"Wer arbeitet, soll nicht arm sein"

David T. Ellwood ist der Dekan der John F. Kennedy School of Government an der Harvard University. In den neunziger Jahren war der renommierte Arbeitsmarkt- und Sozialökonom maßgeblich an der konzeptionellen Entwicklung der Clinton’schen Sozialreformen beteiligt. Der "Berliner Republik" erläuterte er, welche sozialpolitischen Maßnahmen im 21. Jahrhundert notwendig sind

BERLINER REPUBLIK: Sie haben in Berlin gerade einen Vortrag gehalten über „Hard Lessons from the U.S.“ auf dem Gebiet der Sozialpolitik. Viele Europäer glauben, in dieser Beziehung müssten eher die Vereinigten Staaten von Europa lernen.

DAVID T. ELLWOOD: Man kann Politikmodelle nicht einfach exportieren. Geschichte, Kultur und Erwartungshaltungen sind dafür in den einzelnen Ländern zu prägend. Aber überall existieren die gleichen sozialpolitischen Grundfragen. Die Sozialsysteme sollen einerseits bedürftige Menschen ausreichend finanziell unterstützen. Andererseits sollen sie den Menschen helfen, sich selbst helfen zu können. Das sind konkurrierende Ziele. Je stärker der Staat den Nichterwerbstätigen finanziell unter die Arme greift, desto geringer ist der Arbeitsanreiz.

Wie sieht denn die amerikanische Auflösung des Dilemmas aus?

ELLWOOD: Im Vergleich zu Europa gab es früher geringere Leistungen über kürzere Perioden und beschränkt auf bestimmte Gruppen. Ledige Erwachsene ohne Kinder erhielten kaum mehr als Essensmarken und ein maximal sechsmonatiges Arbeitslosengeld. Hinzu kamen ziemlich strikte, komplizierte und stigmatisierende Bedürftigkeitsprüfungen. In den neunziger Jahren haben wir uns dann aber verstärkt bemüht, Menschen in Arbeit zu bringen und systematisch die working poor zu unterstützen. Auf diesem Gebiet sind die Europäer weniger gut. Von einigen amerikanischen Erfahrungen, die mit westeuropäischen Werten und Erwartungen übereinstimmen, kann Europa also durchaus lernen.

Die Sozialreformen der Regierung Clinton gelten gemeinhin als erfolgreich. Sie selbst waren maßgeblich daran beteiligt, sie zu entwickeln. Was hat Bill Clinton richtig gemacht?

ELLWOOD: Er hatte von Anfang an eine konsistente Position, an die auch seine Mitarbeiter glaubten. Das Grundprinzip lautete: Wer arbeitet, soll nicht arm sein; wer hart arbeitet und sich an die Regeln hält, der soll davon eine vierköpfige Familie ernähren können und sich mindestens oberhalb der Armutsgrenze befinden – ganz gleich, welchen Job er macht. Das ist ein sehr kraftvolles Leitbild, das mit den amerikanischen Werten komplett im Einklang steht. Vor ganz unterschiedlichen Zuhörern habe ich in dieser einen Frage niemals Widerspruch erlebt. Konkret bestand die große Innovation der Regierung Clinton darin, dass wir die Unterstützung für Familien mit niedrigen Einkommen ausgeweitet haben. Wir haben den Earned Income Tax Credit erhöht, also die negative Einkommensteuer. In den unteren Einkommensgruppen kommen dadurch für jeden verdienten Dollar bis zu 40 Cents vom Staat hinzu. Der herkömmliche Sozialstaat zahlte umso weniger Geld, je mehr die Betroffenen arbeiten. Wir haben den Spieß umgedreht. Im neuen System erhalten sie umso mehr, je mehr sie arbeiten. Diese Maßnahme haben andere Ländern inzwischen übernommen.

In regelmäßigen Abständen wird in Deutschland über ein bedingungsloses Grundeinkommen diskutiert, das jedem Bürger unabhängig von seinem Einkommen gezahlt werden soll. Erscheint Ihnen dieser Diskurs vor dem Hintergrund ihres Begriffes von Arbeit sinnvoll?

ELLWOOD: Die Debatte gibt es auch in den Vereinigten Staaten. Nur stimmt die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens ganz und gar nicht mit den Werten unserer Gesellschaft überein. Das beweist jede Umfrage: Wer gesund ist und arbeiten kann, der soll nicht bis ins Unendliche staatliche Transferleistungen erhalten. Interessanterweise teilen auch die Arbeitslosen diese Überzeugung. Die meisten von ihnen wollen wieder arbeiten, sie wollen die Kontrolle über ihr Leben zurückgewinnen. Für sie ist das eine Frage der Würde. Das Grundeinkommen würde Menschen weder ein gutes Einkommen verschaffen, noch würden sie sich dabei wohlfühlen. Alle an den Sozialreformen beteiligten Mitarbeiter der Regierung Clinton mussten eine gewisse Zeit im Sozialamt und mit Bedürftigen verbringen. Viele waren verblüfft darüber, wie sehr die Sozialhilfeempfänger das System hassten. Sie hassten die Stigmatisierung und Demütigung, die Frustration. Vor unseren Reformen ging es mehr darum, Schecks auszustellen als Menschen auf die Beine zu helfen. Gleichzeitig berichteten uns die Betroffenen, wie das System ihr Verhalten veränderte, wie müde sie sich fühlten. Die Betroffenen selbst wollen ein System, dass ihnen Chancen auf Arbeit und Aufstieg verschafft. Deshalb bin ich überzeugt, dass wir Armut reduzieren und die Menschen zufriedener machen, wenn wir Arbeit ermöglichen – nicht aber, wenn wir ein Grundeinkommen für alle versprechen.

Es war auch das Ziel der rot-grünen Agenda 2010, Menschen in Arbeit zu bringen. Wie haben Sie die deutschen Sozialreformen wahrgenommen?

ELLWOOD: Ohne die Details zu kennen, fallen mir zwei Dinge auf: Erstens ist eine Grundsicherung problematisch, wenn sie mäßige Transferleistungen mit geringen Arbeitsanreizen verbindet. Wer 80 Cent von jedem hinzuverdienten Euro abgeben muss, der wird kaum zum Arbeiten angespornt. Zweitens ist es sehr schwer, gleichzeitig öffentliche Ausgaben zu senken und Beschäftigung zu fördern. Wenn das politische Ziel darin besteht, Geld zu sparen, müssen die Transferleistungen gekürzt werden. Wenn das Ziel aber Aktivierung und Beschäftigung ist, dann wird die Sache unter dem Strich nicht billiger: Man gibt dann zwar weniger für Transferleistungen aus, aber zugleich muss man mehr Geld in die Hand nehmen, damit Menschen eine Arbeit aufnehmen können. Job-Training, Lohnanreize, Arbeitsvermittlung – wenn es wirken soll, ist das alles nicht billig. Gleichzeitig Beschäftigung zu fördern und Geld zu sparen – für den teuren europäischen Wohlfahrtsstaat, den der demografische Umbruch noch teurer machen wird, ist das eine riesige Herausforderung.

In den neunziger Jahren glückte der Regierung Clinton aber doch beides: Die Zahl der Beschäftigten stieg deutlich, und die öffentlichen Haushalte wurden entlastet.

ELLWOOD: Das stimmt. Aber wir hatten mit dem Zeitpunkt der Reform großes Glück. Die Wirtschaft lief damals unglaublich gut: Zum ersten Mal stiegen die Realeinkommen aller Schichten, die Arbeitslosigkeit war niedrig, die Inflation gering. Darum wuchsen auch die Steuereinnahmen stärker als erwartet. Dass wir einerseits Anreize zur Arbeitsaufnahme gaben und gleichzeitig bei den Transferleistungen Einschnitte vornahmen, hat sehr viele Bürger bewegt, einen Job anzunehmen. Anreize zum Arbeiten haben bei einer Arbeitslosenrate von nur 4 Prozent eine ganz andere Wirkung, als wenn die Arbeitslosigkeit bei 10 Prozent oder mehr liegt.

Das trifft auch für Deutschland zu. Die Arbeitsmarktreformen haben erst gegriffen, nachdem der wirtschaftliche Aufschwung eingesetzt hat. Nun haben 1,6 Millionen Menschen zusätzlich eine Beschäftigung gefunden – mehr als in jedem Aufschwung der vergangenen Jahrzehnte.

ELLWOOD: Die Lehre daraus lautet, dass aktivierende Beschäftigungspolitik in einer stagnierenden Wirtschaft nicht funktioniert. In Zeiten des Abschwungs ist die Versuchung groß, die Transferzahlungen zu erhöhen. Es gibt dann einfach mehr Arbeitsuchende als Jobs, und Anreize zur Arbeitsaufnahme laufen ins Leere.

Wegen der Arbeitsmarktreformen ist in Deutschland die Bereitschaft gestiegen, auch einen schlecht bezahlten oder unangenehmen Job anzunehmen. Deshalb ist jetzt verstärkt das Thema „Gute Arbeit“ auf der Agenda. Ist jeder Job besser als gar kein Job?

ELLWOOD: Diese Einstellung ist bei uns in der Tat sehr verbreitet. Allerdings muss sich Arbeit lohnen. Mit unseren Sozialreformen haben wir zwar viele Menschen in Beschäftigung gebracht, aber leider überwiegend in schlechte Jobs. Wir müssen diese Leute auf die erste Stufe einer Leiter nach oben bringen – und nicht bloß auf ein Plateau. Jeder Job muss die Möglichkeit bieten, weiter voranzukommen. Das wird die nächste große sozialpolitische Herausforderung, über die sich Politiker und Wissenschaftler den Kopf zerbrechen müssen.

Lohnsubventionen für Geringverdiener werden auch in Deutschland diskutiert. Was entgegnen Sie der Befürchtung, dass eine negative Einkommenssteuer lediglich zu Mitnahmeeffekten führt: Die Arbeitgeber zahlen weniger, und bei den Geringverdienern kommt nichts an.

ELLWOOD: Das ist eine berechtigte Sorge. Die Regeln der Ökonomie besagen: Wenn etwas subventioniert wird, steigt das Angebot. Damit wiederum fällt der Preis, in diesem Fall also die Lohnhöhe. Allerdings wird kein Ökonom behaupten, dass die Löhne im selben Maße sinken, wie sie subventioniert werden. Etwas bleibt also in jedem Fall hängen. Aber dieses Problem kann man regeln, indem die Lohnzuschüsse gezielt an bestimmte Gruppen gezahlt werden. Damit meine ich nicht die Arbeitnehmer in bestimmten Niedriglohnsektoren. Es gibt zum Beispiel viele Menschen mit geringem Lohn, die aber nicht arm sind – etwa junge Leute, wenn sie noch bei ihren Eltern leben. Stattdessen sollten ganz konkret diejenigen Menschen bezuschusst werden, die arbeiten und dennoch arm sind, vor allem arme Familien. Diese gezielte Unterstützung ergibt viel wirksamere Effekte als allgemeine Lohnsubventionen.

In Deutschland tobt seit einiger Zeit zudem ein politischer Kampf um die Einführung von Mindestlöhnen. Überrascht Sie das?

ELLWOOD: In Deutschland war der Mindestlohn bisher kein großes Thema, weil das Lohngefüge im Vergleich zu anderen Ländern ziemlich ausgeglichen war. Das mag sich geändert haben. Gegen einen moderaten Mindestlohn habe ich nichts. Die Kehrseite ist allerdings, dass ein Mindestlohn – anders als Lohnsubventionen – Arbeitsplätze gefährdet. Es ist schwer, darüber eine differenzierte Debatte zu führen. Der Mindestlohn ist ein sehr einfaches Konzept, für das sich leicht öffentlich werben lässt. In Wirklichkeit ist die Sache aber sehr kompliziert. Denn wie gesagt: Menschen mit niedrigen Löhnen leben nicht unbedingt in armen Familien. Mindestlöhne sind daher alles andere als ein zielgenaues Programm.

Die öffentliche Unterstützung niedrig entlohnter Arbeit ist das eine. Der eigentliche Schlüssel zum sozialen Aufstieg aber heißt Bildung. George W. Bush hatte in seinem ersten Wahlkampf angekündigt, er wolle ein „Bildungspräsident“ werden. Hat er sein Versprechen gehalten?

ELLWOOD: Ein amerikanischer Präsident hat wenig Einfluss auf das Bildungswesen. Ähnlich wie in Deutschland ist das Bildungswesen in den Vereinigten Staaten regional organisiert – mit Ausnahme der höheren Bildung. Allerdings hat Bush im Jahr 2001 das umstrittene „No Child Left Behind“-Gesetz durchgebracht und damit bundesweite Leistungsstandards etabliert. Wie wirksam das war, ist bis heute unklar. Das Bildungsproblem in den USA betrifft aber vor allem auch die Berufsausbildung. Die Elite besucht die Universitäten, die mittleren Gruppen dagegen fallen häufig durch den Rost. Ich glaube, die Welt kann hier viel vom deutschen Ausbildungssystem lernen.

Wie sieht es umgekehrt aus: Können wir vom amerikanischen Bildungssystem lernen?

ELLWOOD: In den meisten Ländern lautet die zentrale Frage, was mit schlechten Schülern aus benachteiligten Familien geschieht. Ich glaube nicht, dass die Vereinigten Staaten hierzu viele Antworten anbieten können. Aber: Die amerikanische Politik ist immer öfter bereit, unterschiedliche Konzepte auszuprobieren und daraus zu lernen. Das ist nicht selbstverständlich, denn viele Eltern sorgen sich um die Zukunft ihrer Kinder und lehnen Experimente im Bildungssystem oft erst einmal ab. Dabei experimentiert die Medizin ständig am menschlichen Körper, und da ist das Schadensrisiko viel größer. Wir müssen viel mehr Dinge ausprobieren, sie systematisch evaluieren – und dabei akzeptieren, wenn etwas nicht auf Anhieb funktioniert. Darin sind Regierungen generell nicht gut. Die Chance, voneinander zu lernen, ist übrigens der große Nutzen eines föderalen Systems. Die Zentralregierung kann Ressourcen bereitstellen, damit in allen Landesteilen nach den gleichen Kriterien evaluiert wird, und so gewährleisten, dass alle voneinander lernen.

Unter dem schlechten Bildungssystem leiden vor allem auch Einwanderer, von denen überproportional viele keinen Schulabschluss und keine Ausbildung haben. Das Thema Integration ist in Deutschland erst seit wenigen Jahren auf der politischen Agenda. Die Integrationspolitik der Vereinigten Staaten ...

ELLWOOD: ... macht ebenfalls Tausende von Fehlern. Aber der wesentliche Unterschied ist, dass wir eine Nation von Einwanderern sind. Die klassische amerikanische Aufstiegsgeschichte handelt von dem Einwanderer, der mit nur einem einzigen Hemd ins Land kommt und dann den Aufstieg schafft. Wir sehen Einwanderer als Menschen, die in unser Land kommen, um hart zu arbeiten und ihr Leben zu verbessern. Wir erkennen uns selbst in ihnen wieder. Darum bewundern wir Einwanderer und sehen sie nicht als kriminelle Elemente.

Das hört sich paradiesisch an. Dennoch ist die Einwanderung im Präsidentschaftswahlkampf ein Thema.

ELLWOOD: Auch bei uns hat die zweite Generation von Einwanderern Probleme, und wir haben darauf keine guten politischen Antworten. Im gewissen Sinne nähern wir uns Europa an. Zum Beispiel besitzen immer mehr hoch qualifizierte Gastarbeiter einen zeitlich begrenzten Aufenthaltsstatus. Aus meiner Sicht ist das ein großer Fehler. Wir sollten die Leute willkommen heißen, sie ermutigen, bei uns zu investieren und Teil unserer Gesellschaft zu werden. Es ist schlimm, Menschen ins Land zu lassen, sie dann schlecht zu behandeln und zu entmutigen, die Sprache zu lernen. Anschließend schickt man sie entweder in ihr Herkunftsland zurück, wo sie uns mit ihren erworbenen Fähigkeiten Konkurrenz machen. Oder sie bleiben als Bürger zweiter Klasse bei uns, die dann die Löhne drücken oder Spannungen erzeugen. Nein, es ist auch umgekehrt: Die Vereinigten Staaten müssen von anderen Ländern lernen.

Das Team von Barack Obama scheint sich sehr für den europäischen Wohlfahrtsstaat zu interessieren. Gehen wir einer Ära entgegen, in der wir wieder versuchen, mehr von einander zu lernen?

ELLWOOD: Barack Obama und John McCain haben sehr unterschiedliche Einstellungen zum Lernen von anderen Ländern. Obamas Hintergrund ist einzigartig: der Vater aus Kenia, die Mutter aus Kansas, aufgewachsen in Jakarta und Hawaii. Er hat viele verschiedene Ideen und Systeme gesehen. Er strahlt Jugendlichkeit aus und hat so viele junge Wähler inspiriert, wie es seit John F. Kennedy niemandem mehr gelungen ist. Mit dieser Jugendlichkeit geht Offenheit einher. Das kann allerdings auch zu Arroganz führen nach dem Motto: Alte Ideen sind schlechte Ideen. Ich glaube zwar nicht, dass das bei Obama der Fall sein wird. Aber die Gefahr ist da. John McCain wiederum hat sich sein Leben lang eher mit Außen- als mit Innenpolitik beschäftigt. Seine innenpolitische Agenda ist unklar. Es kann sein, dass er sich aufgrund seiner internationalen Erfahrung für Lehren und Strategien aus dem Ausland interessiert. Letztlich hängt es bei beiden aber auch davon ab, wen sie als ihr Führungspersonal auswählen. In jedem Fall steht eine komplizierte Präsidentschaft bevor. Der neue Präsident wird wahrscheinlich mit einer schwierigen wirtschaftlichen Lage konfrontiert sein. Die angespannte Haushaltssituation dürfte nicht viel Spielraum für neue Initiativen lassen. Der Irak bleibt ein Thema, ebenso die Verbreitung von Atomwaffen und der Terrorismus. Und dann der Klimawandel. Ich glaube, dass beide Kandidaten sich dem Thema annehmen werden. Es wird aber viel schwieriger, teurer und anspruchsvoller werden, als sie es jetzt im Wahlkampf zugeben. Die Sozialpolitik hingegen wird mit Ausnahme des Gesundheitssystems keine große Rolle spielen.

Aber Obama spricht doch viel über das Auseinanderdriften der Einkommen. Die Einkommensverteilung in den USA ist so ungleich wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Wird das kein Thema für den neuen Präsidenten?

ELLWOOD: Ohne Frage beschäftigt sich Obama sehr mit Armut und der Ungleichheit der Einkommen. Tatsächlich ist das Thema für beide Kandidaten bedeutsam. Es geht ja nicht nur um Ungleichheit, sondern auch darum, dass sich die Einkommen der Mittelschicht in den letzten Jahren kaum verbessert haben. Zusammengenommen löst das bei vielen Sorgen über Freihandel, Einwanderung und Globalisierung aus. Das wird für beiden Kandidaten zur Herausforderung. Wenn sie keinen Weg finden, den Wohlstand gerechter zu verteilen, könnten sie der Versuchung des Protektionismus erliegen, was sehr kontraproduktiv wäre.

Im Schwerpunkt dieser Ausgabe der „Berliner Republik“ beschäftigen wir uns mit der politischen Kategorie des Vertrauens. Es gibt in Deutschland viele Anzeichen dafür, dass wir es derzeit mit einem Verlust des Vertrauens in die Politiker, sogar in das demokratische und marktwirtschaftliche System insgesamt zu tun haben. An der Kennedy School wird dazu viel geforscht. Wie kann die Politik wieder mehr Vertrauen gewinnen?

ELLWOOD: Wenn die Wirtschaft in einem schlechten Zustand ist und es den Leute nicht gut geht, dann ist es völlig legitim, dass die Menschen ihre Regierungen dafür verantwortlich machen. Solche Frustration ist also zum Teil zyklisch bedingt. Nicht von ungefähr ist Bill Clinton in seinem ersten Wahlkampf mit dem Leitmotiv „It’s the economy, stupid!“ angetreten. Aber davon abgesehen hat das Vertrauen in Institutionen ganz allgemein abgenommen. Das hat erstens etwas mit den Medien zu tun, die miteinander im Wettbewerb stehen. Ein befreundeter Journalist hat einmal zu mir gesagt: „ Chefredakteure kritisieren ihre Reporter oft, weil sie nicht hart genug mit Regierungsvertretern umgehen, aber niemals, weil sie zu hart sind.“ So werden Zeitungen verkauft. Zweitens liegt der Vertrauensverlust auch am Wahlsystem: Anders als in der Wirtschaft gewinnst Du in der Politik nicht nur, indem Du Dich selbst gut präsentierst, sondern indem Du Deine Kontrahenten zu Verlierern machst. Und drittens glaube ich intensiv daran, dass schlechtes Regieren schuld ist. An vielen Ecken verhält sich der Staat so, wie es sich kein privates Unternehmen erlauben könnte. Ein Beispiel aus Amerika sind lange Wartelisten, um einen Führerschein zu bekommen. Wenn der Privatsektor immer effizienter wird, der staatliche Sektor aber nicht, werden die Leute frustriert. Genau deshalb macht politische Führung einen Unterschied aus: Wir brauchen Politiker, die den Willen ausstrahlen, die Dinge zu verbessern und Wege zu finden, die konkreten Probleme der Menschen zu lösen. Wenn das geschieht, wird auch besser regiert. Das ist dringend nötig, denn die Probleme wachsen mit jedem Tag. Trotzdem halte ich an meiner naiven Vorstellung fest, dass wir alle – Politiker oder Privatpersonen – etwas tun können, um die Welt ein bisschen besser zu machen. Und dass es unsere Verantwortung ist, dafür auch Opfer zu bringen.

Vielen Dank für das Gespräch!

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