Abschied vom Zwergendasein

Der Irak-Krieg hat gezeigt: Amerika geht seinen eigenen Weg. Nur wenn die Europäer jetzt geschlossen handeln, kann der Alte Kontinent international mehr Einfluss geltend machen - und im transatlantischen Verhältnis eine neue Balance erreichen

Der Krieg der "Koalition der Willigen" gegen den Irak ist also Realität geworden, wieder einmal scheint die Diplomatie gescheitert. Im transatlantischen Verhältnis hat sich der Irakkrieg zum beidseitigen Schockerlebnis entwickelt. Die gerade um zehn Länder gewachsene EU wurde durch eine diplomatische Krise wachgerüttelt, die aufgedeckt hat, dass die EU noch längst nicht ist, was sie doch schon lange gerne wäre: mehr als eine Wirtschaftsmacht in der internationalen Politik, stattdessen eine Macht, die auch in Krisenzeiten einmütig Position beziehen und mit Nachdruck vertreten könnte. Eine Stimme? Weit gefehlt! Europa ist bislang kein politisches Gegengewicht zur militärischen Supermacht USA.


Die Krise hat sowohl Europäer wie Amerikaner frustriert und irritiert. Transatlantisch und innereuropäisch hat man die verschiedensten Bündnisse geschmiedet, Vorwürfe erhoben und dabei viel diplomatisches Porzellan zerschlagen. Die Vereinigten Staaten haben schließlich die Vereinten Nationen umgangen und im Wesentlichen in der Koalition mit Großbritannien einen international nicht sanktionierten Krieg gegen den Irak begonnen. Die Europäische Union hat ebenso wenig wie die Weltstaatengemeinschaft ausreichend Einfluss nehmen können, um zu einer friedlichen Entwaffnung des irakischen Regimes zu kommen. Mit ihrer Zerstrittenheit haben die Regierungen innerhalb der EU eine Chance vertan, stärker auf eine friedliche Lösung des Konflikts hinzuwirken, wie es die übergroße Mehrheit der europäischen Bürgerinnen und Bürger befürwortet hat.


Im Kern dreht sich der transatlantische Streit um zweierlei: zum einen um diametrale Auffassungen davon, unter welchen Bedingungen der Einsatz staatlicher militärischer Gewalt rechtlich und ökonomisch, politisch und moralisch gerechtfertigt und damit zu legitimieren sei; zum anderen um die Unverträglichkeit der Handlungsmaximen von Unilateralisten und Multilateralisten auf beiden Seiten des Atlantik.

Die Unilateralisten sehen es anders

Für die meisten europäischen Staaten und die überwältigende Mehrheit der europäischen Bevölkerung sind die Vereinten Nationen Maßstab für die Regelung von Konflikten. Deshalb müssten die Vereinigten Staaten multilateral und innerhalb der bestehenden internationalen Rechtsordnung handeln. Der einflussreichere Teil der amerikanischen Administration, der sich regelmäßig durchzusetzen vermag, sieht das genau anders. Im Bewusstsein, dass Amerika die einzige verbliebene Supermacht ist, setzt er auf unilaterale Lösungen. Die Widersprüche zwischen den postulierten amerikanischen Kriegszielen und -mitteln in Rekurs auf Konventionen und Völkerrecht verschaffen den Vereinigten Staaten keine Kriegslegitimation. Damit beginnt der Dissens dort, wo die USA aufgrund ihrer Bedrohungsanalyse und der sich daraus ableitenden Sicherheitsstrategie unilateral und außerhalb der internationalen Organisationen und der internationalen Rechtsordnung handeln.


Aus deutscher Sicht wird dies besonders anhand der jüngsten Militäreinsätze in Afghanistan und im Irak deutlich: Während sich Deutschland in Afgha-nistan an der Seite Amerikas als zweitstärkste Truppenkraft beteiligt, hat die Bundesrepublik zugleich jegliche Beteiligung am Krieg gegen den Irak abgelehnt. Die Begründung dafür war eindeutig: Eine Beteiligung an einer UN-sanktionierten Intervention ist möglich, ein Handeln jenseits internationaler Legitimation ohne schwerst wiegende Argumente dagegen undenkbar.


An der Eskalation dieser transatlantischen und auch innereuropäischen Krise dürfte jedoch kein vernünftiges Interesse bestehen. Deshalb muss sie entschärft werden - gerade auch im Sinne einer Zukunft für die Menschen im Nahen Osten, besonders im Irak. Die Regierungen der EU und die amerikanische Regierung müssen aufeinander zugehen. Die Vereinigten Staaten stoßen trotz militärischer Übermacht an ökonomische Grenzen ihrer Fähigkeiten und Kapazitäten. Das zeigt wiederum, dass das pragmatische Wechselspiel zwischen Unilateralismus und Multilateralismus kein Fundament für eine stabile Weltordnung ist. In aller Deutlichkeit: Die Bush-Administration muss endlich ihre Obstruktionspolitik gegen das Ziel einer auch in der Außen- und Sicherheitspolitik handlungsfähigen EU beenden. Die von Henry Kissinger zu Recht geforderte "Telefonnummer Europas" gibt es längst. Sie wird aber nicht angerufen, um ein gemeinsames Bündnis zu schmieden. Stattdessen organisiert man innereuropäische Blockaden.

An Europas Schwäche ist nicht Amerika schuld

Daher ist ein intensiver Dialog zwischen den Partnern in Europa sowie zwischen den europäischen und amerikanischen Partnern dringend geboten. Die transatlantische Freundschaft ist mehr als eine Partnerschaft zwischen Staaten. Sie ist auch eine Partnerschaft zwischen den Völkern. Sie ist für Europa weiterhin elementar und in ihren Grundfesten nicht in Frage gestellt. Dankbarkeit und Solidarität, verbunden mit der Pluralität der Staaten der Europäischen Union, können nicht Kritiklosigkeit bedeuten. Sie sind allein auch kein zukunftsfähiges Begründungsfundament für eine vitale Kooperation.


Der Irakkrieg hat verdeutlicht, was alle politischen Akteure innerhalb und außerhalb der EU schon lange wissen: Nur wenn die EU und die europäischen Partner geschlossen handeln, können sie international stärkeren Einfluss geltend machen und das transatlantische Verhältnis zu einer Partnerschaft ausbalancieren. Für die politisch-diplomatische Schwäche der Europäischen Union können nicht die Vereinigten Staaten verantwortlich gemacht werden. Europa muss vielmehr selbst partnerfähig werden. Dazu gehört auch eine nachhaltige Stärkung des europäischen Pfeilers im transatlantischen Bündnis und in den Vereinten Nationen. Dies heißt dezidiert nicht, die Europäische Union zu einer militärischen Supermacht aufzubauen. Nicht allein der Argwohn Russlands - immer noch Atomwaffen-Supermacht - verbietet dies, sondern auch die Einsicht, eine Weltfriedensordnung diplomatisch und nicht kriegerisch erreichen zu wollen.

Die Krise wird europäische Energie freisetzen

Die diplomatische Krise wird politische Energie freisetzen. Diese gilt es einzufangen und zu nutzen. Die politisch Verantwortlichen in Europa haben zügig zu entscheiden, ob sie wirklich "Mehr Europa" schaffen wollen. Die Zeitspanne für politische Initiativen ist kurz. Der politische Ort dafür ist der Konvent. Er befindet sich in der Schlussphase der Beratungen über die Europäische Verfassung. Er ist dabei, das Fundament für die Handlungsfähigkeit der erweiterten Europäischen Union zu legen, zu der es keine ernsthafte Alternative gibt.


Damit eine gemeinsame europäische Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik endlich mehr ist als eine Vision überzeugter Europäer, müssen die Schlussfolgerungen aus der jüngsten europäisch- diplomatischen Krise gezogen und zunächst im Konvent in mutige Reformen gegossen werden. Konkret bedeutet dies, in der entscheidenden Schlussphase des Konvents der französisch-deutschen Initiative und ähnlicher Überlegungen anderer Mitgliedstaaten zum Durchbruch zu verhelfen. Damit kann in der Verfassung der Grundstein für eine zukünftig erfolgreiche europäische Außenpolitik gelegt werden. Mit der Initiative sind weitreichende Neuerungen vorgesehen, so die Besetzung und Legitimierung eines europäischen Außenministers, die Abschaffung des Vetos in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, eine verstärkte Zusammenarbeit in der Verteidigungspolitik sowie eine effektive Koordinierung der Rüstungsprojekte durch die Einrichtung einer europäischen Rüstungsagentur. Überzeugendere Konzepte liegen derzeit nicht auf dem Tisch.


Grundsätzlich muss das Voranschreiten einer Gruppe nicht im Widerspruch zur weiteren europäischen Integration stehen. Entscheidend ist, ob sie für interessierte Mitgliedstaaten geöffnet ist. Sie muss sich im Rahmen der Gemeinschaftsinstitutionen und -verfahren bewegen und das Ziel einer späteren vollständigen Integration verfolgen. Bleibt die Gemeinschaft auf Grund von Mutlosigkeit oder Zerstrittenheit in dieser Frage passiv, werden einige Mitgliedsstaaten auch außerhalb der Europäischen Union Wege einschlagen, um ihren Positionen international mehr Gewicht zu verleihen. Prinzipiell kann eine zunächst außerhalb der Verträge gebildete Avantgarde erfolgreich in die Gemeinschaft integriert werden. Sie kann aber auch das Öffnen der Büchse der Pandora bedeuten, das heißt den Weg zu weiterer gemeinschaftlicher Vertiefung verbauen.

So mächtig wie Amerika werden wir nicht

Trotz lautstarker Debatten über den zukünftigen Kurs: Es herrscht Konsens darüber, dass die EU Antworten auf die komplexen Herausforderungen neuer Bedrohungspotenziale geben muss. Eine gehörige Portion Realismus tut dabei not. Sicher ist, die EU bewegt sich nicht auf gleicher Augenhöhe mit den Vereinigten Staaten, weder außenpolitisch noch militärisch. Sicher ist aber auch, dass die bisherigen Schritte europäischer Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) nicht zu unterschätzen sind. Die ESVP wird seit vier Jahren aufgebaut, steckt also noch in den Kinderschuhen. Vor diesem Hintergrund ist die jüngste Übernahme der Nato-Mission in Mazedonien ebenso ein Erfolg wie der Aufbau der schnellen Eingreiftruppe, der Ende des Jahres abgeschlossen sein wird. Hier werden Fähigkeiten einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität entwickelt. Sie basieren auf einem multilateralen Sicherheitsverständnis und bringen die aktuellen Unterschiede amerikanischer und europäischer Politik zum Ausdruck.


Mit den militärischen Fähigkeiten der Vereinigten Staaten gleichzuziehen, kann dabei nicht das Ziel europäischer Anstrengungen sein. Vielmehr bedarf es einer originär europäischen Politik- und Sicherheitsstrategie: Die Staaten der EU müssen ihre zivilen und militärischen Fähigkeiten koordinieren, damit sie (einige) Krisen selbständig, auch ohne die USA, meistern können. Beim Aufbau effizienter und kohärenter Strukturen sieht sich die EU allerdings mit Problemen konfrontiert, die vor allem aus der Heterogenität ihrer Mitgliedsstaaten sowie der Diversität der nationalen finanziellen und militärischen Kapazitäten resultieren. Weil eine gemeinsame europäische Strategie und ein EU-weiter Planungsprozess fehlen, werden die in der EU vorhandenen Ressourcen bislang nicht effizient eingesetzt.


Nur durch eine Spezialisierung und Verzahnung der Fähigkeiten und Ressourcen sowie die Entwicklung einer europäischen Sicherheitsstrategie werden die komplexen Aufgaben zu bewältigen sein. Nur ein nach innen und außen starkes Europa wird ein ernst zu nehmender Kooperationspartner sein, der unilateralen Bestrebungen der Vereinigten Staaten entgegenwirken kann. Die Europäische Union wird sich dabei nicht auf die Verteidigungspolitik beschränken können und wollen: Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik müssen komplementäre Bestandteile der Entwicklung sein. Darüber hinaus gehören eine engagierte Entwicklungszusammenarbeit und eine auf Solidarität beruhende globale Wirtschaftskooperation zu einem zukunftsweisenden Sicherheitsnetzwerk der Europäischen Union.

Amerikanischer Unilateralismus à la carte

Die Vereinigten Staaten und Europa sind keine Widersacher, sondern Partner und Konkurrenten. Ihrem internationalen Handeln liegen heute unterschiedliche Konzepte zu Grunde. Die Vereinigten Staaten handeln vermehrt unilateral und à la carte: Aus ihrer Sicht pragmatisch suchen sie Lösungen zur Durchsetzung ihrer nationalen Interessen - auch außerhalb der bestehenden internationalen Rechtsordnung. Die Vereinigten Staaten handeln auf der Basis eines engen, militärischen Sicherheitsbegriffs. In der Folge des 11. September 2001 sind Militärschläge nicht mehr nur probates Mittel der Politik, sondern auch als vermeintlich präventiver Selbstschutz akzeptiert. Nicht mehr internationale Organisationen und Bündnisse definieren die Voraussetzungen und den Rahmen von Militärschlägen. Es zeichnet sich ab, dass die USA auch zukünftig weniger auf die Vereinten Nationen und die Nato setzen. Vielmehr schmieden sie temporäre Bündnisse mit Partnern, die ihre Bedrohungsperzeption teilen und auch zu militärischen Interventionen bereit sind.

Abschied vom europäischen Zwergendasein

Die europäische Sicherheitsstrategie, die es zu formulieren gilt, muss und kann eine andere sein. Multilaterales Handeln, Stärkung der internationalen Rechtsordnung, handlungsfähige internationale Organisationen und ein erweiterter Sicherheitsbegriff sind die Kernelemente dieser Strategie. Eine Konzentration auf den Ausbau militärischer Fähigkeiten kommt für Europa nicht in Frage. Vielmehr muss die EU ihrer internationalen Verantwortung auch durch eine nachhaltige Wirtschafts- und Entwicklungspolitik gerecht werden. Sie muss ihre Fähigkeiten im zivilen, humanitären Bereich weiterentwickeln, um diese im Bereich der zivilen Krisenprävention und Krisenbewältigung weiter auszubauen.


Europa hat die Wahl: Es kann jetzt diese Gelegenheit verspielen - und wird dann auch weiterhin sein Dasein als wirtschaftlicher Riese und politischer Zwerg in der internationalen Politik fristen. Oder es ergreift die der Krise innewohnende Chance - und nutzt die Schlussphase des Konvents für substanzielle Neuerungen. Dies wäre mit Blick auf eine demokratische, friedliche, freiheitliche und solidarische Gestaltung des Globalisierungsprozesses eine verheißungsvolle Perspektive.

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