Berlin bleibt anders

Der Berlin-Hype ist vorbei. Und es sind die Euphoriker von gestern, die sich heute frustriert abwenden. Den bleibenden Zauber dieser Stadt haben sie nie verstanden. Nur in Berlin balancieren schwangere junge Frauen nachts auf Straßenbahnschienen

Als die ersten Bonner nach Berlin kamen, als sie mit ihren Kölsch-Kneipen sogar den Berliner Eckkneipen Konkurrenz zu machen versuchten, da schrieb Alexander Osang in der Berliner Zeitung, nun beginne etwas Neues. In Berlin halte rheinisches Benehmen Einzug. Nun gebe es auch hier Kellnerinnen, die das Kölsch-Glas korrekt vor dem Gast abstellten, so dass dieser lesen könne, welche Marke er trinke. Doch weder die Bonner Kneipiers, die vor allem anstrebten, die politische Klasse bei ihren Hintergrundgesprächen kulinarisch zu versorgen, noch die Politiker und Beamten, die mit dem Umzug in die Stadt gekommen sind, haben die alte Berliner Ordnung zum Einsturz gebracht. Gewiss, es gibt sie, die Inseln der Höflichkeit - gleichwohl hat sich an der Mentalität der Stadt, so oft der Regierende Bürgermeister auch einen "Mentalitätswechsel" fordern mag, seit Anfang der neunziger Jahre wenig geändert. Städte gehorchen den Plastikphrasen der PR-Profis einfach nicht.

"Shrink to fit" - so heißt das neue Motto

Die Politiker bleiben hier genauso unter sich wie vermutlich in jeder anderen europäischen Hauptstadt. Wer am Freitagmittag versucht, mit einem Bundestagsabgeordneten zu telefonieren, erreicht ihn am besten unter seiner Mobiltelefonnummer im ICE, denn er ist schon längst unterwegs in seinen Wahlkreis. So war es in Bonn, so bleibt es in Berlin. Mit gutem Recht ist also zu bezweifeln, ob der neue Regierungssitz die Politik, was oft gewünscht wurde, "wirklichkeitsnäher" gemacht hat, ob die Regierenden mehr wissen über die Lebenswelten der Regierten. Was sich seit dem Regierungsumzug auch nicht annähernd gebildet hat, ist das, was man eine "hauptstädtische Gesellschaft" nennen könnte. Den Ort der neuen Elite gibt es nicht, nur zugezogene Neuberliner, die kurzlebige Salons gründen und sich elitär wähnen.


"Berlin ist niemals ein natürliches Zentrum, niemals die vorbestimmte deutsche Hauptstadt gewesen. Es lag von jeher weit ab von den Stammgebieten der deutschen Kultur, ja, der deutschen Geschichte; es ist zu all seiner ungeschlachten Mächtigkeit wie nebenher emporgewachsen. Jahrhundertelang wurde Berlin kaum genannt, wo Angelegenheiten des Deutschen Reiches verhandelt wurden; denn diese Stadt war immer ein Außenwerk und ist es im gewissen Sinne noch heute" - das schrieb Karl Scheffler 1869. Fast möchte man sagen, er hat bis heute Recht behalten. Die Jubelgesänge auf eine neu zu gründende Republik und ihr vermeintliches Zentrum sind verstummt. Zu hören ist nun viel selbstmitleidiges Klagen über den Bedeutungsverlust der Stadt, das Ende des Berlin-Hypes der neunziger Jahre. Die Besitzer der "Coffee Shops" genannten Latte-Macchiatto-Tankstellen müssen zum Insolvenzrichter, "Shrink to fit" nennen drei Architekten eine Ausstellung über die Zukunft der Stadt. Nach einem zehn Jahre dauernden Fiebertraum und einer Expansion ohne Wirklichkeitssinn, so die Architekten, müsse sich Berlin nun gesundschrumpfen. Einer der in der Ausstellung gezeigten städtebaulichen Entwürfe zeigt Berlin mit einem überschaubaren Zentrum zwischen Fernsehturm am Alexanderplatz und Gedächtniskirche, das von einem grünen Wohngürtel umgeben ist wie eine westdeutsche Kleinstadt.


Es fällt auf, dass genau jene, die nun das Ende des Berlin-Hypes verkünden, vor Jahren noch die Propheten eines goldenen Zeitalters waren. Es sind oftmals die spät bekehrten Berlin-Fans, die sich nun wie enttäuschte Liebhaber nach kurzem Rausch frustriert abwenden. Somit ist vor allem die Berlin-Euphorie der Berlin-Ignoranten an ein Ende gekommen. Jeder, der es wissen wollte, konnte wissen, dass auch die Internet-Startups und die Werbeagenturen die Stadt nicht reich machen würden. Berlin war lange und ist auch heute eine arme, verschuldete, proletarische Stadt. Es gibt hier fast keine Konzernsitze. Die Schering AG ist das einzige in Berlin ansässige Unternehmen, das im DAX vertreten ist. Die Arbeitslosenquote lag selten unter 16 Prozent; in einigen Problemquartieren beträgt sie 30 Prozent. Nach einer Studie des Wissenschaftszentrums Berlin hat nur jeder dritte erwerbsfähige Einwohner zwischen 15 und 64 Jahren einen unbefristeten Vollzeitvertrag. In der vermeintlichen Boomphase der Stadt, also zwischen 1994 und 1999, ist das Beschäftigungsniveau um 13 Prozent zurückgegangen. "Obwohl die Verlagerung der Regierungsinstanzen nach Berlin gegen Ende der neunziger Jahre mit voller Kraft anlief, konnte dies die Stadt nicht aus dem wirtschaftlichen Sumpf herausziehen, in den sie nach der vereinigungsbedingten Strohfeuer-Konjunktur hinabsank", schreibt der Historiker David Clay Large. Was jetzt im Niedergang der so genannten New Economy, einiger teurer Restaurants in Mitte und einiger Nachwendekultkneipen evident wird, war auch schon 1998 merkbar: Vor vier Jahren, als der Boom der Telekommunikations- und Internet-Branche begann, schrumpfte die Berliner Wirtschaft um 0,3 Prozent. Die Quote der Insolvenzen war doppelt so hoch wie im Bundesdurchschnitt.

Die Stimmung war stets besser als die Lage

Berlin-Mitte war ein idealer Ort zur Inszenierung des Neuen, was zur Folge hatte, dass die Stimmung immer besser war als die Lage. Die Lokalpolitiker haben es in den neunziger Jahren nicht vermocht, ein kritisches Verhältnis zu den Ressourcen der Stadt zu entwickeln. Noch immer gibt es "Ausstattungsvorsprünge", gibt Berlin für den öffentlichen Sektor mehr Geld aus als vergleichbare andere deutsche Stadtstaaten. Mit den ohnehin geringen Steuereinnahmen geht die Berliner Politik noch immer so verschwenderisch um wie der Autonarr, der trotz steigender Benzinpreise weiter einen spritfressenden amerikanischen Straßenkreuzer fährt. Genug Ansätze zu einer "aufgabenkritischen" Verwaltungsreform hat es gegeben, aber es mangelte an Konsequenz, aus diesen Vorschlägen Politik zu machen. So kann sich auch heute noch ein Senator mit dem Aufdecken fortwährender Verschwendung einen guten Namen machen. Eine fatale Mischung aus Ämterpatronage und Filz, Bürokratismus und Größenwahn hat bei so unterschiedlichen Vorhaben wie der Bankgesellschaft oder der Berliner Landesentwicklungsgesellschaft zu Belastungen des öffentlichen Haushaltes in Millionenhöhe geführt. Bei der Landesentwicklungsgesellschaft verlor das Land aufgrund seiner inkompetenten politischen Führung 200 Millionen Mark; bei der Bankgesellschaft musste das Parlament eine "Risikoabschirmung" in Höhe von 21,6 Milliarden Euro vornehmen, um die Insolvenz zu verhindern. Die Neuverschuldung für den Haushalt dieses Jahres musste von 3,6 Milliarden Mark auf mehr als 12 Milliarden Mark erhöht werden; in vier Jahren wird das Land Schulden in Höhe von 56 Milliarden Euro haben.

Eine offene Stadt mit offener Gesellschaft

Berlin mag seine Ressourcen weiter verschwenden - den immateriellen Vorteil, eine offene Stadt mit einer offenen Gesellschaft zu sein, kann ihr aber kein noch so inkompetenter Landespolitiker und keine noch so handlungsunfähige Koalition nehmen: Im Gegensatz zu Hamburg, München oder Frankfurt hat Berlin eine durchlässige Gesellschaft, zu der jeder gehören kann, der zu ihr gehören will. Berlin ist eine antielitäre und antiautoritäre Stadt und wird dies vermutlich auch bleiben. Der CDU-Landesvorsitzende Christoph Stölzl hat in Kenntnis dieser Anomalie eine Definition des bürgerlichen Berlin gefunden, von der sich ein Automechaniker in Neukölln genauso angesprochen fühlen darf wie ein freischaffender Intellektueller in Mitte: "Bürgerlich heißt für mich vor allem, dass man sich darum kümmert, was in der unmittelbaren Umgebung, da, wo man sich auskennt, passiert." Für die politisch praktische Arbeit der Berliner CDU wird diese Handlungsanweisung ganz gewiss nicht ausreichen, für Berlin ist der Stölzlsche Satz aber das schönste Kompliment, das man der Stadt machen kann.


Berlin ist anders und bleibt eine exterritoriale Stadt: Das zeigt schon die charakteristische Dynamik, die sich in keiner der trägen und herausgeputzten westdeutschen Großstädte finden lässt. In Berlin balancieren junge schwangere Frauen mit ihrem Freund nachts auf den Straßenbahnschienen der Neuen Schönhauser Straße; in Stuttgart lesen sie Elternratgeber (jedenfalls nach der Tagesschau). Als am Potsdamer Platz noch gebaut wurde, war an einem Hochhaus der Satz "See you tomorrow" zu lesen. Für Berlin bleibt er gültig.

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