Amerikas Hoffnung

Wer das Phänomen Obama verstehen will, sollte dessen bereits vor mehr als zehn Jahren verfasste Jugenderinnerungen lesen

Ein gutes Dutzend Bücher mit Titeln wie Der schwarze Kennedy oder From Promise to Power sind seit Barack Obamas legendärer Bostoner Parteitagsrede im Jahr 2004 über den Präsidentschaftsaspiranten erschienen. Er selbst fügte dieser Liste das bemerkenswerte Buch The Audacity of Hope („Hoffnung wagen“) hinzu, in dem er seine politische Agenda umreißt (siehe Berliner Republik 3/2007).

Warum ist angesichts dieser Fülle die erstmals 1995 unter dem Titel Dreams from My Father. A Story of Race and Inheritance erschienene Autobiografie besonders aufschlussreich? Obama war 34 Jahre alt, als er das Buch verfasste. Es klingt zunächst unwahrscheinlich, dass ein solches Frühwerk überhaupt genug interessanten Stoff bieten kann. Aber im Gegenteil! Die meisterhafte Darstellung seiner Herkunft und seines bewegten Lebens ist für Joe Klein, Kolumnist von Time, schlicht die „vielleicht beste Autobiografie eines amerikanischen Politikers überhaupt“. In der Tat zeigt das Werk einzigartig, wie Obamas Leitmotive Hoffnung, Versöhnung und ein anpackender Veränderungs- und Gestaltungswille in ihm gereift sind.

Der Reiz seines frühen Erstlingswerks beruht auch darauf, dass sich der Autor zum Zeitpunkt des Schreibens noch keine Gedanken über die Rezeption des Buches machen musste. Die Abwesenheit von politischem Kalkül und Vorsicht wird unter anderem in Obamas unverblümter Schilderung seines Drogengebrauchs in der Schulzeit deutlich. Als das Buch erschien, hatte der Autor lediglich als erster farbiger Herausgeber der renommierten Harvard Law Review ein wenig Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Der Verkauf des Bandes blieb bescheiden. Zum Bestseller wurde es erst viel später: als Obama zunehmend im politischen Rampenlicht stand. Die deutsche Übersetzung erscheint im Februar 2008.

Ein Nachsinnen über die Träume seines kenianischen Vaters sei das Buch, schreibt Obama in der Einleitung. Ausgangspunkt seiner Familiengeschichte ist der Tod seines Vaters, als Obama 21 Jahre alt war. Die Ehe seiner Eltern war alles andere als selbstverständlich in einer Zeit, als „Mischehen“ in einigen Bundesstaaten der Vereinigten Staaten noch verboten waren. Die Beziehung hielt jedoch nur zwei Jahre. Sein Vater verließ die Familie in Hawaii, als er ein Stipendium für die Harvard University bekam, wo auch Barack Obama später studierte. Er kennt seinen Vater also nur aus Briefen, von Erzählungen und einem einzigen kurzen Besuch, als er zehn Jahre alt war.

Deshalb ist er zunächst unfähig, über den Tod eines Mannes zu trauern, der ihm zwar Vorbild ist, aber stets flüchtig bleibt. Obamas Gedanken schweifen über seine eigenen Lebensstationen in Hawaii, Jakarta, New York und Chicago. Bei seinen Betrachtungen steht die eigene Identitätssuche als Sohn einer weißen Mutter aus Kansas und eines schwarzen Vaters aus Kenia im Mittelpunkt: „Ich hatte gelernt, sowohl in der weißen, als auch in der schwarzen Welt zu leben und war zur der Überzeugung gelangt, dass diese Welten mit ein wenig Verständigung schließlich zusammenwachsen könnten.“

Kindheit in Indonesien

Nach der Trennung von seinem Vater heiratet die Mutter einen Indonesier. Als Barack Obama sechs Jahre alt ist, zieht die Familie nach Jakarta, wo sie insgesamt vier Jahre in bescheidenen Verhältnissen lebt. Obama integriert sich schnell in das muslimische Entwicklungsland, lernt rasch Indonesisch und hat gute Erinnerungen an diese Zeit, in der er jedoch auch alltäglich mit Armut und Ungerechtigkeit konfrontiert ist. In einer Umwelt voller Gewalt und Korruption versucht seine Mutter mit ihrem „Peace Corps idealism“, dem Sohn die eigenen Werte beizubringen.

Mit zehn Jahren kehrt er zurück nach Hawaii und lebt bei seinen Großeltern. In der Schule legt er lange keinerlei Ehrgeiz an den Tag. Er lebt, wie er schreibt, die „Karikatur eines farbigen Jugendlichen“ zwischen Basketballplatz und Kiffen. Letztlich schließt er die Schule jedoch mit Auszeichnung ab, was ihm die Tore der Ivy-League-Universitäten öffnet, wo er seine akademische Ausbildung absolviert.

Nach den Reflexionen über diese Jahre begibt sich Obama auf eine Spurensuche, die ihn schließlich nach Kenia führt, wo er den ihm bislang unbekannten Teil der Familie kennenlernt. Dort erfährt er auch von den Schattenseiten seines Vaters, den er zuvor wegen der Berichte über dessen Begabung und Ausstrahlung idealisiert hatte. Schicht für Schicht rekonstruiert er das schillernde und widersprüchliche Leben seines Vaters. In der bewegenden Schlussszene des Buches steht er am väterlichen Grab und grübelt darüber nach, was er aus dessen Leben für Lehren ziehen kann.

Von der Wall Street ins Armenviertel

Der Vater, der als Kind Ziegen gehütet hatte, war mit einem Begabtenstipendium in die Vereinigten Staaten gekommen. Als Stolz der Familie kehrt er nach Kenia zurück. Dank seiner Bildung und Begabung arbeitet er zunächst erfolgreich als Ölmanager und dann – mit nicht weniger Erfolg – für die Regierung. Und doch enttäuscht er die Erwartungen, die in ihn gesetzt wurden. Er fällt bei der kenianischen Regierung in Ungnade, kann sich mit diesem Abstieg nicht arrangieren und stirbt schließlich verarmt, verbittert und alkoholabhängig.

Obama zitiert den amerikanischen Ex-Präsidenten Lyndon B. Johnson, der gesagt hat, jeder versuche, entweder die Erwartungen seines Vaters zu erfüllen oder dessen Fehler auszubügeln. Es ist Obamas Schicksal, dass er sich zu beidem verpflichtet fühlt. Der Vater konnte sein Potenzial nicht ausschöpfen und erreichte letztlich nichts Dauerhaftes. Deshalb will Obama kein Träumer sein, sondern jemand, der seinen Plänen Taten folgen lässt. Die Sorge, zu scheitern wie sein Vater, sitzt tief und ist vielleicht die Erklärung für seinen Antrieb und Durchsetzungswillen.

Diese Prägung wird auch in den Kapiteln über Obamas Jahre als Sozialarbeiter deutlich. Nach seinem Studium an der Eliteuniversität Columbia beginnt er zunächst als Analyst an der Wall Street, korrigiert diesen Weg aber bald. Obama beschreibt, wie er mit anpacken will, seine Vorstellungen einer besseren Gesellschaft durchzusetzen. Er zieht nach Chicago, das er als die am stärksten segregierte Stadt der Vereinigten Staaten bezeichnet, und beginnt seine Arbeit als community organizer mit einem Gehalt von nur 10.000 Dollar im Jahr. Die Lebensbedingungen einiger Menschen in den Armenvierteln der South Side unterscheiden sich dabei nicht wesentlich von denen, die er in seiner Kindheit in Jakarta gesehen hat.

Im aktuellen Wahlkampf wird Obama von seinen Gegnern vorgeworfen, er beherrsche zwar die Kunst der politischen Poesie, habe aber noch nicht bewiesen, dass er im Alltag auch zu politischer Prosa fähig sei. Wenngleich Obama längere Erfahrungen in Wahlämtern besitzt als Hillary Clinton, ist seine Vita als Parlamentarier in der Tat begrenzt. Vergleichbare „Fronterlebnisse“ an den Brennpunkten der sozial gespaltenen Gesellschaft kann jedoch keiner seiner Mitbewerber aufweisen.

In Obamas Zeit als Sozialarbeiter wurzelt auch seine kraftvolle Rhetorik. Die Sprache, die später seine phänomenalen Erfolg als Redner begründete, fand er damals in seiner Kirchengemeinde. Von hier stammt auch Obamas Leitmotiv von der „Audacity of Hope“: Dies war der Titel einer Predigt seines Mentors und Pastors Jeremiah Wright. Ausführlich reflektiert Obama in seinen Memoiren über diese für ihn prägende Predigt. Obamas heutige Reden wirken wie säkularisierte Variationen der Heilsverkündungen seines Pastors. Jonathan Raban, Experte für politische Rhetorik, schrieb kürzlich in der britischen Tageszeitung The Guardian, Obama gelinge es, Wrights Sprache der schwarzen Befreiungstheologie in eine Form zu gießen, die auch die weiße Mittelschichten anspreche.

Trotz des prägenden Einflusses der Kirche findet man übrigens keine Bigotterie bei Obama. Sein Großvater war Moslem; er selbst wuchs wie seine Eltern als Agnostiker auf und fand erst spät zum Glauben. In der Kirchengemeinde hatte er zunächst Anknüpfungspunkte für die Sozialarbeit gesucht – und erst dann Heimat und Orientierung für sein Leben gefunden. Seine Glaubensfindung lässt sich also eher rational als spirituell erklären. Angezogen fühlte sich Obama von der Fähigkeit Pastor Wrights, seiner Gemeinde ein sinnstiftendes Narrativ der Hoffnung zu vermitteln. Nicht auf naiven Optimismus habe Wright gesetzt, sondern auf die Kraft der ordinary people, gemeinsam anzupacken und etwas zu bewegen.

Seine Entscheidung, sich nach vier Jahren Sozialarbeit an der juristischen Fakultät der Harvard University zu bewerben, begründet Obama so: Um nachhaltig Veränderungen („change“) zu bewirken, müsse er das Handwerkszeug der Macht beherrschen, das er sodann wie das „Feuer des Prometheus“ nach Chicago zurückbringen will. Tatsächlich kehrt Obama nach seinem Studium als Bürgerrechtsanwalt in die Stadt zurück und wird politisch aktiv. Sein Leitmotiv vom „change“ ist das Zauberwort im Vorfeld des amerikanischen Präsidentschaftswahlkampfs geworden. Das Magazin Economist hat gezählt dass die Kontrahenten das Wort in einer einzigen Kandidatendebatte im Januar insgesamt 120 Mal benutzten – aber keiner verkörpert dieses Motiv so authentisch wie Obama.

Versöhnung und konstruktiver Idealismus

Ein beständiger Vorwurf gegen den heute 46-Jährigen lautet, er verfüge nicht über ausreichend Erfahrung. Man fragt sich: warum? Einen reicheren Erfahrungsschatz als jenen von Barack Obama kann man sich für einen Politiker in seiner Situation kaum wünschen. Die wichtigste Aufgabe des neuen Präsidenten der Vereinigten Staaten wird nach der Vereidigung im Januar 2009 sein, das tief gespaltene Amerika mit sich selbst zu versöhnen und die Reputation des Landes in der Welt wiederherzustellen. Wem könnte das besser gelingen als Barack Obama mit seiner inklusiven Botschaft und seinem multikulturellen, kosmopolitischen Hintergrund?

Aus der kritischen Reflexion der eigenen Vita sind bei Obama ein konstruktiver Idealismus und der Glaube an die prinzipielle Gestaltbarkeit der Gesellschaft erwachsen. Dies hat ihm den Schwung gegeben, ohne Hilfe von außen die Spitze der amerikanischen Politik zu erklimmen. Obama kennt die Vereinigten Staaten in allen ihren Facetten – New Yorks Wall Street, den Campus von Harvard, die Slums von Chicagos South Side. Er hat die soziale Spaltung Amerikas hautnah erlebt und an vorderster Front bekämpft. Er ist ebenso vertraut mit dem muslimischen Indonesien wie mit dem verarmten Kenia, zwei Staaten, die exemplarisch für die globalen Herausforderungen stehen. In einem weltweit desavouierten Land, dessen Gesellschaft am Ende der Ära Bush auseinandergedriftet ist wie noch nie, vertritt Barack Obama unverdrossen eine Botschaft der Versöhnung und der Hoffnung. Er steht für den Traum vom besseren Amerika.

Barack Obama, Ein amerikanischer Traum: Die Geschichte meiner Familie, München: Hanser Verlag 2008, 448 Seiten, 24,90 Euro

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