Ans postmaterielle Paradies glaubt niemand mehr - wie grün ist die Berliner Republik?



Die Berliner Republik, wenn es sie denn gibt, ist bislang nicht schwarz-grün geworden. Und sie wird es wohl auch noch geraume Zeit nicht werden, weil die Prägekraft der politischen Lager stärker ist, als dies im Spätherbst der Bonner Republik gern behauptet wurde. Dass die Grünen auch in der Berliner Republik ihr Lager nicht verlassen haben, sieht man von Bündnissen auf kommunaler Ebene einmal ab, hängt auch mit der neuen sozialen Frage zusammen, die in der Wissensgesellschaft im Kern die Frage nach Teilhabe an Bildung, nach gleichen Bildungschancen ist. Und in dieser Frage gibt es – deutlicher vielleicht als in anderen Politikfeldern – noch linke und konservative Antworten. Die Grünen haben sich auch nach dem Regierungsumzug entschieden, nicht eine flexible Funktionspartei zu werden, sondern sie haben sich an die Seite der SPD gestellt – deutlicher als manche es gewünscht haben. Sie sind auch keine grüne FDP geworden.

Ein Risikofaktor sind die Grünen nicht mehr

Die Grünen sind heute ein verlässlicher, in vielen Fragen kleinlauter Koalitionspartner. Die Zeiten sind vorbei, in denen der Kosovo-Einsatz die Partei zu spalten drohte. Der Risikofaktor für die Stabilität von Rot-Grün, der sie einmal waren, sind die Grünen beileibe nicht mehr. Vor allem durch den Konflikt über den Kosovo-Einsatz und den Bielefelder Parteitag sind sie in der Berliner Republik als Regierungspartei vollkommen satisfaktionsfähig geworden. Noch im März 1998 lehnte ein grüner Parteitag einen Antrag ab, in dem ein Peace-keeping-Einsatz der Vereinten Nationen in Bosnien gefordert wurde. Im Mai 1999 befürwortete der Bielefelder Parteitag den Einsatz der Nato im Kosovo. Nimmt man also diese selbstbewußtere deutsche Außenpolitik als Kennzeichen der Berliner Republik, dann haben die Grünen ihr altbundesrepublikanisches Herkommen überwunden.


Für die Innenpolitik fällt ein Urteil weniger leicht: In der öffentlichen Diskussion über die Reformpolitik der Agenda 2010 haben die Grünen glücklich am Rande des Spielfelds gestanden, viele ihrer eigenen Themen (Atomausstieg, Einwanderungsgesetz, gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften, Agrarwende) haben sie für ihr Klientel zuverlässig durchgesetzt. Mit dem Etikett „Reformmotor“ konnten sie hausieren gehen, als die SPD und Bundeskanzler Schröder nochvon der „ruhigen Hand“ sprachen. Somit sind die Grünen gegenüber ihrer eigenen Geschichte auch in der Berliner Republik traditionalistischer geblieben, als man dies gegen Ende der neunziger Jahre erwarten konnte. Das liegt auch an ihrem heimlichen Vorsitzenden Joseph Fischer.

Partei der ökologisch korrekten Saab-Fahrer

Für die Grünen resultiert daraus ein Dilemma: Einerseits können sie ihr bürgerliches Potential, das sie, wie die Diskussion über Hartz IV gezeigt hat, als Partei der ökologisch korrekten Saab-Fahrer durchaus dauerhaft besitzen, nicht voll ausschöpfen; denn sie sind eben nicht wirtschaftsliberal genug, um weitere bürgerliche Schichten zu erreichen. Andererseits werden sie nicht auf ewig von den alten Milieus (vor allem in den Großstädten) leben können, die sie einst stark gemacht haben. So ist es ihnen nur begrenzt gelungen, weitere Wählerschichten an sich zu binden. Das ist vor allem in Ostdeutschland augenfällig, wo die Grünen erst seit kurzem wieder in einem Landtag sitzen. Bei jungen Wählern sind sie erfolgreich, aber bei neuen linken sozialen Bewegungen wie zum Beispiel Attac müssen sie um Anerkennung ringen. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass die programmatische Diskussion innerhalb der Partei zwei Jahre vor der nächsten Bundestagswahl derzeit wieder stärker betrieben wird: Denn der Spagat zwischen wirtschaftsliberaler Nachhaltigkeitspolitik und Klientelismus für grüne Wählergruppen, denen man postmaterielle Wohlfühlträume erfüllt, hat die Partei auch profillos gemacht.


Die Suche nach einem neuen Profil – nachzulesen neuerdings etwa in dem programmatischen Papier Links neu des grünen Netzwerks Realismus & Substanz – bewegt sich aber nicht mehr im alten Realo-Fundi-Schema, auch der ökologische Wirtschaftsliberalismus und ein ökologischer Etatismus sind nicht mehr die Pole dieser Diskussion. Selbst der Postmaterialismus stiftet keine programmatische Gemeinsamkeit mehr, und auch dem radikalen Pragmatismus wird nicht weiter das Wort geredet. Stattdessen werden wieder die harten Fragen der Verteilungsgerechtigkeit gestellt. Die Grünen emanzipieren sich also auch von ihrer eigenen Geschichtsteleologie und halten den postmateriellen Wertewandel für nicht mehr so wichtig für ihre eigene Programmatik wie noch in den neunziger Jahren. Weil sich soziale Schieflagen wieder stärker zeigen, weil der Begriff „Klassengesellschaft“ (wenn auch in neuer Bedeutung) wieder beginnt, eine Rolle zu spielen, sind für viele jüngere Grüne die ewigen schwarz-grünen Gedankenspiele gestrig geworden. In dem genannten Papier heißt es: „Die Welt – zu laut, zu bunt, zu schrill. So lautet das wertkonservative Lamento, das im ökologischen Gedanken einen vermeintlichen Verbündeten sucht. Gegen den Individualismus werden die undefinierbaren Begriffe von Gemeinwohl und Gemeinsinn angeführt, die in der konservativen Begriffsgeschichte keine Unbekannten sind. ... Im Übrigen fördert die Politik Solidarität nicht durch wertkonservative Verantwortungsappelle, sondern durch die aktive Gestaltung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in Bereichen wie dem Bildungssystem und der Arbeitswelt.“

Auch bei Grüns empfiehlt man Wachstum

Zugleich werden aus inhaltlichen und strategischen Gründen Koalitionen mit der Union abgelehnt: „Unsere Sorge im Moment ist, dass manche in der Partei mit Schwarz-Grün deshalb sympathisieren, weil sie eine weltanschauliche Gemeinsamkeit im Rahmen des Wertkonservativismus unterstellen oder sich einem blinden Pragmatismus verschrieben haben, bei dem Koalitionen nur noch den Charakter von Mehrheitsbeschaffung haben.“ Der Grund hierfür ist aber nicht eine Reideologisierung von links. Zum Beispiel wird ein weiteres Wirtschaftswachstum schon allein deshalb empfohlen, weil die Staatsverschuldung sonst weiter wachse und die demografische Krise an Brisanz gewinne.


Wer also glaubte, der Wille zu einer Koalition wertkonservativer Pragmatiker von Union und Grünen könnte zumindest ein Kennzeichen einer gegenüber dem politischen Experiment offeneren, weniger auf die alten politischen Lager fixierten Berliner Republik sein, der hat sich getäuscht. Allerdings nicht, weil die Grünen sich auf ihre linken Wurzeln besinnen, sonderndern weil sich in der Berliner Republik die Themen geändert haben und niemand mehr an das postmaterielle Paradies glaubt, in dem die Frage nach sozialer Gerechtigkeit nicht mehr gestellt werden muss und die politischen Lager sich auflösen. Ironischerweise könnten die Grünen mit einer so verstandenen programmatischen Wende auch den gesellschaftlichen Rückhalt wieder finden, den sie Ende der neunziger Jahre verloren haben.

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