Abstinenz ist keine Option

Die SPD hat bei der Europawahl ein ernüchterndes Ergebnis eingefahren. Gerade jetzt sollten sich Sozialdemokraten jedoch nicht aus Enttäuschung dazu hinreißen lassen, das Thema Europa in den Wind zu schreiben

"Wie hältst Du es mit Europa?" - "Geht so", schien die Antwort der sozialdemokratischen Wählerschaft zu lauten, als am 7. Juni der rote Balken nicht weiter steigen wollte. Nicht an eine andere Partei, sondern vor allem an die Nichtwähler hatte die SPD Stimmen verloren - mehr als alle anderen Parteien. Das Versprechen eines Sozialen Europas lockte die Bürgerinnen und Bürger nicht hinter dem Ofen hervor. Zu abstrakt, zu abgehoben? Oder waren es doch wieder die äußeren Umstände, die Zweifel um Opel oder die Gestaltung der Wahlplakate?

Strategen und Aktivisten rätseln und mutmaßen über die Gründe, während sich im Europäischen Parlament und im Rat die Fortsetzung der Ära Barroso abzeichnet, die oszilliert zwischen liberalem Laisser-faire und opportunistischem Aktivismus nach dem Motto "Hauptsache, es steht EU-Kommission drauf".

 "Wir wollen in einem Deutschland leben, das sich seiner Aufgabe bewusst ist, für ein soziales Europa zu kämpfen", sagte Franz Müntefering auf dem Bundesparteitag der SPD. Eine bessere Zeit für eine europapolitische Offensive gab es lange nicht. Wer in der gegenwärtigen Wirtschaftskrise den Eindruck vermittelt, die Lösung läge in nationalen Alleingängen, verkennt die zentrale Lehre der vergangenen Monate: Nur gemeinsam mit unseren Nachbarstaaten und Partnern in der EU können wir eine stabile wirtschaftliche Entwicklung sichern. Und damit dies in einer verantwortlichen und nachhaltigen Weise geschieht, müssen wir jetzt beginnen, über die zukünftige Gestalt der europäischen Wirtschaft und Gesellschaft zu diskutieren. Die nötigen Antworten müssen wir nicht neu erfinden. Wir müssen sie aber formulieren, uns dazu bekennen und sie auch anderen vermitteln.

Es ist und bleibt unser Anspruch: Die SPD ist die Europapartei in Deutschland. Aber das Bewusstsein für das sozialdemokratische Projekt in Europa ist verloren gegangen. Es ist kaum noch etwas zu hören von der Idee, dass Europa mehr ist als die Verwirklichung der wirtschaftlichen Grundfreiheiten. Die Sozialdemokratie hat sich in eine Abwehrhaltung drängen lassen. In dieser Gemengelage wird  Europa häufig als Bedrohung, selten aber als Chance gesehen. Dass Wählerinnen und Wähler so nicht gerade an die Urne getrieben werden, liegt auf der Hand. Gleichwohl ging es bei der Abstimmung am 7. Juni 2009 nicht um die Frage "ob", sondern "wie" Europa gestaltet werden soll.

In Zeiten eines allgegenwärtigen "weichen Konservatismus" (compassionate conservatism), der inzwischen in der Mehrzahl von Europas Hauptstädten die Sozialdemokratie kopiert und untergraben hat, bedarf es einer klaren, kohärenten Aussage, wie die Alternative zum gegenwärtigen politischen Kurs aussehen kann.

Wie weiter nach der Lissabon-Strategie?

Im Jahr 2000 formulierte die damals mehrheitlich sozialdemokratische Spitze der EU auf dem Europäischen Rat von Lissabon eine solche Aussage mit der so genannten Lissabon-Strategie. Darin setzten sich die Staats- und Regierungschefs das Ziel, die EU bis 2010 zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen - einem Ziel, dessen hohe Ambition bald zum Stolperstein für eine ansonsten bemerkenswerte Vision einer gemeinsamen, koordinierten und kooperierenden wirtschafts- und sozialpolitischen Entwicklung der EU wurde. Heute, fast zehn Jahre später, nähern wir uns dem Ende der Lissabon-Strategie, und in Brüssel wird schon fleißig über die Ausrichtung einer zukünftigen gemeinsamen Strategie diskutiert.

Die Sozialdemokratie darf diese Debatte nicht verschlafen. Denn allen Unkenrufen zum Trotz hat sich die Lissabon-Strategie mit Berücksichtigung einiger Anpassungen und Abstriche im Großen und Ganzen als Richtschnur für viele der zentralen Entscheidungen der vergangenen Jahre erwiesen. Die zentralen Arbeitsmarktreformen zur Stabilisierung der sozialen Sicherungssysteme vor dem Hintergrund der demografischen Herausforderung, nicht nur in Deutschland, sowie die verschiedenen bildungs- und forschungspolitischen Initiativen und umweltpolitischen Maßnahmen in den Mitgliedsstaaten und von Seiten der EU aus den vergangenen Jahren beweisen, dass die Leitlinien und Empfehlungen der Lissabon-Strategie keineswegs im bürokratischen Dschungel versandet sind. Sie haben sich vielmehr im Dickicht dieses Dschungels fest eingebettet und ihre Wirkung nationalstaatlich entfaltet.

Wachstum ist kein Ziel an sich

Wie so häufig in der Geschichte der europäischen Politik lief die langfristige und komplexe Verwirklichung der Lissabon-Strategie dem kurzatmigen und ungeduldigen öffentlichen Interesse zuwider. Eine so langfristige politische Bindung an ein definiertes Ziel " über zehn Jahre " ist in der Politik ganz selten. Dennoch bietet die Lissabon-Strategie und ihre Nachfolgerin das einzig sinnvolle Instrument für eine wirtschafts- und sozialpolitische Koordinierung in der EU jenseits von Sonntagsreden und freundlichen Bitten. Diese Funktion erfüllt sie umso mehr, wenn wir uns dieses Instruments bewusst bedienen, es aufwerten und unsere Partner in den übrigen Mitgliedsstaaten der EU vom gemeinsamen Nutzen überzeugen.

Wenn nun die Diskussion über eine wirtschafts- und beschäftigungspolitische Strategie der EU nach 2010 eingeleitet wird, hören die meisten spätestens weg, sobald sie erfahren, dass daraus in den nächsten zwei Jahren keine unmittelbaren Gesetze folgen werden. Darin liegt der erste Fehler, den eine sozialdemokratische Europapolitik heute machen könnte. Denn diese Kurzsichtigkeit kann auf Dauer nicht gut gehen.

Wenn Europa Beispiel sein soll für das, was in der Welt insgesamt möglich sein kann, dann müssen wir dafür sorgen, dass es auf globaler Ebene mithält. Das europäische Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell zeichnet sich durch den untrennbaren Zusammenhang von wirtschaftlichem und sozialem Fortschritt und durch eine demokratische, rechtsstaatliche und die Menschenrechte achtende Ordnung aus, in der dieser Fortschritt stattfindet.

Die vor zehn Jahren im Rahmen der Lissabon-Strategie formulierte Zielsetzung von Wachstum, Wohlstand und Beschäftigung müssen wir angesichts unserer Erfahrungen überprüfen. Wachstum kann kein Ziel an sich sein. Es muss vielmehr ein Instrument zur Schaffung von Wohlstand und Beschäftigung sein. Neben der Wettbewerbsfähigkeit, die in der bisherigen Lissabon-Strategie im Zentrum der Aufmerksamkeit stand, müssen zukünftig die Qualität der Arbeit, ein hohes Beschäftigungsniveau, soziale Rechte, Umweltschutz und gesellschaftlicher Zusammenhalt eine bedeutendere Rolle spielen.

Zugleich hat sich gezeigt, dass die Lissabon-Strategie in einem ungeklärten Verhältnis stand zu anderen Zielen der EU und deshalb immer wieder unter die Räder geriet. Während die Lissabon-Strategie etwa hohe Bildungsausgaben forderte, betont der Wachstums- und Stabilitätspakt vor allem die Haushaltskonsolidierung.

Politische Prozesse müssen für die Menschen durchschaubar sein. Lange Zeit beruhte die Lissabon-Strategie auf einem komplexen System von Berichten und Empfehlungen, die Fortschritte der Mitgliedsstaaten in einzelnen Politikbereichen detailliert aufzählten und Verbesserungen anmahnten. Eine Phalanx von Indikatoren und Zielwerten verstellte den Blick auf das Wesentliche. Um diese Komplexität zu reduzieren, wurden viele der Berichtspflichten in der Zwischenzeit wieder abgeschafft. Eine zukünftige Strategie muss diese Entwicklung fortführen und fokussieren, sie muss transparenter und verständlicher gestaltet sein. Die unterschiedlichen Teilbereiche müssen anhand weniger Indikatoren betrachtet und im Zusammenhang gesehen werden. Es geht nicht um ein Mikromanagement der Wirtschafts- und Sozialpolitik in den Mitgliedsstaaten, sondern darum, Zusammenhänge zu erkennen und auf Entwicklungen mit grenzübergreifender Bedeutung gemeinsam zu reagieren.

In einzelnen Bereichen kann die neue Strategie durch konkretere Vereinbarungen unterfüttert werden. Ein sozialer Stabilitätspakt wäre eine solche Vereinbarung. Der Pakt würde als Ergänzung zum Wachstums- und Stabilitätspakt gemeinsame europäische Vorgaben für die nationalen Sozialleistungen und Bildungsausgaben enthalten, gemessen an der jeweiligen wirtschaftlichen Leistungskraft des jeweiligen Mitgliedsstaates. So könnte gegenseitiger Unterbietung im Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge ein Riegel vorgeschoben und zugleich ein Beitrag zur Qualität der öffentlichen Finanzen geleistet werden. Aus sozialdemokratischer Sicht muss es bei der gemeinsamen Strategie auch darum gehen, gemeinsame Standards zu schaffen. Deutschland ist in der EU beim Thema Mindestlöhne das Schlusslicht. Europa kann also - trotz unserer hohen Standards - dem sozialen Fortschritt auch in Deutschland dienen. Die Diskussion über die Post-Lissabon-Strategie bietet uns die Gelegenheit, unseren Vorschlag einer sozialen Fortschrittsklausel für das Primärrecht in der europäischen Politik zu verankern. Auch für die Entwicklung einer ökologischen Wirtschaftspolitik auf der Grundlage moderner Umwelttechnologien ist es sinnvoll, wenn die Mitgliedsstaaten der EU sich gemeinsame Ziele setzen
- die nicht jedes Land auf dem gleichen Wege erreichen muss, die zu erreichen es sich aber im eigenen Interesse verpflichtet.

Ohne Debatten gelingt Europa nicht

Wie schon bei der bestehenden Lissabon-Strategie werden die Mitgliedsstaaten selbst auch in Zukunft die zentralen Akteure in der Gestaltung und Umsetzung der neuen Strategie sein. Die Kompetenzen der Europäischen Union im Bereich der Bildung, der Sozial- und Beschäftigungspolitik sowie der Fiskalpolitik bleiben auch mit dem Vertrag von Lissabon begrenzt. Die EU-Kommission wird ihre Zuständigkeiten nicht aufgrund der Strategie erweitern können, dies wäre weder mit den Verträgen vereinbar, noch würden die Mitgliedsstaaten dies akzeptieren.

Damit die Strategie einen Beitrag zu einer verdichteten wirtschaftspolitischen Koordination leisten kann, müssen sich die nationalen Akteure die vereinbarten Ziele zu Eigen machen. Die Mitgliedsstaaten, ihre Regierungen und Parlamente, müssen selbst die Autorenschaft und die Verantwortung für den politischen und wirtschaftlichen Wandel übernehmen. Dieser Prozess beginnt jetzt und er erfordert, dass er Teil der politischen Willensbildung - der Domäne der Parteien - ist. Ebenso müssen gesellschaftliche und wirtschaftliche Akteure beteiligt werden. Denn die demokratische Legitimation und die gesellschaftliche Akzeptanz sind zentrale Qualitäten des europäischen Modells.

Die Erfahrung der vergangenen zehn Jahre hat gezeigt, dass durch den Vergleich von Reformansätzen und Ergebnissen, durch die Festlegung von Zielwerten und Indikatoren, mit denen der erreichte Stand gemessen wird, und durch den Austausch guter Erfahrungen, gegenseitiges Lernen möglich ist. Dieser Prozess, der als Offene Methode der Koordinierung bezeichnet wird, hat sich bewährt, muss aber in Zukunft besser genutzt werden. Gerade die nationalen Parlamente spielen dabei eine zentrale Rolle. Bei ihnen muss ein Bewusstsein, ja ein Interesse an dem länderübergreifenden Vergleich bestehen, bei dem es sich nicht um eine Bedrohung handelt, sondern um eine Gelegenheit, mögliche Schwächen oder vielleicht auch nur die Vollkommenheit des eigenen Systems zu erkennen. Aus deutscher Sicht sei hinzugefügt: Sozialer Fortschritt findet nicht nur dann statt, wenn er uns dient. Es ist mindestens ebenso in unserem Interesse, dass es in anderen Mitgliedsstaaten vorangeht.

Der Rückzug in die europapolitische Abstinenz ist für die deutsche Sozialdemokratie keine Option. Wir müssen Antworten auf die Frage nach der Gestaltung von Europas wirtschaftlicher, sozialer und gesellschaftlicher Zukunft bieten. Ein konkreter erster Schritt ist es, jetzt die Führerschaft zu übernehmen, um eine breite gesellschaftliche Debatte über die Post-Lissabon-Strategie zu führen.

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