Absage an die Egalitäre Gesellschaft

Gerhard Willke wünscht sich Sozialpolitik als Beschäftigungspolitik

Im Mai dieses Jahres hat die OECD ihre Zahlen zur Kinderarmut in Deutschland, die auf Angaben des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) von 2009 basierten, kurzerhand von 16,4 auf 8,3 Prozent heruntergekürzt. Was folgte, waren zahlreiche Diskussionen über mangelnde international verbindliche Standards zur Datenerhebung und -analyse. An solchen Diskussionen will sich Gerhard Willke nicht beteiligen. Stattdessen möchte der Nürtinger Fachhochschulprofessor für Wirtschaftspolitik mit seinem Buch Armut – was ist das? Eine Grundsatzanalyse lieber der Frage nachgehen, was die Politik konkret gegen relative Armut tun kann. Relativ arm ist nach der UN-Definition, wer weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens des jeweiligen Landes zu Verfügung hat. Im Jahr 2009 traf dies nach Willkes Berechnungen auf 9,5 Prozent der Deutschen zu – für ihn ein „undramatischer und wenig spektakulärer“ Anteil.

Wider das empörte Dauerlamento

Mit dem Stand der Armutsdebatte in Deutschland ist Willke unzufrieden. Entgegen dem Trend will er sich vom „mit Empörung getränkten Dauerlamento“ der Wohlfahrtsverbände, Fürsorgeeinrichtungen und Gewerkschaften lösen, ja die „Wohlfahrtsindustrie“ schlechthin ist ihm ein Dorn im Auge. Diese „Interessenvertreter“ verlören sich ähnlich wie die Berichterstattung der Regierung im „Klein-Klein“ der Datenanalyse. Es könne jedoch kein sinnvolles Ziel sein, die Armuts- und Lebenslagen immer noch ein bisschen differenzierter und genauer zu erfassen, da der politische Nutzen dieser Analysen gering sei. In der Tat: Viele Konzepte basieren auf subjektiven Empfindungen, die nur schwierig und mit Validitätsverlust in Daten zu verpacken sind. Auch DIW-Experten machen deutlich, dass die Bereitschaft für Befragungen sinkt und die Realität der Einkommen nicht mehr verlässlich abgebildet werden kann.

Das Rezept gegen Armut heißt nicht Transfer, sondern Beschäftigung

Insgesamt schreibt Willke der bisherigen Sozial- und Armutspolitik zwei Konstruktionsmängel zu: Zum einen verlockten zu hohe Transferzahlungen zum Verbleib im Sozialleistungsbezug, zum anderen belasteten die zur Bekämpfung von relativer Armut eingesetzten Finanzmittel die Wirtschaft in ihrer Entfaltungskraft – beides bekannte Argumentationen aus der ökonomischen Theorie. Sein Plädoyer fällt folglich eindeutig aus: Der Sozialstaat muss umgebaut werden – Sozialinvestition statt Sozialkonsum!

Willke zufolge bedeuten Transferzahlungen keinen Beitrag zur Lösung der Armutsfrage, im Gegenteil würden sie das Problem nur verdecken und kaschieren. Ein angemessenes Ziel der Politik müsse es hingegen sein, die drei Hauptrisikogruppen der Alleinerziehenden, Einwanderer und Arbeitslosen in die Arbeitsgesellschaft zu integrieren; als Willkes Lösung für relative Armut zieht sich die Beschäftigungspolitik wie ein roter Faden durch das Buch. Notwendig dafür seien der massive Ausbau der Aus-, Weiter- und Umbildung sowie der Kinderbetreuungsinfrastruktur.

Für das Leben der Menschen sei der Staat nicht zuständig, meint Willke

Für unumgänglich hält Willke die Einsicht, dass eine gegen den Markt agierende Sozialpolitik nur scheitern kann: Mindestlöhne verhinderten Beschäftigung, atypische Beschäftigungsverhältnisse seien notwendig für den Arbeitsmarkteinstieg, solange keine Alternativen vorhanden sind. „In einer marktwirtschaftlichen Ordnung ist der Staat weder zuständig für die Entlohnung noch gar verantwortlich für Karriere und Lebensglück einzelner Personen“, schreibt Willke. So wundert es nicht, dass er den mit den Hartz-IV-Reformen eingeschlagenen Weg des Förderns und Forderns als alternativlos bezeichnet.

Betritt Willke mit seinen Lösungen neues, unbekanntes Terrain? Wohl kaum. Zu honorieren ist immerhin der Mut des Autors, auch unbequeme Tatsachen hervorzuheben, besonders den fragwürdigen Nutzen, den die zahllosen Berichte der Armutsforschung für die Politik besitzen. Unerfreulich ist allerdings, dass Willke seinerseits ins – von ihm doch eigentlich kritisierte – Lamentieren verfällt und sich obendrein einer teilweise sehr flapsigen Sprache bedient. Sein aus grundsätzlichen Erwägungen vorgeschlagener Weg für eine wirksame Armuts- und Sozialpolitik mit den Mitteln entschiedener Beschäftigungspolitik ist folgerichtig, aber insgesamt bleibt das Werk eine Absage an die Idee einer egalitären Gesellschaft und eine Huldigung der Marktmechanismen. Dabei überrascht, dass Willke Ergebnisse von aktuellen Studien außer Acht lässt. So hat beispielsweise im Jahr 2009 die Studie The Spirit Level von Richard Wilkinson und Kate Pickett eindrucksvoll belegt, dass soziale Gleichheit die Lebensqualität einer Gesellschaft verbessert – sogar diejenige ihrer wohlhabenden Gruppen. Diese Ergebnisse zeigen: Soziale Gleichheit ist keine romantische Idee, sondern sollte ein zum Wohle aller anzustrebendes Ziel sein, das auch mit verteilungspolitischen Mitteln zu verfolgen ist.

Ein unfreiwilliges Signal an die Sozialdemokratie

So sendet Willke mit seinem Buch – wohl eher unfreiwillig – ein klares Signal an die Sozialdemokratie: Zehn Jahre nach dem ersten Armuts- und Reichtumsbericht einer Bundesregierung ist es an der Zeit, mithilfe der umfassenden Datenlage ein ebenso umfassendes, schlüssiges politisches Konzept zu erarbeiten. Erst wenn das gelingt, lässt sich neoliberales Gedankengut endgültig in die Schranken verweisen – und die Tür zur egalitären Gesellschaft einen Spalt öffnen. «

Gerhard Willke, Armut - was ist das? Eine Grundsatzanalyse, Hamburg: Murmann Verlag 2011, 258 Seiten, 16 Euro

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