Das Gespenst der Unregierbarkeit

Von Kopenhagen bis Madrid, von Den Haag bis Lissabon - fast überall in Westeuropa steht heute die Handlungsfähigkeit der Politik auf dem Spiel

Es geht ein Gespenst um in Europa – das Gespenst der Unregierbarkeit. In den vergangenen Jahren haben die meisten europäischen Wahlen kaum eindeutige Ergebnisse hervorgebracht, wie eine kleine Rundreise durch einige europäische Hauptstädte zeigt.

Kopenhagen: Schon seit 2001 regiert in Dänemark keine Regierung mehr mit absoluter Mehrheit. Das konservativ-liberale Minderheitskabinett, erst unter Anders Fogh Rasmussen, jetzt unter Lars Løkke Rasmussen, stützt sich im Parlament auf die ausländerfeindliche Dänische Volkspartei.

Stockholm: Die Reichstagswahl im September 2010 brachte der konservativen Vier-Parteien-Koalition zwar den Sieg über die rot-grün-rote Opposition. Dennoch verlor Ministerpräsident Fredrik Reinfeldt seine absolute Mehrheit im Parlament, weil die rechtsextremen Schwedendemokraten erstmals in den Stockholmer Reichstag einzogen. Vorerst regiert Reinfeldt mit einem Minderheitskabinett weiter – für Schweden keine ganz ungewöhnliche Situation. Allerdings waren es bisher immer die Sozialdemokraten, die einer Minderheitsregierung vorstanden und mit wechselnden Partnern Mehrheiten im Parlament suchten.

Den Haag: Seit dem Jahr 2002 hat in den Niederlanden keine Regierung mehr das reguläre Ende der Wahlperiode erreicht. Gleichzeitig hat die Zersplitterung des Parlaments zugenommen: Bei der Wahl im Sommer 2010 erreichte die stärkste Kraft – die rechtsliberale VVD – gerade einmal 20,5 Prozent der Stimmen; die drei stärksten Parteien zusammen kommen nur noch auf 55 Prozent der Stimmen. Insgesamt sitzen in der Tweede Kamer zehn Parteien. Die Regierungsbildungen stellten die Holländer schon häufiger auf harte Geduldsproben, 2010 dauerte sie fast vier Monate. Am Ende kam zum ersten Mal seit 1918 eine Regierung ohne eigenständige Mehrheit ins Amt. Die liberal-christdemokratische Regierung unter Mark Rutte ist im Parlament von der islamophoben Partei Geert Wilders’ abhängig und verfügt selbst dann nur über eine Mehrheit von einer Stimme.

Brüssel: Im südlichen Nachbarland war alles schon immer noch komplizierter. Dass Regierungsbildungen dort etwas länger dauern, ist das belgische Publikum bereits seit Jahren gewohnt. Dabei dominiert der Konflikt zwischen Flamen und Wallonen die politische Agenda, so dass es seit der Wahl im Mai 2010 noch immer nicht zu einer tragfähigen Regierungskonstellation gekommen ist. In Flandern hat die separatistische Nieuw-Vlaamse Alliantie die Wahl gewonnen, sie ist jedoch in der Wallonie ohne politischen Partner. Daneben stehen die vier Parteienfamilien (Sozialdemokraten, Christdemokraten, Liberale und Grüne), die jeweils einen flämischen und einen wallonischen Zweig besitzen. Es ist also keine einfache Angelegenheit, in solch einer Situation ein kohärentes Regierungsprogramm zu entwickeln, dass auch noch eine Zwei-Drittel-Mehrheit für nötige Verfassungsänderungen zusammenbringt und den (flämischen) Wahlsieger in die Regierung holt.

Madrid: Das spanische Parteiensystem ist eine interessante Mischung aus hoher Konzentration und gleichzeitiger Zersplitterung. Die sozialdemokratische PSOE und die konservative Volkspartei PP erhielten bei den Wahlen 2004 und 2008 zusammen deutlich über 80 Prozent der Stimmen. Das ist ein europäischer Rekordwert für die beiden größten Parteien eines Landes. Gleichwohl sitzen im Madrider Parlament zehn Parteien, wobei sechs von ihnen Regionalparteien sind. Seit mittlerweile fast sieben Jahren regiert die PSOE unter José Luis Zapatero, allerdings auch hier als Minderheitsregierung. Seit den neunziger Jahren haben sowohl die Volkspartei als auch die Sozialdemokraten ohne eigene Mehrheit im Parlament regiert – jeweils mit Unterstützung einer oder mehrerer Regionalparteien, was regelmäßig zur Ausweitung der Autonomie der Regionen geführt hat.

Lissabon: In Portugal regieren seit 2005 die Sozialdemokraten. Nach den Parlamentswahlen im September 2009 kann sich Ministerpräsident José Sócrates nur noch auf eine Minderheitsregierung stützen – und dies in einer für das Land existenziell schwierigen wirtschaftlichen Situation. Die Sparmaßnahmen der Regierung konnten die Sozialdemokraten im Parlament nur mit Mühe durchsetzen.

London: Großbritannien passt nicht ganz in diese Reihe. Nach den Unterhauswahlen im Mai 2010 musste Labour zwar die Downing Street räumen, doch auch die konservativen Tories konnten keine eigene Mehrheit im Parlament erringen. So kam es im Vereinigten Königreich zur ersten Koalitionsregierung seit Ende des Zweiten Weltkrieges. Wie stabil die Regierung aus Konservativen und Liberaldemokraten ist, lässt sich derzeit noch nicht sagen. Ähnlich wie in Deutschland mussten die Liberalen seit ihrem Regierungsantritt einen jähen Absturz in den Umfragen hinnehmen. Und allein die Tatsache, dass überhaupt eine Koalitionsregierung gebildet werden musste, ist ein Ausweis dafür, dass auch in Großbritannien traditionelle politische Muster ins Rutschen gekommen sind.

Athen, Rom, Berlin: In allen drei Hauptstädten sind Regierungen im Amt, die bei den Wahlen zwar ordentliche Mehrheiten errungen haben, an deren innerer Stabilität jedoch erhebliche Zweifel bestehen. Am auffälligsten ist dies bei der Regierung Berlusconi, die in diesen Wochen ins Taumeln geraten ist. Die deutsche Regierung hat binnen weniger Monate so viel Kredit verspielt, dass die Opposition in den Umfragen mittlerweile mit 20 bis 25 Prozentpunkten vor den Regierungsparteien liegt und die Regierung im Bundesrat keine Mehrheit mehr besitzt. Und in Griechenland haben die Sozialisten die Wahlen im vergangenen Jahr zwar mit absoluter Mandatsmehrheit gewonnen, doch das Sanierungsprogramm der Regierung Papandreou ist so hart, dass keiner ganz sicher ist, ob die PASOK wirklich bis zu den nächsten regulären Wahlen durchhält.

Die neue Verunsicherung der Demokratie

Bei dieser Aufzählung fehlen osteuropäische Hauptstädte, obwohl diese doch bisher eher als Hort politischer Unsicherheiten galten. Doch 20 Jahre nach dem Ende des Kommunismus und fünf Jahre nach dem EU-Beitritt scheint sich der Osten Europas zu stabilisieren. In der letzten Zeit statteten die Wähler neue Regierungen mit ordentlichen Mehrheiten aus. In Ungarn regieren die Nationalkonservativen der FIDESZ mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit, in Polen wird wohl zum zweiten Mal seit 1989 eine Legislaturperiode zu Ende gebracht, in Tschechien wiederum endete im Sommer eine lange Phase der politischen Lähmung. Und selbst die Letten, die unter der Finanzkrise besonders stark leiden, wählten die Regierung wieder.

Was also ist los in West-Europa? Bei allen unterschiedlichen politischen Traditionen, Konstellationen und dem jeweiligen politischen Personal: Ist tatsächlich ein gemeinsamer Trend erkennbar? Und gibt es einen Zusammenhang zu den jüngsten ökonomischen Friktionen? Zunächst einmal stehen alle Länder vor enormen wirtschaftlichen Herausforderungen. Die einen, wie Spanien, Portugal oder Griechenland, weil sie schlicht nicht wettbewerbsfähig genug sind. Andere, wie Großbritannien oder Irland, stehen vor dem Kollaps ihrer Bankensysteme. Und wieder andere, wie Deutschland oder Schweden, sind zwar bislang ganz ordentlich durch die Krise gekommen, tragen aber eine große Mitverantwortung (oder auch Last), damit sich die Schuldenspirale über den Partnerländern in der EU nicht überdreht und die wirtschaftlichen Ungleichgewichte nicht noch größer werden.

Dabei wird immer deutlicher, dass die Wirtschafts- und Finanzkrise massive politische Folgekosten hat. Sie zeigen sich in den Schwierigkeiten, die alle Regierungen haben, politische Entscheidungen kommunizieren und bisweilen auch verwirklichen zu können. Denn die Regierungen stehen einer Bevölkerung gegenüber, die bis heute kaum verstanden hat, wie und warum der Euro in Gefahr geraten konnte, weshalb Griechenland gerettet werden musste und wieso die Weltwirtschaft immer noch am Abgrund steht und die Art unseres Wirtschaftens bedroht. Das geht einher mit gesellschaftlichen Ausdifferenzierungsprozessen, die sich in den vergangenen Jahren noch beschleunigt haben. Sie führen dazu, dass es den „guten alten Volksparteien“ immer weniger gelingt, breite soziale Schichten anzusprechen und deren Interessen zu vertreten.

Parteiensysteme mit neurotischen Zügen

Die Folgen sind kleiner werdende Großparteien und zunehmend ausdifferenzierte Parteiensysteme. Damit haben sich zwar, wie in Deutschland schön zu beobachten, die Koalitionsmöglichkeiten vervielfacht. Aber eben auch gleichzeitig die Blockade- und Vetomöglichkeiten. Man könnte auch sagen, dass die Parteiensysteme neurotische Züge bekommen haben, weil zwar viele Parteien im Parlament sitzen, aber längst nicht alle mit allen (regieren) können oder überhaupt Verantwortung tragen wollen. Das macht die Mehrheitsbildung kompliziert – und führt eben auch immer häufiger zu Minderheitsregierungen.

Der gesellschaftliche Ausdifferenzierungsprozess trifft auch und gerade die sozialdemokratischen Parteien, die einstmals großen auf sozialen Ausgleich und Aufstieg orientierten Arbeiterparteien. Arbeiter alten Schlages gibt es kaum noch, und mit dem Aufstieg und Ausgleich ist es auch viel komplizierter geworden. Gerade auch die Schwäche der Sozialdemokraten hat in vielen Ländern zu komplizierten Mehrheitsverhältnissen geführt. Ganz offensichtlich ist dies in Schweden, Dänemark oder Holland, wo die Sozialdemokraten für die Regierungsbildung weder gebraucht werden noch überhaupt genügend Bündnispartner haben. Ähnlich stellt es sich in Deutschland und Großbritannien dar – wenngleich Regenerationsprozesse in der Opposition nach einer langen Regierungszeit gewiss nicht ungewöhnlich sind.

Die Integrationsschwäche der Sozialdemokraten erleichtert rechtspopulistischen Parteien die Suche nach Sündenböcken. Die Wähler der so genannten Schwedendemokraten, der FPÖ, der Wilders-Partei, des Front National oder der dänischen Volkspartei waren noch vor kurzem klassische sozialdemokratische Stammklientel. Arbeiter, Hilfsarbeiter, Ungelernte haben das Vertrauen verloren in das klassische Aufstiegsversprechen – und den Glauben in die Wirksamkeit von Politik gleich mit. Neue Konzepte für gesellschaftliche Integration und sozialen Aufstieg zu entwickeln, ist deshalb die Grundvoraussetzung, um überhaupt neues Vertrauen in die Wirkungsmacht von Politik zu generieren. Eine Aufgabe, der sich alle europäischen Parteienfamilien stellen müssen – aber ganz besonders die Sozialdemokraten. Auch deshalb, weil die Sozialdemokratie in den meisten Ländern Konkurrenz von links bekommen hat. Sie ist damit quasi automatisch eine Kraft der Mitte geworden, die in viele Richtungen integrieren kann.

Heute sieht es so aus, als hätte die Wirtschafts- und Finanzkrise nicht nur einen Schock an den Börsen, sondern auch einen Verunsicherungsschub in den europäischen Demokratien ausgelöst. Und damit stehen die Demokratien an sich unter Rechtfertigungsdruck. Entscheidend ist also, wie es gelingt, die nötigen wirtschafts- und finanzpolitischen Maßnahmen mit einem neuen gesellschaftspolitischen Ansatz zu verbinden – und damit Gestaltungs- und Handlungsmacht der Politik zurückzugewinnen. Dann gibt es auch eine realistische Chance, das Gespenst der Unregierbarkeit wieder zu vertreiben. «

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