Aufstand der Desperados

Die Brandschatzungen in den britischen Städten markieren nicht zuletzt das völlige Scheitern einer gut gemeinten, aber fehlgeleiteten Sozialpolitik

Am 9. September zog der Trauerzug für Mark Duggan durch den Londoner Stadtteil Tottenham – samt Vierspänner, einer endlosen Schlange von Limousinen und an die Tausend Trauergästen. Ein Monat zuvor war Tottenham Ausgangspunkt landesweiter Brandschatzungen und Plünderungen gewesen, nachdem eine bewaffnete Einheit Scotland Yards den 29-jährigen mutmaßlichen Gangster Anfang August erschossen hatte. Mark Duggan war bewaffnet gewesen, sein Revolver steckte in einem Strumpf, der nur den Lauf freilässt – eine Methode, die verhindern soll, dass beim Schießen leere Patronenhülsen zurückbleiben. Noch läuft die Untersuchung der genauen Todesumstände. Unter den vielen Menschen, die die Straßen säumten, waren Mitglieder der gefürchteten „Star-Gang“, erkennbar an dem Gruß mit ausgestreckter rechter Hand, mit dem sie Duggan ehrten, den „Soldaten“ und Senior ihrer Bande. In seiner Predigt forderte der Priester „ein Ende des Blutvergießens“. Ob seine Botschaft Wirkung zeigt, bleibt fraglich. Immerhin: Nach der Beerdigung gab es keine neuen Ausschreitungen.     

Drei viertel der Täter waren vorbestraft

Derweil geht die juristische Aufarbeitung der „Riots“ mit unverminderter Wucht weiter. Mehr als 2.000 Menschen, zumeist mithilfe von Videokameras identifiziert, wurde bislang der Prozess gemacht. Die Strafen fielen überraschend drakonisch aus, ob gegen Brandstifter, Aufrührer oder opportunistische Gelegenheitsdiebe. Zum Beispiel wanderte eine zweifache Mutter für fünf Monate ohne Bewährung hinter Schloss und Riegel, weil sie gestohlene Kleider angenommen hatte. Zwei junge Männer erhielten vier Jahre Gefängnis, weil sie über Facebook zu Randalen in einem verschlafenen Städtchen aufgerufen hatten. Liberalen Zeitgenossen sträuben sich angesichts der Härte der Urteile die Haare. Aber eine klare Mehrheit der Briten – rund 80 Prozent – steht hinter den Richtern. Zum Zeitpunkt dieser Umfrage war noch nicht bekannt, was man jetzt weiß: Drei viertel der Verurteilten sind vorbestraft, meist mit mehreren Delikten auf dem Kerbholz. Es handelt sich überwiegend um junge Männer; ein hoher Prozentsatz gehört zur afrokaribischen Minderheit, die drei Prozent der Bevölkerung Großbritanniens ausmacht. Der schwarze Labour-Abgeordnete David Lammy hatte bereits am ersten Tag der Randale von einem „Angriff krimineller Elemente von außen auf unser Tottenham“ gesprochen. Damit meinte er jene Gangs, die zu einem gesellschaftlichen Kernproblem geworden sind.   

Mit ihren Urteilen verabschiedete sich die britische Justiz vom Kuschelkurs vergangener Jahrzehnte, der Wähler wie Politiker immer wieder erbost hatte. In den vergangenen
14 Jahren lagen Innenminister von Labour – ob David Blunckett, Jack Straw oder John Reid – in Dauerfehde mit den Gerichten. Je nachdrücklicher sie eine härtere Gangart gegen Terroristen oder Schwerverbrecher anmahnten, desto entschlossener demonstrierte die Justiz ihre Unabhängigkeit und tat exakt das Gegenteil. Wie ist der Kurswechsel zu erklären? Die Richter sind zutiefst erschrocken über das Ausmaß von Gewalt und krimineller Energie, das sich quer durch England offenbarte und an Stanley Kubricks düsteren Film
A Clockwork Orange erinnert.

Noch permissiver geht es kaum

Was immer die gesellschaftlichen Hintergründe der „Riots“ sein mögen – wenn Gesetzlosigkeit und Amoralität sich in einer Gesellschaft festzusetzen drohen, wird ein Schock benötigt. Die Öffentlichkeit soll angesichts der Härte der Urteile aufhorchen. Vor allem zielen sie auf die „zweite Welle“ der Unruhen, auf die Peripherie der Mitläufer und Opportunisten: ob Mütter mit Kindern, die die Gelgenheit zum „freien Einkauf“ nutzen wollten oder gutbetuchte Studenten, die sich „aus Spaß“ an den Randalen beteiligten. Ein weiterer Faktor trat während der Krawalle zu Tage: Vielen Jugendlichen mangelt es nicht nur an jeglichem Unrechtbewusstsein. Sie haben auch die Furcht vor den möglichen Konsequenzen eines kriminellen Delikts verloren. Ein Bandenmitglied erklärte, „uns wird ohnehin nichts passieren“, überhaupt sei in den Gefängnissen doch gar kein Platz mehr. Das stimmt sogar: Mehr als 86.000 Menschen sitzen derzeit in Großbritanniens Gefängnissen ein, gerade noch ein paar Hundert Plätze sind frei. Damit befindet sich das Justizwesen in einer ungewohnten Situation: Richter handeln im Einklang mit den Wünschen von Regierung und Wählern – für sie ein neues, beinahe beunruhigendes Gefühl, schließlich gelten Volkes Stimmungen doch als potenziell gefährlich. Auch das ist ein Indiz für die veränderte Großwetterlage: Noch permissiver als in den vergangenen Dekaden kann die britische Gesellschaft kaum werden, ohne ernsthaft Schaden zu nehmen, ohne Anarchie und Gesetzlosigkeit Tür und Tor zu öffnen. Liberale Kreise, um Bürgerrechte und Freiheiten besorgt, dürften in den kommenden Jahren einigen Grund zur Klage haben.

Wo aber liegen die Ursachen? Welche Auswege gibt es? Auf dem Kontinent gaben Professoren und Kommentatoren Antworten, die sich oft durch eine erstaunliche Unkenntnis der Wirklichkeit auszeichneten, dieses Defizit aber mit dem Rückgriff auf reichlich Ideologie wettmachten. Sie stimmten das Mantra an von Armut und Entfremdung, Arbeitslosigkeit und Studiengebühren, herzlosen Kürzungen der Konservativen und spesenreitenden Politikern sowie gierigen Bankern. Gelegentlich wurde sogar der Versuch unternommen, Tony Blairs Irak-Krieg in diesem Sündenregister mit unterzubringen.

Die Krise, die in diesem Sommer plötzlich sichtbar wurde, hatte schon lange vor sich hingeschwelt. Allen voran war es die Revolte einer kriminellen Unterschicht. Schon in den achtziger Jahren gab es warnende Stimmen, die auf eine wachsende underclass hinwiesen, die auf die Normen der Mehrheitsgesellschaft pfeift. Diese existierte zu allen Zeiten; Karl Marx sprach vom „Lumpenproletariat“. Nur ist dieses in den vergangenen Dekaden enorm gewachsen.

Junge Menschen mit Einwandererbiografie verüben einen überproportional hohen Anteil von Gewalttaten. Nach einer Statistik von Scotland Yard gehen 55 Prozent aller Messerstechereien und Schusswaffendelikte auf das Konto afrokaribischer Gangs. Jährlich sterben Dutzende von Teenagern, wobei auch die Opfer zumeist aus derselben Minderheit stammen. Diese Jugendlichen werden stark von der „Gangsta Rap“- und Glitzer-Kultur beeinflusst: Verherrlicht werden Gewalt, Drogen, Sex und schneller Reichtum, Lernen und Arbeiten hingegen verachtet. In den Vierteln der schwarzen Minderheiten ist der Anteil alleinstehender Mütter auf 65 Prozent hochgeschnellt, in manchen Gegenden liegt er bei 90 Prozent. Bezeichnenderweise kursiert seit den achtziger Jahren der Slangbegriff „Babyfather“. Die meisten Jungen wachsen ohne Vater auf. Gangs ersetzen fehlende männliche Vorbilder.

Keine Grenzen, keine Autorität, keine Lehrer

Eine ähnliche Entwicklung bahnte sich in der weißen Unterschicht an. Dafür sorgte eine wohlmeinende Sozialpolitik, die sich längst als gravierender Irrtum entpuppt hat, und das nicht nur in Großbritannien. Durch sie schwoll die Zahl der Wohlfahrtsmütter an, die oft selbst in Verhältnissen groß wurden, in denen morgens niemand die Wohnung verließ, um arbeiten zu gehen. Das Geld für den Lebensunterhalt liefert der Staat. Die Kinder der underclass bekommen oft keine Grenzen gesetzt. Sie lernen nicht, was Recht oder Unrecht ist. Sie akzeptieren keinerlei Autorität, weder Lehrer, Polizei noch Eltern. Häufig werden sie als „feral kids“ bezeichnet, als verwilderte Kinder – „streetwise“, zynisch und amoralisch, mit einem instinktiven Gespür für die Schwächen des staatlichen Systems. Höhnisch schreien junge Burschen, nicht älter als 12 oder 13, Sozialarbeitern und Polizisten ins Gesicht, sie seien ja noch gar nicht „straffähig“. Der Strafvollzug schreckt sie nicht. Die meisten Delikte bleiben folgenlos.

Überall in Europa ist zu beobachten, dass Vandalismus, Aggression, Rowdytum und Kleinkriminalität hingenommen und entschuldigt werden. Ein unrealistisches, verklärtes Menschenbild prägte in den vergangenen Jahrzehnten das Bewusstsein vieler Sozialarbeiter, Richter, aber auch Medienschaffender und Politiker. Die Missachtung staatlicher Institutionen und ihrer Auflagen – ob Schule, Gericht oder Polizei – blieb allzu oft folgenlos. Eine Reihe wohlmeinender Reformen haben diese Haltung begünstigt. Beispielsweise erbrachte die Reform des Erziehungssystems in der Quintessenz eine Verschiebung der Autorität der Lehrenden und Wissenden zugunsten der Lernenden. Viele Eltern entzogen sich der Verantwortung für ihre Sprösslinge und wurden so Teil des sozialen Problems, mit dem sich Großbritannien konfrontiert sieht.

Die Ansätze von New Labour blieben stecken

Immer wieder versuchten Politiker, das Problem anzupacken. Tony Blair war in den neunziger Jahren angetreten, das „verlorene Gleichgewicht“ zwischen Rechten und Pflichten wiederherzustellen und zugleich die sozialpolitischen Fehler der Progressiven zu korrigieren. New Labour erfand den Slogan „Tough on crime, tough on the causes of crime“ und betonte die „persönliche Verantwortung“. Man könne nicht warten, bis die perfekte Gesellschaft geschaffen sei, meinten die Protagonisten von Neuer Mitte und New Labour. Viel erreicht haben sie aber nicht. Blairs Initiative, antisoziales Verhalten durch „Asbos“, die Verhängung von abendlichen Ausgehverboten oder Ortsverweisen zu erreichen, half zwar vielen Opfern von Vandalismus und Jugendbanden, stieß aber auf scharfe Kritik des linksliberalen Milieus, das diese Maßnahmen für „zu autoritär“ hielt. Heute mokiert es sich über die Idee von Premier David Cameron, die Institutionen von Ehe und Familie zu stärken.

Klar ist: Es muss eine gesellschaftspolitische Priorität sein, mittels Verzahnung von Einwanderungs-, Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik das weitere Wachsen der gleichsam gesetzlosen Klasse zu verhindern. Es handelt sich um ein Problem, das sich tief eingebettet hat in der politischen und populären Kultur Großbritanniens, aber auch anderer Länder Europas. Es wird enormer, schmerzlicher Anstrengung bedürfen, die notwendige Reparatur zu bewerkstelligen. Vor allem müssen ideologische Scheuklappen abgelegt werden, die zu Fehlschlüssen führen und eine vernünftige, problemorientierte Antwort erschweren.

New Labour verfolgte vor 14 Jahren richtige Ansätze, in Anlehnung an eine der erfolgreichsten Sozialreformen der Nachkriegsgeschichte unter Bill Clinton in den neunziger Jahren. Auch sonst hat sich in den Sozialsiedlungen vieles zum Besseren verändert: mehr Investitionen in Sozialwohnungen, Gemeinde- und Jugendzentren sowie bessere Schulen. Aber nach Protesten blieb eine umfassende Wohlfahrtsreform stecken. So benachteiligen steuerliche Regeln und die Struktur der Sozialhilfe weiterhin Paare, die – ob verheiratet oder nicht – zusammenbleiben wollen. Die Zahl alleinstehender Mütter, vor allem aus der afrokaribischen Minderheit, steigt weiter drastisch an – mit allen gesellschaftlichen Konsequenzen. Die Statistik enthält eine klare Botschaft: Kinder von Alleinerziehenden erwartet ein tristeres Leben als Kinder, die mit zwei Eltern aufwachsen: Sie haben eine schlechtere Ausbildung, sind eher arbeitslos, arm und krank, werden häufiger straffällig, landen öfter im Gefängnis, werden häufiger missbraucht und misshandelt, verfallen in größerer Zahl Drogen oder Alkohol und werden überproportional häufig Opfer von Gewalttaten.

Viel ist noch zu tun. Vonnöten ist ein Umbau der  Steuer-, Familien- und Sozialpolitik. Ein Beispiel für eine gelungene, progressive Sozialreform lieferte die Regierung Bill Clinton in den frühen neunziger Jahren. Diesem Vorbild könnte Großbritannien folgen. Clinton beschränkte die Sozialtransfers für alleinstehende Mütter auf zwei Kinder und maximal sechs Jahre. Diese Maßnahme beseitigte den explosiven Cocktail in den schwarzen Ghettos: Die Zahl der Ghettokinder und damit der Nachwuchs für die Gangs nahm drastisch ab. In den Ghettos kehrte Ruhe ein, zugleich stieg die Beschäftigungsquote junger schwarzer Frauen an. Nicht von ungefähr verweisen tagtäglich mit den Folgen der Gewaltepidemie konfrontierte Londoner Sozialexperten, gefragt nach möglichen Rezepten, häufig auf Bill Clintons Reform. «

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