Auf Gedeih und Verderb

Auch im 21. Jahrhundert können Sozialdemokratie und Gewerkschaften nur gemeinsam erfolgreich sein. Ob es auch dazu kommt? Das hängt davon ab, ob beide Seiten ihre sozial- und arbeitsmarktpolitischen Irrlehren der Vergangenheit überwinden

Selten waren sich SPD und Gewerkschaften, die beiden Arme der Arbeiterbewegung, so fremd wie heute, beklagen viele Gewerkschafter. Selten war sich die SPD selbst so fremd, könnte man hinzufügen. Die Ziele und politische Identität der Arbeiterbewegung (oder zumindest die gängigen Interpretationen derselben), auf die sich beide Organisationen in ihren Programmdebatten und Bildungsveranstaltungen traditionell gestützt haben, stehen seit dem letzten Frühjahr nicht nur im Widerspruch zur Politik der Bundesregierung, sondern auch ganz allgemein zur Disposition.

Die SPD und die Gewerkschaften hatten traditionell eine gemeinsame Vorstellung davon, wie man die Ziele der Arbeiterbewegung in die soziale Marktwirtschaft einbetten könne. Diese Vorstellung beruhte auf einer Reihe von Glaubenssätzen, mit denen der politische Anspruch der Arbeiter auf gleichberechtigte Teilhabe in der Wirtschaft in Formen der Regulierung des Arbeitsmarktes und der Sozialpolitik übersetzt wurde. Das deutsche Modell, so wurde argumentiert, sei eine sich gegenseitig befruchtende Symbiose von hohen Arbeitskosten, hoher Regulierungsdichte und hoher Produktivität. Gerade weil der Standort Deutschland teuer sei, müssten Unternehmen innovativ und produktiv bleiben. Weil die Produktivität rasant steige, müsse die Arbeitszeit kürzer werden. Es lohnt sich, die Argumente genauer zu betrachten, um den Umbruch besser zu erfassen, den die Agenda 2010 für das deutsche Modell und damit auch für das Verhältnis zwischen SPD und Gewerkschaften in der Reform des Wohlfahrtsstaats bedeutet.

Ein wesentlicher Glaubenssatz ist die Überzeugung, dass die Nachfrage nach Arbeit in der modernen Industriegesellschaft zum einen begrenzt sei und zum anderen durch fortschreitenden technologischen Wandel permanent reduziert werde. Je produktiver die Arbeitsorganisation, desto weniger Menschen würden im Arbeitsprozess benötigt. Um dennoch genügend Menschen beschäftigen zu können, Arbeitslosigkeit zu reduzieren und vor allem die Konkurrenz unter den Arbeitnehmern so gering wie möglich zu halten, verfiel man auf die Idee, das Arbeitsangebot zu verknappen.

Dies könne entweder geschehen, indem die Gewerkschaften in der Tarifpolitik die Wochenarbeitszeit verkürzen und somit Unternehmen zum Erhalt der Beschäftigtenzahlen anhalten. (Man erinnere sich: Im Streit zwischen Oskar Lafontaine und den Gewerkschaften in den achtziger Jahren ging es nicht darum, ob kürzere Wochenarbeitszeiten sinnvoll seien, sondern um die Frage, ob weniger Arbeitszeit auch weniger Lohn bedeuten solle.) Alternativ könne man die Restrukturierung der Unternehmen durch großzügige Frühverrentungsprogramme abfedern. Die Frühverrentung diente beiden Seiten: Die Unternehmen konnten weniger produktive ältere Arbeitnehmer aus dem Arbeitsprozess herausnehmen und durch jüngere ersetzen; die Politiker glaubten, dadurch den jungen Arbeitnehmern den Zugang zum Arbeitsmarkt zu ebnen.

Die Vision von der Arbeit ohne Markt

Man argumentierte zudem, dass es für die deutsche Wirtschaft nur den Weg als Hochlohnland mit qualitativ hochwertiger Produktion gebe. Niedriglohnsegmente, selbst wenn sie steuerlich subventioniert und damit den Arbeitnehmern Lohnniveaus über der Sozialhilfe sichern würden, würden den Arbeitsmarkt nicht entlasten, sondern lediglich Druck auf das allgemeine Lohnniveau ausüben. Im Interesse des Erhalts des hoch produktiven Modells sei es besser, niedrig bezahlte Arbeit zu verhindern.

Oder die Überzeugung, dass eine aktive Arbeitsmarktpolitik in jedem Fall besser sei als eine rein passive Gewährleistung von Lohnersatzleistungen: Durch die aktive Arbeitsmarktpolitik sollte die Zeit der Arbeitslosigkeit sinnvoll genutzt werden, indem Arbeitslose in Qualifizierungsmaßnahmen weiter gebildet oder in Beschäftigungsprogrammen weiter in das Arbeitsleben integriert wurden. Da der Markt von alleine weder Qualifizierung noch Beschäftigungsprogramme anbot, wurden diese Maßnahmen durch die Bundesanstalt für Arbeit aufwändig organisiert. Dadurch erhielt der dritte Sektor eine finanzielle Grundlage, was seine Bedeutung im Rahmen der sozialdemokratischen Arbeitsmarktpolitik erhöhte. Manche Teile der SPD sahen in ihm gar die Vision einer Beschäftigungsgesellschaft ohne Markt. Da die Marktwirtschaft immer weniger Menschen brauche, zugleich jedoch viele gesellschaftliche Aufgaben brach lägen, könne man in breit angelegten Wohlfahrtsprogrammen die wirtschaftliche Notlage der Arbeitslosigkeit mit gesellschaftlich Sinnvollem verbinden.

Emanzipation durch Verregelung?

Zu den Glaubenssätzen gehörte auch, dass eine starke Regulierung des Arbeitsmarktes nicht nur vor unsicheren Arbeitsverhältnissen schütze, sondern auch die politische Emanzipation des Arbeitnehmers verkörpere. Arbeitnehmerrechte seien soziale Grund- und Bürgerrechte, die die Position des Einzelnen gegenüber dem Markt absichern und damit der politischen Emanzipation des Arbeiters eine wirtschaftliche zur Seite stellen. So werde aus einem starken Kündigungsschutz sowohl ein individuelles Schutzrecht, das dem Direktionsrecht des Arbeitgebers enge Grenzen setzt, als auch ein politisches Symbol für den Umgang mit Arbeitnehmern insgesamt. Die Schwächung des Arbeitsrechts hingegen wäre ein Einfallstor für den allgemeinen Abbau von Arbeitnehmerrechten. Die segregierende Wirkung starker Arbeitnehmerrechte zwischen denjenigen, die in ihren Genuss kommen, und denjenigen, die außerhalb stehen, wurde als Problem der Marktwirtschaft gesehen, und nicht der Wirkungsweise der Schutzrechte an sich.

Letztlich war man auch der Überzeugung, dass die institutionelle Verfassung des deutschen Wohlfahrtsstaates die Parität zwischen Kapital und Arbeit nicht nur symbolisiere, sondern auch sicherstelle. Die Ebenbürtigkeit beider Seiten wurde über die paritätische Finanzierung der sozialen Sicherung in Stein gemeißelt, die sowohl die Selbstverwaltung der sozialen Sicherung nach sich zog als auch die paritätische Beteiligung von Arbeitnehmern und Arbeitgebern an der Selbstverwaltung.

Aufstieg und Macht der Generation Blüm

Besonders in den siebziger Jahren, der Zeit nach der ersten großen Erfahrung mit der Massenarbeitslosigkeit und dem sozialdemokratischen Aufbruch, hat sich in den deutschen Parlamenten eine breite Koalition von Arbeitsmarkt- und Sozialpolitikern herausgebildet, die dieses sozialdemokratische Standardrepertoire zunächst entwickelte und bis in die neunziger Jahre kontinuierlich pflegte. Dabei reichte die herrschende Meinung bis weit in die CDU hinein und ist bis heute in großen Teilen der Selbstverwaltungsgremien der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik und der Ministerien verwurzelt. Der am längsten amtierende und zugleich sozialdemokratischste Minister der Kohl-Regierung, Norbert Blüm, vertritt diese Version noch immer. Im sozialpolitischen Ausschuss des deutschen Bundestages waren in den siebziger und achtziger Jahren nicht nur die Abgeordneten mit gewerkschaftlichem Hintergrund besonders stark vertreten. Zudem herrschte Einigkeit, dass die Stillegung von Arbeit und ihre Umleitung in nicht-marktliche Formen der Beschäftigung zu den besten Antworten auf die Herausforderung Massenarbeitslosigkeit gehöre.

Die im vergangenen Jahr eingetretene Entfremdung zwischen Partei und Gewerkschaft wie auch zwischen Parteiführung und Basis resultiert daraus, dass die Maßnahmen der Agenda 2010 diese Grundüberzeugungen aufkündigen. Dabei blieb in der Begründung der Agenda weitgehend offen, ob die bisherigen Glaubenssätze schon immer im Reich der Illusion und Mythen angesiedelt waren, oder ob nur die neuen wirtschaftlichen Bedingungen sie heute weniger realistisch erscheinen lassen als früher: Hätte man sich nie auf die Frühverrentung einlassen dürfen? Oder hätte man nur früher umsteuern müssen, als deutlich wurde, dass aus der Ausnahmeerscheinung eine Regel wurde? Oder ist die Frühverrentung gar auch in Zukunft ein sinnvolles Instrument, wenn sich der Arbeitsmarkt erst wieder erholt hat? Alle drei Auffassungen lassen sich heute in der SPD finden.

Die Grundzüge sozialdemokratischer Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik wurden dabei nicht nur stillschweigend begraben - in vielen Bereichen werden ihre Hauptaussagen zugleich ins Gegenteil verkehrt. Statt der Stillegung von Arbeit ist nun die Erhöhung des Beschäftigungsvolumens das Ziel. Arbeit soll nicht mehr besser verteilt, sondern neu generiert werden. Längere statt kürzere Arbeitszeiten fördern Beschäftigung, indem sie Arbeitskosten senken und Unternehmen wettbewerbsfähiger machen. Ein reduzierter Kündigungsschutz nimmt den Unternehmen die Angst vor der sozialen Verantwortung bei Neueinstellungen.

Das Scheitern der Stilllegungspolitik

In der Bundesregierung ging der Kurswechsel im letzten Jahr - besonders in der Fraktionsspitze der Grünen - bis zur Umkehrung der allgemeinen Annahme, dass die Beschäftigungsentwicklung abhängig vom Wirtschaftswachstum sei. Wenn die Hartz-Reformen den Arbeitsmarkt nur genügend aktivieren könnten, dann werde auch die Wirtschaft schon wieder in Schwung kommen, so lautete der neue Kurs. Diese Kehrtwendung war jedoch keine freiwillige oder eine politische Entscheidung, sondern sie war das Ergebnis der zunehmend erdrückenden Kosten der Stillegungspolitik. Wenn es irgendwie möglich gewesen wäre, hätte die sozialdemokratische Parteiführung den Weg in die beschäftigungsarme Postmoderne unbeirrt weiter fortgesetzt. Da die Umkehr dem Sachzwang folgte und keiner neuen Einsicht in die ökonomischen und politischen Zusammenhänge des Arbeitsmarktes und der Weltwirtschaft, wurde sie - sieht man von wenigen Ausnahmen wie dem Bundeswirtschaftsminister ab - nicht offensiv als neuer Kurs vertreten. Dass die Wende stillschweigend erfolgte und nicht offensiv vollzogen wurde, bedeutete aber auch, dass die Implikationen der Agenda 2010 für die Verfasstheit der sozialen Marktwirtschaft kaum thematisiert wurden.

Die Säulen der alten Republik

Die soziale Marktwirtschaft der alten Bundesrepublik fußt auf zwei Säulen. Die erste Säule besteht aus einer liberalen Wettbewerbsordnung und fiskal- wie geldpolitischen Zurückhaltung, die zum Vorbild für die Marktöffnung und Währungsunion in der Europäischen Union wurde; die zweite Säule bildet ein ausgebauter und gewerkschaftlich verflochtener Wohlfahrtsstaat, der eine Vertiefung der europäischen Integration erschwert. Beide Säulen waren politisch voneinander getrennt, in unterschiedlichen Ministerien verankert und entwickelten sich weitgehend unabhängig voneinander. Die funktionale Verbindung zwischen den Säulen bestand darin, dass sich die politische Legitimation der Marktwirtschaft mit der Betonung auf offenen Märkten und geldpolitischer Stabilität, aus einer expansiven Sozialpolitik unter Einbeziehung der Gewerkschaften in die Verwaltung derselben speiste. Die liberalen Ordnungspolitiker hielten sich über diese Konstruktion weitergehende Ansprüche von Sozialdemokratie und Gewerkschaften an wirtschaftlicher Teilhabe und eine grundsätzliche Kritik an der Marktwirtschaft vom Leibe.

Wenn es jetzt darum geht, den Wohlfahrtsstaat zu modernisieren und damit eine der beiden Säulen zu reformieren, stellt sich aus der Perspektive der Sozialpolitiker natürlich die Frage nach der neuen Konstruktion politischer Legitimation in der sozialen Marktwirtschaft. In der Sache geht es zudem darum, wo die lange als zentrales politisches Ziel verfolgte Emanzipation der Arbeitnehmerschaft bleibt, wenn man Schutzrechte und hohe Arbeitskosten als wesentliche Beschäftigungshemmnisse erkennt, deren Abbau die Voraussetzung für eine Erholung auf dem Arbeitsmarkt ist.

Gibt es ein Recht der Basis auf Blindheit?

Die Entfremdung zwischen alter und neuer SPD ist daher nicht nur und nicht in erster Linie ein Kommunikationsproblem, wie man es dem vormaligen Generalsekretär Olaf Scholz gerne vorgeworfen hat. Versteht man die neue Aufgabenteilung zwischen Kanzler und Vorsitzendem der SPD als Kommunikationsstrategie, springt man zu kurz. Zunächst entbindet auch eine fehlerhafte Kommunikation die Basis der SPD nicht von der Aufgabe, die Welt mit eigenen Augen zu betrachten. Es gibt kein angestammtes Recht der Basis auf Blindheit und Scheuklappen. Selbst die Genossen an Rhein und Ruhr oder im Saarland - man könnte auch sagen: gerade sie - kennen die Fehlanreize, die in der bestehenden Sozialpolitik angelegt sind.

In den Ortsvereinen ist bekannt, dass sich Arbeits- und Sozialämter die schwierigen Fälle gegenseitig zuschieben; dass es den Unternehmen und Betriebsräten zu leicht gemacht wird, sich älterer Arbeitnehmer zu entledigen. Es gibt ein breites Wissen darüber, wie Unternehmen gemeinsam mit älteren Arbeitnehmern berechnen, ab wann sich der Auflösungsvertrag für beide Seiten finanziell lohnt. Wenn sie ehrlich sind, gestehen die Genossen auch ein, dass diese Politik weder für die zu früh verrenteten Arbeitnehmer noch für den Sozialstaat insgesamt sinnvoll sein kann. Sie wissen zudem, dass die dauerhafte Subventionierung nicht überlebensfähiger Industrien keine zukunftsweisende Politik ist, sondern vielmehr der Strukturwandel auch positive Aspekte hat. Die heutigen wie die früheren Bergleute des Ruhrgebiets sehen ihre Kinder lieber im Büro als unter Tage.

Die Spannung kommt zudem auch daher, dass der alte Wohlfahrtsstaat neben der politischen und sozialen Absicherung der in seinem Kern Beschäftigten auch Beteiligungsrechte für die Gewerkschaften als Repräsentanten der Arbeitnehmer produziert hat, auf die diese nur schwer verzichten können. Die Frühverrentung ist nach wie vor ein beliebtes Instrument der Unternehmen und Betriebsräte. Auch wenn sich Betriebsräte häufig mit der Sozialauswahl überfordert fühlen, steigert die Aushandlung sozialverträglicher Restrukturierung ihre Bedeutung im Betrieb. Der Ausstieg aus der Frühverrentung ist daher von allen Projekten der Agenda 2010 am schwersten zu verwirklichen.

Viele Beschäftigungs- und Weiterbildungsmaßnahmen werden von gewerkschaftseigenen Gesellschaften durchgeführt. Ihre Effizienz in Frage zu stellen, verweist auf ein generelles Problem: Gewerkschaften bieten Dienstleistungen gerade in einem Feld an, das sie selbst regulieren und kontrollieren sollen. Eine zunehmende Steuerfinanzierung der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik hat deshalb zwei Konsequenzen für die Gewerkschaften: Erstens würde es bedeuten, dass man das Versicherungsprinzip und den Erhalt erworbener Ansprüche - den Vertrauensschutz - stark zurückschrauben würde. Zweitens würde die bisherige Legitimation der Beteiligung der Gewerkschaften an der Selbstverwaltung durch die Reduzierung oder Abschaffung der paritätischen Beitragsfinanzierung wegfallen.

Das Dilemma der Gewerkschaften

Der Umbau des Sozialstaats rüttelt damit nicht nur an der sozialen Absicherung der Arbeitnehmer, sondern im gleichen Umfang an der institutionellen Verankerung der Gewerkschaften. Die Gewerkschaften haben ein Eigeninteresse am Erhalt dieser Strukturen - ob sie sinnvoll sind oder nicht. Wäre es nicht zu viel verlangt, wenn man gerade von den Gewerkschaften erwartet, erworbene Mitspracherechte freiwillig zur Disposition zu stellen? Zumal dann, wenn alle anderen Interessenverbände - etwa die Kassenärztlichen Vereinigungen und die Handwerkskammern - ihre ebenso modernisierungsbedürftigen Machtpositionen bei der Regulierung und Beschränkung der ihnen zugeordneten Märkte ungeniert mit allen Mitteln verteidigen?

Allerdings unterscheiden sich die Gewerkschaften von den Kammern und Verbänden darin, dass sie eine besondere Verantwortung tragen, und zwar sowohl für die Lebenschancen der Arbeitnehmer als auch für die Partei und die von ihr gestellte Bundesregierung. Die Gewerkschaften haben eine rechtlich privilegierte Position auf dem Arbeitsmarkt, die sie nur legitimieren können, wenn sie eine dem Gemeinwohl - und zwar dem Gemeinwohl aller Arbeitsuchenden - zuträgliche Rolle spielen. Zudem sind sie über die vielen Mitglieder und Funktionäre der SPD, die zugleich auch Gewerkschaftsmitglied sind, beziehungsweise über die DGB-Funktionäre, die zugleich hohe Ämter in der Partei haben, viel enger mit der Partei verwoben als andere Verbände. Und schließlich ist das Schicksal der Arbeitnehmer traditionell die zentrale politische Identifikation von Partei und Gewerkschaften. Aufgrund der engen Verflechtungen wurde die offene Frage, welche Rolle die Gewerkschaften in einem modernisierten Wohlfahrtsstaat zukünftig spielen werden und sollen, unter anderer Flagge - nämlich jener der sozialen Gerechtigkeit - unmittelbar in die Partei getragen und konnte dort größeren Schaden anrichten.

Gefangen in der Negativspirale

Was tun? Zunächst können der SPD die Lage und die Interessen der Gewerkschaften nicht gleichgültig sein. Zu sehr ist die Partei der Arbeiterbewegung historisch und personell verbunden. Es gibt auch heute noch das Milieu der Arbeitertradition, wo ganze Ortsvereine der SPD zugleich der Gewerkschaft angehören. Diese Ortsvereine organisieren die Wahlkämpfe auf der Straße. Der Konflikt mit den Gewerkschaften belastet sie enorm. Nicht die Gruppen der neuen Mitte, sondern die alten gewerkschaftlich orientierten Parteisoldaten tragen trotz aller Enttäuschung die Fahne der Partei. Gleichzeitig können die Gewerkschaften kaum auf ihre besonderen Beziehungen zur Partei verzichten. Die Hauptverbündeten der Gewerkschaften auf der politischen Bühne sitzen in erster Linie in der SPD-Bundestagsfraktion. Zerbricht diese Achse, werden auch alle anderen Parteien ihr Interesse an den Gewerkschaften weiter verlieren.

Die negativen Folgen der bestehenden Spannungen sind auf beiden Seiten zu beobachten. Enttäuschte SPD-Mitglieder werden durch die Kritik der Gewerkschaften an der Agenda 2010 in ihrem Austrittswillen bestärkt. Viele der Zehntausende Genossen, welche die SPD allein im Jahr 2003 verließen, stammten aus den Hochburgen des sozialdemokratisch-gewerkschaftlichen Milieus. Doch bei den Kollegen sieht es keineswegs besser aus: Ende 2003 hatte der DGB noch knapp 7,3 Millionen Mitglieder - ein Rückgang von 400.000 allein im Jahr 2003. Seit 1990 haben die Gewerkschaften fast vier Millionen Mitglieder verloren. Die Distanz der Partei gegenüber den Gewerkschaften und der Vorwurf der Blockadepolitik fördert auch deren Mitgliederschwund.

Für beide Seiten ist die gegenwärtige Konfliktlage daher schädlich, zumal sich - allen Modernisierungsbestrebungen der neunziger Jahre zum Trotz - weder eine neue moderne Sozialdemokratie noch ein neuer Typ Gewerkschaften entwickelt hat. Während sich die Beziehungen zwischen Sozialdemokratie und Gewerkschaften in allen europäischen Ländern lockern, gibt es kein Modell einer modernen sozialdemokratischen Partei, die ohne die Unterstützung der Gewerkschaften erfolgreich wäre. Gleichzeitig gibt es keine erfolgreichen Gewerkschaften ohne eine mehr oder weniger starke Bindung an politische Parteien. Selbst in Großbritannien ist die Labour Partei in ihrer angespannten finanziellen Situation heute mehr denn je von den finanziellen Zuwendungen der Gewerkschaften abhängig und hat es nicht vermocht, die institutionalisierten Stimmrechte der Gewerkschaften auf den Parteitagen gänzlich abzuschaffen.

Neue Aufgaben für alte Organisationen

Doch gerade weil die Reformpolitik auch Eigeninteressen der Gewerkschaften berührt, der Interessenkonflikt damit offensichtlich ist und beide Seiten mittelfristig nicht ohne einander erfolgreich sein können, müssen neue Wege der institutionellen Unterstützung der Gewerkschaften gefunden werden, ohne die Reformen zu behindern. In einem modernisierten Sozialstaat, der auch in seinen Selbstverwaltungsstrukturen langfristig verschlankt werden muss, brauchen Gewerkschaften neue Betätigungsfelder und Organisationsformen.

Gefragt sind somit Hilfestellungen für eine positive Neudefinition gewerkschaftlicher Aufgaben in einem modernisierten Wohlfahrtsstaat. Davon gibt es prinzipiell viele, wenn die Gewerkschaften und die SPD nur dazu bereit sind, einen Beitrag zur Modernisierung des Sozialstaats zu leisten. Sozialdemokratie und Gewerkschaften könnten gemeinsam ein Signal zur Reduzierung der Frühverrentung geben und mit Arbeitgebern und Bundesregierung einen sichtbaren Aufbruch bei der Beschäftigung älterer Arbeitnehmer unternehmen. Sie könnten die weitgehende Wirkungslosigkeit vieler Beschäftigungsmaßnahmen zugeben und alternative Wege der Aktivierung beschreiten. Sie könnten den Zusammenhang von Langzeitarbeitslosigkeit, Frühverrentung und betrieblicher Personalpolitik offen thematisieren.

Selbstkritik und Offensive

Beiden Seiten käme erstens die Aufgabe zu, gegenüber der eigenen Basis offensiv zu vertreten, dass Frühverrentung und Beschäftigungsprogramme keine sinnvollen Instrumente mehr sind, auch wenn es derzeit über vier Millionen Arbeitslose gibt. Die Gewerkschaften verweisen noch immer zu leichtfertig auf den Arbeitsmarkt, um den Abbau der Frühverrentung zu verzögern. Sie geben dabei nicht zu, dass ein großer Teil der Arbeitslosigkeit unter den über 55-Jährigen darauf zurückzuführen ist, dass eine Phase der Arbeitslosigkeit fest eingeplanter Bestandteil der meisten Frühverrentungsprogramme ist und zugleich niemand von älteren Arbeitslosen ernsthaft erwartet, jemals wieder einen Arbeitsplatz anzutreten.

Beide Seiten könnten zweitens Maßnahmen zu einer weiteren Reduzierung von Lohnnebenkosten entwickeln und den Umbau zur Steuerfinanzierung von sozialer Sicherung aktiver und umfassender unterstützen. Ansätze zu offensiverem Denken bei den Gewerkschaften gibt es bereits - wie etwa das Freibetragsmodell des DGB zur Senkung der Lohnnebenkosten, das sich besonders für gering entlohnte Tätigkeiten auswirkt. Diese Ansätze müssen systematischer und selbstkritischer mit den notwendigen Strukturreformen und der Rolle der Selbstverwaltung darin verbunden werden. Die Gewerkschaften könnten selbstständig über ihre Rolle in der sozialen Sicherung reflektieren, ohne die Bedeutung der paritätischen Finanzierung und der Selbstverwaltung zu beteuern.

SPD und Gewerkschaften könnten sich drittens mit dem Verhältnis von Durchlässigkeit und Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt beschäftigen. Mini-Jobs und befristete Arbeitsverhältnisse sind Ausdruck eines unflexiblen, undurchlässigen Arbeitsmarktes. In Spanien lässt sich studieren, wie starke Arbeitnehmerrechte für fest angestellte Arbeitnehmer mit hoher Arbeitslosigkeit und vielen prekären Beschäftigungs-verhältnissen für Jüngere und Frauen einhergehen. Den Preis für ein rigides Arbeitsrecht bezahlen heute nicht mehr die Unternehmen, sondern die bereits benachteiligten Arbeitnehmergruppen auf dem Arbeitsmarkt.

Wo die Zukunft der Gewerkschaften liegt

Im Gegenzug könnte die Bundesregierung zum Beispiel die Gewerkschaften in weitere Reformschritte aktiv einbeziehen. Man könnte sie gemeinsam mit den Industrie- und Handelskammern mit der Reform der Regulierung der beruflichen Bildung betrauen, die sich zurzeit in einer Vielzahl von Bildungsausschüssen verliert. Man könnte ihnen die Expertise zur Arbeitszeitregulierung selbständig überlassen. Die Bundesregierung könnte Tarifpolitik und Mitbestimmung wieder aus Überzeugung in die vorrangige Verantwortung der Gewerkschaften übergeben und sie nicht mehr - wie im vergangenen Winter - als Verhandlungsmasse in Verfahren im Vermittlungsausschuss gegenüber der Opposition instrumentalisieren.

Letztlich müsste die Rollenverteilung zwischen Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik auf der einen und Tarifpolitik auf der anderen Seite wieder klarer definiert werden. Während sich die Selbstverwaltung in der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik aufgrund der zunehmenden Steuerfinanzierung und der geringeren gewerkschaftlichen Bindung der Arbeitnehmer immer weiter überlebt, gibt es in der Tarifpolitik genuine Zuständigkeiten der Gewerkschaften, die erhalten und vielleicht sogar verstärkt werden sollten. Dazu gehört selbstverständlich die Regulierung von Lohn und Arbeitszeit. Ein gesetzlicher Mindestlohn würde dem Flächentarifvertrag das Genick brechen.

Ohne Einsicht keine Heilung

Aber darüber hinaus greift die Politik immer dann auf tarifvertragliche Lösungen in der Sozialpolitik zurück, wenn sie Verantwortung abgeben will. Zum Beispiel hat sich die Bundesregierung sehr erfreut über die tarifliche Regulierung der Riesterrente in einigen Sektoren gezeigt. Und sie setzt auf eine tariflich vereinbarte Ausbildungsplatzumlage, um eine gesetzliche Lösung zu vermeiden. Die tarifvertraglich basierten Zusatzrenten wie die Metall-Rente sind damit ein gutes Beispiel dafür, wie sich die sozialpolitische Rolle der Gewerkschaften positiv verändern kann. Diese neuen Funktionen sollten es den Gewerkschaften langfristig erlauben, alte und überkommene Funktionen in der Selbstverwaltung abgeben zu können.

Ein konstruktives Verhältnis zwischen SPD und Gewerkschaften müsste bei dem Eingeständnis beginnen, voneinander abhängig zu sein. Diese Abhängigkeit kann nicht arbeitsteilig auf den SPD-Vorsitzenden übertragen werden, um den Kanzler zu entlasten. Auch wenn es den Kanzler schmerzt: Auch er braucht ver.di und IG Metall ebenso wie IG BCE und DGB. Das bedeutet nicht, dass er von dem überfälligen und notwendigen Modernisierungskurs in der Sozialpolitik abrücken sollte, nur weil dieser den Vorsitzenden der Gewerkschaften missfällt. Aber es erfordert einen um- und weitsichtigeren Umgang mit ihren Interessen.

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