Auf dem Weg zur Milieupartei

Personelle Erneuerung und Oppositionskurs sind zu wenig. Führt die Sozialdemokratie nicht endlich eine fundamentale Debatte über ihren Ort und ihre Aufgabe unter radikal veränderten Bedingungen, dann ist ihr Niedergang besiegelt

Bei schweren Niederlagen kommen stets mehrere Faktoren zusammen. Das war beim Debakel der SPD am 24. September nicht anders. Taktische und strategische Probleme haben sich auf fatale Weise summiert: Erst hat man kein Glück – und dann kommt auch noch Pech hinzu.

Die Schwierigkeiten des Wahlkampfs sollen jedoch besser andere analysieren, die näher dran waren. Aus der Ferne wirkte es, als hätte die Kampagne keinen Biss gehabt, als wäre die SPD ohne Angriffslust gewesen – und voller Angst vor den Themen, die die Gesellschaft wirklich umtreiben. Eine Kampagne für die nächste Große Koalition: Nur kein Porzellan zerschlagen. Und keinesfalls den Wähler fragen. Dieser könnte ja ein „Wutbürger“ sein.

Aber wie gesagt: Das waren taktische Defizite. Das Ausmaß der Niederlage lässt sich auf diese Weise sicher nicht erklären. Außerdem haben auch die übrigen Parteien keine großartigen Wahlkämpfe abgeliefert. Entscheidend ist etwas anderes, sehr viel Strukturelleres: die wachsende Entfremdung zwischen der SPD und wichtigen Stammwählermilieus der Partei. Die deutsche Sozialdemokratie steht mit dieser Entwicklung keineswegs allein da. Im Gegenteil: In anderen Ländern – etwa Frankreich und den Niederlanden – ist diese Entwicklung noch viel weiter fortgeschritten. Aber im Allgemeinen tritt das Phänomen überall ähnlich auf: Die linke Mitte Europas erreicht die sozial schwachen Milieus zunehmend weniger.

Die Konfliktlinien haben sich verschoben

Im Kern liegt das daran, dass die linke Mitte bis heute nicht akzeptieren will, was Politikwissenschaft und Sozialforschung seit geraumer Zeit konstatieren: dass sich die zentralen gesellschaftlichen Konfliktlinien (wieder einmal) geändert haben. Nicht nur das 19. Jahrhundert ist vorbei, sondern das 20. Jahrhundert seit einer ganzen Weile auch. Die definierenden Grundkonflikte dieser Epoche waren zunächst materieller Natur: Verteilungskonflikte innerhalb nationalstaatlicher Ökonomien und die Frage nach dem Ausmaß des Sozialstaats. In den vergangenen Jahrzehnten kamen Fragen gesellschaftlicher Liberalisierung hinzu. Der Grundkonflikt des globalisierten Kapitalismus des 21. Jahrhunderts ist aber ein anderer: Es geht um die Frage von Offenheit versus Souveränität, um transnationale Entgrenzung versus Bewahrung demokratischer nationalstaatlicher Schutz- und Gestaltungsräume. Und, in Zeiten globaler Massenmigration: um Fragen kultureller Identität und Heimat.

Selbstverständlich steckt auch in diesem Konflikt eine materielle Dimension: Die entfesselte Mobilität von Arbeitskräften, Waren und Kapital im globalisierten Kapitalismus (vor allem aber in der von Binnengrenzen völlig befreiten EU) hat gravierende Auswirkungen auf das Kräfteverhältnis von Kapital und Arbeit, auf die Verhandlungspositionen gesamter Belegschaften wie einzelner Arbeitnehmer. Eine Konsequenz ist die enorme Verschiebung der Einkommensverteilung zwischen Kapital und Arbeit in der westlichen Welt, ebenso wie die sich abzeichnende Überforderung der europäischen Sozialstaaten.

Zwischen den »Anywheres« und den »Somewheres«

Der britische Publizist David Goodhart hat diesen Konflikt vermutlich auf die griffigste Formel gebracht. Er beschreibt ihn in seinem neuen Buch als Interessenkonflikt zwischen den „Anywheres“ und den „Somewheres“. Die Anywheres sind die gebildeten, mobilen Eliten, die aufgrund ihres Geld-, Bildungs- und Sozialkapitals überall, also anywhere, reüssieren können. Die Somewheres sind die Durchschnittsbevölkerung, die „Normalos“, die nur über begrenzte Ressourcen verfügen, auf lokale und familiäre Netzwerke angewiesen sind und die sich mit ihrer vertrauten Lebenswelt – somewhere – verbunden fühlen.

Das Wählermilieu der historischen Sozialdemokratie waren immer überwiegend Somewheres. Und diese fühlen sich in ihren Interessen von der linken Mitte immer weniger vertreten. Denn in diesem Konflikt befindet sich die linke Mitte nicht auf der Seite der Schwachen, sondern auf der Seite der Starken, der Besitz-, Bildungs- und Funktionseliten. Sie steht nicht (mehr) für den demokratischen Nationalstaat als Schutz- und Gestaltungsraum, als Kernpunkt von kultureller Identität und Bürgersinn, sondern für die weitgehend uneingeschränkte Mobilität von Kapital, Arbeitskräften und Waren, für eine „glückliche Globalisierung“ (François Hollande), für Einwanderung und Multikulturalismus.

Nur relativ wenige Somewheres können diese Begeisterung teilen. Und so schrumpft der Stimmanteil der linken Mitte in weiten Teilen der westlichen Welt. Selbst gegen substanzlose politische Fliegengewichte wie „The Donald“ können Wahlen nicht mehr gewonnen werden, weil die Arbeiterklasse (beziehungsweise das, was von ihr übrig geblieben ist) ihr Kreuz bei den Anderen macht.

Vor vier Jahren, nach dem Wahlkampf von Peer Steinbrück, habe ich in der Berliner Republik davor gewarnt, dass der SPD bundesweit „bayerische Verhältnisse“ drohen würden, sollte sie es nicht endlich schaffen, ein positiveres Verhältnis zu Land und Leuten zu entwickeln. Es ist genau so gekommen, heute stehen wir tatsächlich bei 20 Prozent. Wie andere europäische Parteien der linken Mitte sitzt auch die SPD mittlerweile zwischen allen Stühlen: Die Wähler, die sie vertreten möchte, bekommt sie nicht. Und die, die sie bekommen kann, will sie nicht vertreten. Das Ergebnis ist, wie Michael Micus es kürzlich treffend in der taz formulierte, „eine Weder-noch-Partei, die in kein Milieu mehr so richtig ausstrahlt und daher auch keine Bindewirkung mehr entfaltet“.

Nach den Zahlen, die mir bekannt sind, spaltet sich auch die deutsche Gesellschaft ziemlich genau in 50 Prozent Anywheres und 50 Prozent Somewheres. Und praktisch alle etablierten Parteien, einschließlich Merkels CDU, vertreten ideologisch und programmatisch die erste Hälfte der Bevölkerung, während sich um die zweite eigentlich nur noch die CSU und die AfD bemühen. Das ist extrem gefährlich: für das Land, aber auch für die SPD, die einmal die natürliche Partei dieser Menschen war. Die Sozialdemokratie hat auf dieses Dilemma auch deswegen keine Antwort, weil sie, so mein Eindruck, die Veränderung der politischen Gefechtslage noch nicht einmal intellektuell an sich heran lässt.

In dieser Hinsicht war der jüngste Wahlkampf ein gutes Beispiel: Seit Beginn der Flüchtlingskrise waren die sich entlang der Öffnungs-/Geschlossenheits-Achse aufbauenden Spannungen für jeden, der Augen und Ohren hatte, mit Händen zu greifen. Dennoch führte die SPD einen Wahlkampf, der thematisch eher an die siebziger Jahre erinnerte, als die Welt der Sozialdemokratie noch in Ordnung war und „mehr Sozialstaat“ die richtige Antwort auf so ungefähr alle politischen Fragen zu sein schien.

Die Sehnsucht nach Sicherheit wächst

Das Elend der europäischen Sozialdemokratie besteht darin, dass sie weder ein Sensorium für die Bedeutung soziokultureller Fragen hat, noch über einen politökonomischen Kompass verfügt, der ihr erlauben würde, die materiellen und sozialen Konsequenzen ihrer universalistischen Politikvorschläge zu Ende zu denken. Dabei ist es keineswegs so, dass Fragen der Verteilungsgerechtigkeit, der Würde der Arbeit, der Gestaltung der technologischen Umbrüche, der Selbstbestimmung und Geschlechtergerechtigkeit heute nicht von größter Aktualität wären. Vielleicht stellen sie sich heute sogar – Stichwort Digitalisierung, Plattform-Ökonomie, Click-Working – mit einer neuen Schärfe. Hier hätte auf der Ebene der Sachpolitik selbst eine politökonomisch denkfaule linke Mitte in der Regel mehr anzubieten als die politische Rechte (zumal in Deutschland, wo in den vergangenen vier Jahren in SPD-geführten Ministerien exzellente Arbeit zu diesen Themen geleistet wurde).

Aber diese Probleme werden für viele Menschen überlagert von einer noch größeren Sorge: um den Verlust von Identität und Lebenswelt und die Angst vor einer verschärften Konkurrenz um Lohn, Jobs, Wohnraum und Sozialleistungen in einem Kontinent ohne Grenzen. Solange die linke Mitte sich hier nicht bewegt, wird sie für die Somewheres immer weniger wählbar sein, wird sich das Potenzial der anderen Themen an der Wahlurne nicht entfalten können.

Um aus dieser Falle herauszukommen, genügt weder ein personeller Neuanfang noch der Gang in die Opposition. Es bedürfte einer grundlegenden Debatte darüber, welche sozialen Milieus die Sozialdemokratie eigentlich vertreten will, und mit welchen Politiken sie ihrem Anspruch, „Schutzmacht der kleinen Leute“ zu sein, tatsächlich gerecht wird.

Das ist ein steiniger Weg und ich habe meine Zweifel, dass weite Teile der verbliebenen Mitglieder und Funktionäre ihn gehen wollen. Aber ohne diese Kehrtwende ist der Abstieg von der Volks- zur reinen Milieupartei kaum aufzuhalten. Wie tief man auf diesem Weg fallen kann, hat der 24. September 2017 nur angedeutet. Die Niederlande und Frankreich sind hier schon weiter.

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