Eine erneuerte Sozialdemokratie für Europa



Wenn in diesen Tagen von Europa die Rede ist, dann zumeist im Zusammenhang mit der tiefen Verfassungskrise der Europäischen Union. Die Niederländer und die Franzosen haben ihren politischen Eliten die Gefolgschaft verweigert und die Verfassung abgelehnt. Gründe sind eine lange existierende Entfremdung vom „Projekt Europa“ und die Enttäuschung über die verfehlten Ziele der Lissabon-Strategie. Offenbar empfinden die 19 Millionen Arbeitslosen in der EU und die vielen von Arbeitslosigkeit bedrohten Menschen die Brüsseler Politik als Farce.

Wen wundert es, dass die Mehrheit der Europäer die Globalisierung als Bedrohung wahrnimmt? Dazu beigetragen hat nicht zuletzt die Europäischen Union selbst mit ihrem Fokus auf die wirtschaftliche Integration. Dabei lehnen die Menschen gar nicht die gesamte europäische Integration ab. Alle Umfragen belegen, dass eine Mehrheit der Europäer sich mehr gemeinsame Entscheidungen in Europa wünscht. Die Reaktion der Menschen auf das vorläufige Scheitern des Verfassungsvertrages kann als Plädoyer für die Politisierung der Europäischen Union aufgefasst werden. Auf Widerstand hingegen stößt eine Europäische Union, die soziale Sicherheit als wettbewerbshemmendes Überbleibsel aus der Zeit vor der Globalisierung betrachtet.

Jeremy Rifkin hat kürzlich darauf hingewiesen, dass der Streit um die Verfassung von einer tiefen Konfliktlinie geprägt ist, der Frage nach der künftigen Gestalt des Kapitalismus in Europa und weltweit. Zugespitzt formuliert stehen sich der neoliberale Kapitalismus angelsächsischer Prägung und der wohlfahrtsstaatliche Kapitalismus der skandinavischen und kontinentaleuropäischen Staaten als Alternativen gegenüber.* Das ist gut so. Wir sind nämlich keineswegs am Ende der Geschichte angelangt, wie der amerikanische Politologe Francis Fukuyama Anfang der neunziger Jahre behauptete. Vielmehr eröffnet sich eine Alternative zum neoliberalen Mainstream, der sich lange als alternativlos gebärdete. Der Neoliberalismus stellt nicht das einzig realistische Modell dar, weder für unsere Gesellschaften noch für die Gesellschaften der Entwicklungsregionen in Asien und Lateinamerika.

Es gibt keine vernünftige Alternative zur Europäischen Union. Aber es gibt eine Alternative zu einer Gesellschaft, die sich im rücksichtslosen Kampf um den größten Anteil am Kuchen ihrer sozialen Errungenschaften entledigt. Wir müssen eine neue Balance finden zwischen der Innovationskraft des Marktes und der individuellen Verantwortung des Einzelnen sowie der kollektiven Verantwortung für die Wohlfahrt der Mitmenschen und der nachfolgenden Generationen. Zum Ziel europäischer und globaler Politikgestaltung muss eine Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung werden, die der sozialen Verantwortung und der Nachhaltigkeit verpflichtet ist. Darin besteht in den kommenden Jahrzehnten die raison d’être der europäischen Sozialdemokratie.

Die Politik hat die Herausforderungen der Globalisierung und der Europäisierung längst erkannt, auch weil die Nationalstaaten weniger Steuerungsmöglichkeiten haben als früher. Doch paradoxerweise gehen die politischen Diskussionen kaum über den nationalen Horizont hinaus. Sachliche europäische Debatten – etwa über die Dienstleistungsrichtlinie oder die Arbeitnehmerfreizügigkeit – drohen Renationalisierungs- und Entsolidarisierungstendenzen zu begünstigen. „Früher waren die Raketen aus dem Osten auf uns gerichtet – das hat Angst gemacht. Heute sind die Hoffnungen der Menschen aus Mittel- und Osteuropa auf uns gerichtet – und das macht uns erstaunlicherweise noch größere Angst als die Raketen“, sagt der luxemburgische Premierminister Jean-Claude Juncker. Mitunter kann es zur Gratwanderung werden, die historische Bedeutung der EU-Osterweiterung und den gestiegenen Druck auf die Sozialsysteme nicht zu vermengen. Für billige Arbeitskräfte und niedrigere Steuersätze sind die Verantwortlichen vorschnell gefunden.

Protektionistische Reflexe helfen nicht

Nicht der europäische Binnenmarkt oder die Osterweiterung haben die Globalisierung ausgelöst. Doch fordert die Globalisierung viele der europäischen Wohlfahrtsstaaten besonders heraus. Aufgrund der weltweiten Mobilität von Kapital und der zunehmenden internationalen Arbeitsteilung werden die Entwicklungsländer zu direkten Konkurrenten bei der Produktion von Gütern und Dienstleistungen. Unsere Antwort darauf kann nicht ein neoliberaler Unterbietungswettlauf sein. Auch protektionistische Reflexe helfen nicht weiter. Stattdessen gehört das Thema globale Gerechtigkeit ins Zentrum der Debatte. Wir sollten uns dringend mit Fragen des weltweiten Zugangs zu und der Verteilung von Ressourcen, mit Armut und zunehmender Ungleichheit auseinandersetzen. Sonst müssen wir uns den Vorwurf gefallen lassen, andere Teile der Welt nur so lange im Blick gehabt zu haben, wie sich unser Wohlstand vermehrte – und sie heute angesichts von Arbeitslosigkeit, knapper Kassen und unter Druck geratener Sozialsysteme als Bedrohung wahrzunehmen.

Antworten auf diese Fragen müssen die sozialdemokratischen und sozialistischen Schwesterparteien geben. Nur gemeinsam können sie diese Antworten dann in praktische Politik umsetzen. Die Sozialdemokraten und Sozialisten haben eine Tradition internationaler und europäischer Kooperation, die mehr als ein halbes Jahrhundert älter ist als diejenige der liberalen, konservativen oder christdemokratischen Parteien. Deshalb brauchen wir eine Sozialdemokratische Partei Europas, die diesen Namen auch verdient. Die SPE muss endlich zu einer Mittlerin werden zwischen den Bürgern, europäischer Politik und sozialdemokratischen Vorstellungen von einer globalen Welt. Über die SPE-Fraktion im Europäischen Parlament hinaus muss sie zu einer gestaltenden politischen Kraft aufgebaut werden. Dafür müssen wir die SPE organisatorisch und programmatisch stärken: mit einer direkten Mitgliedschaft, wie es sie bei der Europäischen Volkspartei (EVP) bereits gibt; mit einem europaweiten Parteiprogramm jenseits des gemeinsamen Wahlmanifests zu den Europawahlen; mit Spitzenteams europäischer Kandidaten für die Wahlen zum Europäischen Parlament; mit der Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen; und indem wir ihre personelle und materielle Handlungsfähigkeit stärken.

Offenkundig hat die deutsche Sozialdemokratie hier seit dem Jahr 1990 einiges versäumt – auch programmatisch, wie das Berliner Programm zeigt. Umso mehr muss sie die Chance ergreifen, eine treibende Kraft für diesen Prozess zu werden. Die laufende Debatte über das neue Grundsatzprogramm der SPD sollte dafür genutzt werden, die Notwendigkeit einer starken europäischen Sozialdemokratie bis weit in die Gesellschaft hinein zu verdeutlichen.

Wenn es den sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien Europas nicht gelingt, sich auf gemeinsame Vorstellungen über ein soziales Europa zu verständigen und Alternativen zu einer ungesteuerten Globalisierung aufzuzeigen; wenn es nicht gelingt, die Potenziale ihrer nationalen Parteien und ihrer langen Geschichte zur Gestaltung europäischer Politik in diesem Sinne zu nutzen – dann herrscht bei ihnen vielleicht tatsächlich jener Mangel an „Weltblick“, den jüngst Gunter Hofmann konstatiert hat.

* Anm. der Red.: Zur Typisierung der Kapitalismen und Sozialmodelle der Gegenwart siehe – mit deutlich anderer Akzentuierung – auch den Beitrag von Patrick Diamond in diesem Heft, besonders S. 61 ff.

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