Auf das alte Europa wartet niemand

Europas Sozialdemokraten sollten sich vor Augen führen, dass die "sozialdemokratische Idee" im 21. Jahrhundert keineswegs selbstverständlich ist

Für Sozialdemokraten bedeutet die Finanzkrise ein grausames Paradox: War es nicht der „neoliberale“ Glaube an Deregulierung und Privatisierung, der die Geldblase erst entstehen ließ? Und sollte die Konsequenz daraus nicht eine verstärkte Hinwendung zu „klassischen“ sozialdemokratischen Anliegen und somit auch Parteien sein? Jedoch: In (fast) ganz Europa waren die Wähler anscheinend nicht gewillt, diese vermeindlich logische Schlussfolgerung zu ziehen. Im Gegenteil: Nicht nur die Banken brachen zusammen, sondern auch die Linke!

Die Europawahl im Juni 2009 konnte eigentlich nicht deutlicher ausfallen: Egal ob in der Regierung oder in der Opposition – in 21 von 27 Ländern wurden die Parteien der linken Mitte auf den zweiten oder sogar dritten Rang verdrängt. Doch darin nur eine Abstrafung für verfehlte Politik der vergangenen Jahre zu sehen, greift viel zu kurz. Schaut man genauer hin, wird klar, dass sozialdemokratische Angebote eigentlich seit weit über einer Dekade nicht mehr richtig goutiert werden, ob in Frankreich oder den Niederlanden, in Dänemark oder Schweden – und auch in Deutschland. Zweifellos: Der Grund für die Misere liegt wesentlich tiefer.

Verloren in der Vielfalt der Biografien?


Stichworte für die strukturellen Probleme der europäischen Sozialdemokratie lauten: Rückgang der organisierten Mitgliedervereinigungen, insbesondere der Gewerkschaften, sowie der klassischen Arbeitsplätze in den Industriebetrieben; die Polarisierung des politischen Raums durch das Hinzukommen von populistischen Bewegungen beziehungsweise Parteien; und die Entwicklung hin zu einer zunehmenden Individualisierung gepaart mit einer größeren Vielfalt an Interessen, Religionen, Lebensvorstellungen oder, allgemein gesagt, Biografien. Daneben werden zurzeit drei übergreifende Erklärungsmuster herangezogen.

Erstens: Seit dem Ende des vorigen Jahrunderts sei der Hauptauftrag der Sozialdemokratie erfüllt, einen permanten Ausgleich zwischen Kapital und Arbeit, zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern zu finden. Letztlich spiegelt sich dieser Grundgedanke in dem Konzept der „sozialen Markwirtschaft“ wider und wird von allen maßgeblichen Parteien des europäischen Kontinents geteilt, ungeachtet ihrer unterschiedlichen Schwerpunkte und Deutungen. Demzufolge gebe es keine spezifische sozialdemokratische Politik mehr, die als Alleinstellungmerkmal dienen kann. Die Reaktionen von Angela Merkel, Nicolas Sarkozy et alii auf die Krise waren nur das letzte Kapitel.

Zweitens: Mit der Öffnung der Welt nach dem Ende des Kalten Krieges seien die Instrumente sozialdemokratischen Handelns weitgehend unzulänglich geworden. Eine auf nationale Umverteilung ausgerichtete Politik, die sich hauptsächlich die (materielle) Besserstellung der benachteiligten Klassen zum Ziel gesetzt hat, sei im Zeitalter der Internationalisierung und des weltweiten technischen Fortschritts an seine Grenzen gestoßen. Der ehemals transformative Charakter der Sozialdemokratie wurde denmnach von einer rein defensiven und protektionistischen Haltung abgelöst. Trotz beträchtlicher Erfolge, allerdings unter großen Anstrengungen, führe die europäische Sozialdemokratie somit einen aussichtlosen Kampf gegen unausweichliche Veränderungen in unserer Ökonomie und Gesellschaft.

Drittens: Der erarbeitete Wohlstand in den westlichen Demokratien habe es ermöglicht, dass sich immer mehr Bürger den kollektiven Angeboten entziehen können (und dies auch fleißig tun). Deshalb würden Erwartunghaltungen, Anspruchsdenken und staatliches Angebot immer weiter auseinderdriften. Gleichzeitig werde die Kluft zwischen persönlichem Wohlbefinden (meistens positiv bewertet) und der Einschätzung über die gesellschaftliche Entwicklung (oft pessimistisch oder negativ eingestuft) immer breiter. Beides lasse die sozialdemokratische Identität, die im Kollektivismus immer noch eine ihrer wichtigsten Stützen hat, weiter erodieren.

Was auch immer an diesen Erklärungsversuchen richtig ist, die derzeitige Malaise der europäischen Sozialdemokratie lässt sich nicht durch bloße taktische Neupositionierungen, einseitige Schuldzuweisungen oder kurzfristige Korrekturen am Politikangebot in den Griff bekommen. Vielmehr bedarf es einer ernsthaften Auseinandersetzung mit der Einsicht, dass die „sozialdemokratische Idee“ im 21. Jahrhundert eben doch nicht selbstverständlich ist.

In ihrem Kern umfasst diese Idee vor allem zweierlei: Zum einen den Glauben an die Fähigkeit eines aktiven (nicht großen!) Staates, der eine Gesellschaft selbstbestimmter Bürger schafft beziehungsweise garantiert, indem er Ungerechtigkeiten Einhalt gebietet sowie Ungleichheiten auf ein verträgliches Maß reduziert. Dieser moralische Kompass ist immer noch die wichtigste Antriebskraft für jedes politische Mitte-links-Projekt. Zum anderen verkörpert die sozialdemokratische Idee Hoffnung und Optimismus, wodurch sie glaubhaft die Vorstellung vermitteln kann, dass die partikularen Interessen und Bestrebungen von verschiedenen sozialen Gruppen mit dem Gemeinwohl in Einklang zu bringen sind. Diese Fähigkeit bot der Sozialdemokratie letzten Endes immer auch eine Machtperspektive im politischen Alltag.

Es wenden sich die ab, die etwas bewegen wollen

Wohlgemerkt sind dies zwei Seiten derselben Medaille. Jedoch haben die meisten sozialdemokratischen Parteien in Europa sowohl hier als auch da versagt: In vielen westeuropäischen Ländern hat die Ungleichheit eher zu- als abgenommen. Die soziale Mobilität hat sich, wenn überhaupt, noch verschlechtert, und benachteiligte soziale Gruppen, besonders Einwanderer, stehen heute praktisch ohne Perpektive da. Gleichzeitig herrscht ein Diskurs der Abgrenzung, der Rückwärtsgewandheit, der Verschlossenheit, der Furcht vor der Zukunft: Nicht überraschend wenden sich heute vor allem diejenigen von den etablierten sozialdemokratischen Parteien ab, die etwas bewegen wollen: die Jungen, die Arbeitslosen oder die Selbständigen.

Der Weg zurück zu selbstbewussten Volksparteien wird kein Selbstläufer. Darüber sollten wir uns mittlerweile im Klaren sein. Auch werden die Wege dorthin sich nicht aus den politischen Konzepten und Einsichten des 20. Jahrhunderts ergeben. Stattdessen brauchen wir Systemveränderungen, etwa auf dem Arbeitsmarkt oder im Gesundheitswesen, um einerseits der internationalen Wettbewerbsfähigkeit, der steigenden Arbeitslosigkeit oder dem demografischen Wandel gerecht zu werden, und um andererseits der großen Mehrheit der mitdenkenden Bürger ein positives Angebot zu machen. Auf das „alte Europa“ wartet sicherlich niemand.

Genau diese Systemveränderungen muss die Sozialdemokratie jetzt offensiv definieren. Darin liegt die Zukunft. Und genau darin liegt auch die Tragik der Hartz-Reformen, um nur ein Beispiel zu nennen: Sie waren der erste richtige Schritt weg vom alten System, wurden aber schlecht in die Tat umgesetzt und intellektuell nicht eingebettet in ein verständliches Konzept. Das nächste Mal muss es also besser klappen. Sonst kann die Sozialdemokratie weder für Fortschritt noch für Hoffnung stehen. «

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