denkbar. Denn ohne die finanzielle und dienstleistungsbezogene Absicherung im Falle von Unfall, Krankheit, Arbeitslosigkeit und im Alter ist ein moderner Sozialstaat nicht funktionsfähig. Selbst wenn die vorsorgende Politik noch so erfolgreich sein sollte –nachsorgende Politik wird es immer geben müssen. Sie wird auch weiterhin die wichtigste Instanz bleiben, weil sie Schutz und Hilfe in der Stunde der Not ermöglicht, basierend auf dem Gedanken der Solidarität. Dies ist die erste und wichtigste Aufgabe, an der sozialstaatliche Leistungsfähigkeit zu messen ist.

Und dennoch: Es ist unerlässlich, stärker in frühzeitige Vorsorge, in Erziehung, Bildung und Gesundheit, vor allem aber in eine qualitativ verbesserte Infrastruktur zu investieren. Diese präventiven Ausgaben schlagen sich weder sofort in deutlich sichtbaren Erfolgen nieder, noch reduzieren sie kurzfristig Ausgaben im nachsorgenden Bereich. Kein Zweifel: Die Strategie der Umsteuerung ist ein längerfristiges Projekt.

Der vorsorgende Sozialstaat stellt also zunächst keine billige Lösung dar. Aber Michael Miebach hat unbedingt recht, wenn er schreibt: „Die Kapitalrendite ist hoch, besonders in Zeiten schrumpfender Kinderzahlen.“ Das Forschungsunternehmen Prognos hat 2010 für Nordrhein-Westfalen untersucht, welche Kosten mit frühen und wirksamen Interventionen im Kindes- und Jugendbereich vermieden werden könnten. Die Forscher bilanzieren die „sozialen Folgekosten“ – und sensibilisieren damit für die Handlungsfelder und Potenziale vorsorgender Maßnahmen.

Gesellschaftliche Folgekosten aufgrund von geringen Bildungs- und Ausbildungsniveaus oder eines schlechten Umgangs mit der eigenen Gesundheit entstehen nicht erst (aber auch), wenn Menschen im Erwachsenenalter straffällig, arbeitslos, arm oder krank werden und der Grundsicherung für Arbeitsuchende oder dem Maßregelvollzug anheimfallen. Das Gutachten kommt zu dem Schluss, dass – angesichts der beträchtlichen langfristigen Kosten, die beispielsweise mit Jugendkriminalität und „Schulabbrecherkarrieren“ einhergehen – frühe Familienhilfen und kindliche Frühförderung unabdingbar sind, um das Risiko späterer Hilfebedürftigkeit zu verringern. Die Wissenschaftler beziffern das Einsparpotenzial auf 7,9 Milliarden Euro pro Jahr allein für Nordrhein-Westfalen. In Anbetracht dieser Summe wird deutlich: Die Investitionen werden sich mittel- und längerfristig auszahlen.

Vorsorgende Sozialpolitik will die Menschen für ein selbstbestimmtes Leben befähigen, unabhängig von ihrer Herkunft ist sozialer Aufstieg Programm. Die treibende politische Kraft für eine vorsorgende Sozialpolitik ist die Sozialdemokratie. Schon im Berliner Programm der SPD von 1989 hatte diese Idee ihren Platz. Alle prominenten Projekte, die sich der Netzwerkstrategie verschrieben haben, sind unter sozialdemokratischer Regie entwickelt worden. Durch und durch sozialdemokratisch sind erst recht die wesentlichen Elemente der hier vorgetragenen Strategie: Sicherheit, Teilhabe, Emanzipation – „unabhängig von sozialer Herkunft, Geschlecht, Lebensalter oder einer Behinderung“ (Hamburger Programm).

Die Vision der Konservativen war es in der Vergangenheit, den Sozialstaat zu nutzen, um die Gesellschaft stillzustellen. Dagegen ist der Sozialstaat für die Sozialdemokratie ein gesellschaftliches Projekt, das sowohl notlagen-, emanzipations- und gerechtigkeitsorientiert ist. Ein besonderer Akzent, der nicht zuletzt der Tradition der Arbeiterbewegung geschuldet ist, zielt auf die gesellschaftlichen Integrations- und Aufstiegschancen qua Bildung, Arbeit und Leistung, um die Abhängigkeit von der Herkunft aufzubrechen.

Im Vergleich zur klassischen Sozialpolitik ist die vorsorgende Sozialpolitik deshalb bestrebt, die Bildungspolitik viel offensiver als Teil der Sozialpolitik zu begreifen, um Aufstiegsperspektiven zu ermöglichen. Übrigens zeigt sich an der Öffnung der CDU für die von der SPD forcierte Veränderung in der Familien-, Geschlechter- und Infrastrukturpolitik, wie überzeugend und wegweisend die Konzeption des vorsorgenden Sozialstaates ist.

Jörg Deml hat in der Berliner Republik 1/2012 unter der Überschrift „Investiv sein wollen heute alle“ Bedenken geäußert, ob das sozialdemokratische Sozialstaatskonzept geeignet ist, um im Wettbewerb mit den übrigen Parteien Vorteile zu erzielen: „Dass das Konzept des ‚investiven Sozialstaates’ ausreichen könne, um den sozialpolitischen Markenkern der SPD darzustellen, leuchtet nicht ein.“ Die Themen Vereinbarkeit von Beruf und Familie, Integration von Migranten oder Ausbau des Bildungswesens seien heute so allgemein zustimmungsfähig, dass schon jetzt nicht zu erkennen sei, „wo hier der qualitative Unterschied zu den Grünen liegt, und mittelfristig dürften auch aufgeklärte Liberal und Konservative diesen Ansatz adaptieren“.

Dazu ist zunächst einmal zu sagen, dass die potenzielle Konsens- und Anschlussfähigkeit des Konzeptes positiv ist. Dennoch muss die SPD natürlich überzeugend darlegen, warum der vorsorgende Sozialstaat ein originär sozialdemokratisches Projekt ist und von der SPD am glaubwürdigsten vertreten und verwirklicht wird.

In der Wirklichkeit längst angekommen

Das Projekt Vorsorge ist keine Harmoniesoße, sondern Politik, die mit vielen Konflikten verbunden ist. Denn es geht um Präferenzen, die durchgesetzt werden müssen. Und es geht darum, die Infrastruktur der Vorsorge mit unseren Sozialversicherungen abzugleichen. An erster Stelle steht dabei der unverbrüchliche Zusammenhang von vorsorgender und nachsorgender Sozialpolitik, der von niemandem besser ausbalanciert werden kann als von der Sozialdemokratie. Beide Ansätze sind historisch und systematisch bei ihr beheimatet. Zweitens ist die Sozialdemokratie die einzige Kraft, die auf einer arbeitsgesellschaftlichen Grundlage für eine vorsorgeorientierte Weiterentwicklung des Sozialstaates wirbt. Drittens mangelt es der SPD vermutlich weniger an normativer Orientierung, sondern mehr noch an der Kreativität, ihr eigenes Leitbild mit Leben zu füllen, die Zielsetzungen mit konkreten Maßnahmen zu untersetzen. Und das, obwohl es gute Praxisbeispiele gibt: Die Länder Brandenburg und Nordrhein-Westfalen haben die vorsorgende Politik zu ihrer Leitidee erkoren. Außerdem machen viele Projekte als Best-Practice-Beispiele in ganz Deutschland Schule, etwa Mo.Ki in Monheim, Präventionsketten nach dem Dormagener Modell oder das Netzwerk Gesunde Kinder in Brandenburg.

Die Entwicklung hin zu einem inklusiven und vorsorgenden Sozialstaat ist also schon längst mehr als eine Debatte. Dennoch steht vieles von dem, was zum vorsorgenden Sozialstaat gehört, noch isoliert in der Landschaft. Gerade die Vielzahl der Initiativen ohne inhaltlich-strategische Bezugnahme zur Gesamtkonzeption trägt nicht dazu bei, dass Vorsorge als kompakte Strategie wahrgenommen wird. Das ist es, was sich ändern muss.

Für die Weiterentwicklung hin zu einem wirksamen, vorsorgenden Sozialstaat sind zwei zentrale Strategien herauszustellen. Dabei geht die SPD von einem evolutionären Ansatz aus, der bei den bestehenden Strukturen ansetzt und die existierenden Institutionen durch neue gesellschaftliche Öffnungen stärken will. Erstens geht es um Netzwerke: Um besser an die Lebenslagen der Menschen anknüpfen zu können, brauchen die sozialstaatlichen Institutionen niedrigschwellige Zugänge. Solche niedrigschwelligen Zugänge bieten soziale Netzwerke, die als ergänzende und unterstützende Elemente der etablierten Institutionen vorsorgender Sozialstaatlichkeit zu denken sind. Zweitens muss sich eine Politik der sozialpolitischen Wirksamkeit viel intensiver mit den Akteuren des Sozialstaates befassen: Es geht um die in den sozialen Berufen Tätigen, die direkt mit den Menschen arbeiten, beispielsweise Erzieher, Altenpfleger oder Lehrer. Wir müssen uns viel stärker damit beschäftigen, wie diejenigen, die die „Kohlen aus dem Feuer holen“ sollen, ausgestattet und unterstützt werden müssen.

Empowerment statt Stilllegung

Netzwerke können – so haben die oben genannten Praxisbeispiele bereits gezeigt –niedrigschwellige Angebote entwickeln, um den Menschen den Zugang zu sozialstaatlichen Institutionen zu ermöglichen. Vor allem aber sollen sie die Menschen dazu befähigen, ihre Kräfte zu stärken und ihre Herausforderungen und Ziele im Sinne eines guten Lebens selbst in die Hand zu nehmen. Ob dies gelingt, hängt maßgeblich davon ab, ob eine verlässliche Kooperation zwischen Betroffenen und haupt- sowie ehrenamtlichen Experten etabliert werden kann.

Die Politik der Netzwerke, die durch staatliche Politik verstärkt werden sollte, erschöpft sich aber nicht darin, Betroffene und Unterstützer in ein kooperatives Verhältnis zu bringen. Netzwerke können auch die Kooperation zwischen Institutionen, Organisationen und Selbsthilfegruppen vorantreiben. Sozialpolitische Netzwerke sollen lebenslaufbegleitende Hilfen für jedes Lebensalter bieten. Also von den frühen Hilfen, über die Schulzeit und das Erwerbsalter bis hin zum Seniorenalter. Die meisten Projekte und Netzwerke bestehen für die ersten drei bis vier Lebensjahre.

Nachholbedarf gibt es hinsichtlich einer präventiven Infrastruktur für Kinder und Jugendliche. In dieser Lebensphase sind insbesondere folgende Konstellationen zu berücksichtigen: der Übergang vom Kindergarten in die Schule, die ersten Grundschuljahre, der Übergang von der Grundschule in eine weiterführende Schule, dann die Pubertätsphase und schließlich der Übergang von der Schule in den Beruf, also der schwierige Prozess der Berufswahl. Interventionen im Schulalter sollten auf eine verbesserte Sensibilität für sich andeutende „Schulverliererkarrieren“ konzentriert werden. In der anschließenden Ausbildungszeit geht es darum, schwächere Schüler zu motivieren und ihnen Chancen für neue Lernerfolge zu ermöglichen.

Für diese anspruchsvolle Netzwerkarbeit brauchen wir engagiertes und qualifiziertes Personal! Die hauptamtlichen Erzieherinnen, Altenpflegerinnen, Sozialpädagoginnen oder Lehrerinnen, aber auch die vielen ehrenamtlichen Kräfte sind die Hoffnungsträger dafür, dass vorsorgende Sozialpolitik gelingt. Sie alle sind nicht einfach da, sondern ihre Rolle und Bedeutung muss politisch flankiert werden. Dazu gehören die Wertschätzung und die Anerkennung ihrer Leistungen. Sie müssen dazu befähigt werden, die verlässlichen und reformfreudigen Träger des vorsorgenden Sozialstaates zu sein.

Angesichts der zuweilen schweren Arbeitsbedingungen und der – gemessen an ihrer bedeutsamen gesellschaftlichen Aufgabe – wenig attraktiven Bezahlung in einzelnen Berufen sind besondere Anstrengungen notwendig. Dabei geht es sowohl darum, für bestimmte Gruppen wie die Erzieherinnen und Altenpflegerinnen eine bessere Bezahlung durchzusetzen, als auch um professionellere und bessere Arbeitsbedingungen. Sonst wird angesichts des bereits jetzt greifbaren Fachkräftemangels die Gesellschaft das Nachsehen haben. Der Dienst am Menschen ist kein Feld für Billiglohnpolitik und Schwarzarbeit. Wir brauchen ein öffentliches Programm zur Förderung der sozialen Berufe. In diesem Bündnis müssen öffentliche Hand, Arbeitgeber, Tarifpartner, die Wohlfahrtsverbände, Kirchen und kirchliche Träger an einen Tisch.

Doch bevor wir so weit kommen, muss der nächste Schritt sein, die positiven Erfahrungen mit vorsorgender Politik öffentlich viel stärker zu thematisieren. Hinaus ins weite Feld der öffentlichen Kommunikation bis hinein in die Wahlkämpfe! Denn vorsorgende Sozialpolitik enthält Ideen und Instrumente, die sozialen Aufstieg und Inklusion in modernen Gesellschaften voranbringen können, ohne paternalistische Haltungen zu pflegen oder zu fördern.

Das Zeitalter der Ohnmacht gegenüber sozialer Exklusion könnte ein Ende haben. Es geht darum, die soziale Schere zu schließen und die Qualität des Lebens zu verbessern. Kurzum: Empowerment statt Stilllegung. Damit bietet der vorsorgende Sozialstaat eine maßgebliche Antwort auf die Frage: Was ist sozialer Fortschritt heute? Die SPD täte gut daran, sich das Konzept des vorsorgenden Sozialstaats noch stärker zu eigen zu machen, ihre Energie darauf zu verlegen, es mit Leben zu füllen, anstatt in regelmäßigen Abständen ihre vermeintliche Orientierungslosigkeit zu beklagen. Das Programm ist zur Hand, arbeiten wir also damit!

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