»Desinteresse und Verachtung sind das Problem«

Knapp anderthalb Jahre nach dem Bekanntwerden des NSU-Terrors hat mit dem Gerichtsprozess in München die juristische Aufarbeitung begonnen. Zugleich endet mit dem Untersuchungsausschuss des Bundestages ein erster Teil der politischen Aufklärung. Benjamin Triebe hat mit der Publizistin und Ausschuss-Beobachterin MELY KIYAK über die Probleme, Absurditäten und möglichen Konsequenzen gesprochen, die mit dem NSU-Komplex verbunden sind

Mely Kiyak, welchen Eindruck haben Sie bisher vom Gerichtsprozess zum NSU-Terror, speziell mit Blick auf seinen umstrittenen Vorlauf?

Ich wünschte, ich könnte zum Prozess wirklich etwas sagen. Wie die meisten anderen Journalisten kann ich aber keinen echten Eindruck davon gewinnen, weil dem Prozess nur wenige Medienvertreter beiwohnen dürfen. Und das ist schon eine sehr skurrile Situation, dass wir als Journalisten den Gegenstand unserer Berichterstattung nicht direkt verfolgen können. Uns ist es nur möglich, die Berichterstattung der anwesenden Journalisten zu kommentieren. Das lehne ich jedoch strikt ab, weil seriöse Berichterstattung auf diese Weise überhaupt nicht möglich ist. Als Nicht-Anwesende, die sich mit dem NSU seit über einem Jahr auseinandersetzt, kann ich quasi nichts zum Prozessgeschehen sagen, weder inhaltlich noch formell.

Vor kurzem haben Sie gesagt, dieser Zustand sei kritisch für die Pressefreiheit. Haben Sie seitdem eine sinnvolle Erklärung dafür gehört, warum es in Deutschland nicht möglich ist, bei einem derartig bedeutenden Prozess ausreichend Medienplätze zur Verfügung zu stellen?

Es gibt keine sinnvolle Erklärung dafür. Politisch und rechtlich dürfen wir zwar frei berichten, kommen aber nicht als Augenzeugen in den Gerichtssaal. Dabei hat eine seriöse Berichterstattung viel damit zu tun, selbst Augenzeuge zu sein und sich nicht auf die Berichte anderer verlassen zu müssen. Die wenigen Presseplätze sind daher schon eine Katastrophe. Und: Wir sprechen hier nicht über vier- oder fünfhundert Journalisten aus aller Welt, sondern über 120 Journalisten, die akkreditiert werden wollen. Dann zu sagen, es gebe Platzprobleme, finde ich wahnsinnig primitiv.

Lenkt die Debatte um die Presseplätze nicht von den eigentlich bedeutenden Fragen ab, die in dem Prozess behandelt werden sollten?

Eigentlich ist der gesamte NSU-Komplex eine Geschichte der Ablenkung. Anstatt ausführlich über die Strukturen des NSU oder das Versagen einzelner Behörden zu sprechen, sind wir immer nur mit Äußerlichkeiten beschäftigt. Zum Beispiel mit der Frage, ob wir den Verfassungsschutz brauchen oder ob man bestimmte Behörden zusammenlegen muss. Das sind Fragen, die man immer und jederzeit diskutieren kann, aber doch nicht während man über den NSU an sich spricht. So nutzen die verschiedenen politischen Interessengruppen das NSU-Thema, um das zu verhandeln, was sie ohnehin immer verhandeln wollen und arbeiten sich mit ihren Forderungen am NSU ab. Über den NSU selbst wird dabei gar nicht gesprochen, weshalb wir über ihn bis heute kaum etwas wissen: Wer ist denn der NSU? Gehörten die Mörder von zehn Menschen tatsächlich einer terroristischen Vereinigung namens NSU an? Wie groß ist das dazugehörige Netzwerk? Anstatt über diese Fragen zu berichten, empören wir uns medial ständig über irgendwelche „Aufreger“.

Wird die juristische Aufarbeitung zur Aufklärung beitragen?

In dem Prozess wird nur die Schuld der fünf Angeklagten verhandelt und nichts anderes. Da man jedoch keine sicheren Erkenntnisse hat, besteht die Hoffnung, dass im Zuge der Gerichtsverhandlung aus Versehen mehr herauskommt. Die Aufklärung muss aber letztlich woanders stattfinden. Was machen eigentlich das BKA und seine Ermittlungseinheit „Trio“ seit anderthalb Jahren, die im Übrigen auch keine Prozessbeobachter vor Ort haben? Mir scheint, wir haben noch immer einen unaufgeklärten Fall und kennen bei den einzelnen Taten gar nicht alle beteiligten Mörder. Die wenigen Dinge, die wir wissen, wissen wir nur, weil parlamentarische Untersuchungsausschüsse getagt haben und weil Akten an die Öffentlichkeit gelangt sind – zumindest die, die man nicht vernichtet hat. Im Grunde kann man sagen, dass der Bundestagsuntersuchungsausschuss in einem Jahr wahrscheinlich mehr zutage gefördert hat als 14 Jahre Ermittlungsarbeit über mehrere Bundesländer hinweg.

Wie beurteilen Sie in diesem Zusammenhang das Engagement der Medien? Schließlich haben Sie vor ungefähr einem Jahr starke Kritik an Ihren Presse-Kollegen geübt – diese würden sich für den NSU-Ausschuss nicht interessieren. Hat sich die Berichterstattung seitdem verändert?

Ich habe bis zum November letzten Jahres regelmäßig den Untersuchungsausschuss besucht und in den ersten Monaten saßen dort nur eine Handvoll Leute, von denen vielleicht die Hälfte Journalisten waren. Die andere Hälfte war von Organisationen, die sich dann später zum NSU-Watch-Blog formiert haben, von Gruppen, die ich vorher gar nicht kannte und die zum Thema eine bessere Medienarbeit organisiert haben als die Zeitungen.

Die etablierten Print-Medien haben das Thema also weiterhin vernachlässigt?

Ja. Ich weiß, dass ich mit der regelmäßigen Berichterstattung aus dem Untersuchungsausschuss lange Zeit ziemlich alleine war. Und ich wurde auch gar nicht losgeschickt, das zu machen. Obwohl ich für verschiedene Zeitungen schreibe, hat mich keine darum gebeten. Ich saß nur als Kolumnistin dort. Und von anderen Zeitungen war so gut wie niemand da; hin und wieder vielleicht ein Kollege für wenige Stunden. Das hat unter anderem damit zu tun, dass wir in den Medien nur wenige Rechtsextremismus-Experten haben. Da werden auf einmal Kollegen losgeschickt, die sonst ein bisschen für Islamismus, Innenpolitik oder den Innenminister zuständig sind und die jetzt über den NSU berichten sollen. Bis heute hat auch noch keine Zeitung angeboten, mir die Recherchekosten zu bezahlen oder mich für den Prozess in München zu akkreditieren. Daran können Sie das Interesse der Kollegen ablesen.

Haben viele Journalisten die Dimensionen des NSU-Skandals einfach nicht begriffen oder trauen sie sich nicht an das Thema heran?

Nein, es interessiert die meisten einfach nicht. Diese Taten sind für die Journalisten nicht interessant, weil sie denken, man wüsste bereits alles: „Es gibt da drei Terroristen und die haben etwas mit Rechtsextremismus zu tun.“ Und dann gibt es einen Reflex, der im Zusammenhang mit der Thematik fast immer kommt: „Aber es gibt ja auch Islamismus, und übrigens sind die Türken nicht integriert.“ Dieser Gedanke erzeugt einen merkwürdigen Zusammenhang zwischen den NSU-Taten und der Debatte um Integration. Diese Verbindung hält Journalisten davon ab, in deutschen Medien zu sagen, dass Türken auch unschuldig sein können und dass etwas schief läuft, wenn man sie hierzulande ungestraft ermorden kann. Dabei sprechen wir hier nicht über die Probleme der Migranten-Community, sondern über eine ureigene deutsche Angelegenheit. Es geht um Deutsche, die ein Problem mit Menschen in Deutschland haben, die aufgrund ihres Aussehens oder ihrer Herkunft angeblich kein Teil dieses Landes sein dürfen. Dieses „Problem“ hat der NSU auf seiner Ebene abgehandelt und die Journalisten handeln es auf ihrer Ebene ab, indem sie das Thema mit Desinteresse und extrem wenig Sachkenntnis verfolgen. Da werden heute Sachen als Neuigkeiten verkauft, die ich schon vor einem Jahr im Untersuchungsausschuss gehört habe und die wir längst hätten debattieren können.

Eine solche Gleichgültigkeit würde man eher beim deutschen Durchschnittsbürger vermuten.

Der deutsche Durchschnittsbürger interessiert sich immer nur so weit, wie Jauch, Maischberger oder Illner darüber berichten. Das passiert vielleicht einmal im Jahr zum Jahrestag. In der Zeit, als der NSU-Terror bekannt wurde, gab es zu Bundespräsident Wulff hingegen Dutzende Titelgeschichten über Monate hinweg. Kein Chefredakteur, der sich nicht zu Wulff geäußert hätte. Finden Sie in Deutschland mal drei Chefredakteure, die über den NSU berichtet oder einen Leitartikel dazu geschrieben haben. Und wo wir gerade über Gleichgültigkeit sprechen: Ich kann mich auch nicht daran erinnern, dass sich die wichtigen Spitzenpolitiker, die Parteichefs oder Fraktionsvorsitzenden der im Bundestag vertretenen Parteien entscheidend zum NSU geäußert hätten. Keine bedeutende Rede im Parlament, kein Anspruch, bei diesem Thema Verantwortung für Deutschland zu haben. Die sprechen das Thema einfach nicht an.

Handelt es sich beim Versagen der Sicherheitsbehörden nur um jahrelange Schlampereien und mangelhafte Koordination – oder steckt ein grundsätzliches Problem dahinter?

Normalerweise kennen wir das, was mit dem NSU passiert ist, nur aus Diktaturen oder Staaten ohne Pressefreiheit, auf die wir sonst immer herabblicken: Es formieren sich nationalistische Gruppen, um Morde an Menschen zu begehen, die ihnen politisch nicht passen – und dann wird die Ermittlung der Täter behindert und das zugehörige Beziehungsnetz kann nicht aufgedeckt werden. Aber genau so eine Situation haben wir jetzt hier in Deutschland. Von daher ist der NSU-Komplex weit mehr als eine Serie von Schlampereien.

Haben Sie dieses Bild im Untersuchungsausschuss des Bundestages gewonnen?

Ich habe im Untersuchungsausschuss vor allem Ermittler gesehen, die noch Jahre nach dem offenkundigen Scheitern ihrer Ermittlungen kein Gefühl für ihr Versagen entwickelt haben. Das war unfassbar. Woher nehmen diese Leute eigentlich das Selbstbewusstsein, dort zu sitzen und sich nicht in Grund und Boden zu schämen? Und die sind weiterhin im Amt und haben fast alle Karriere gemacht. Dabei muss man betonen, dass wir hier nicht über Dorfpolizisten sprechen, sondern über unsere Sicherheitselite.

Was sagt dieses Auftreten der befragten Ermittler über unseren demokratischen Rechtsstaat aus?

Dass es in unseren Sicherheitsbehörden offensichtlich auch Leute gibt, denen es nicht so wichtig ist, wenn Türken umgelegt werden. Oder anders formuliert: Die Ermittler haben ja fast alles versucht, um die Mörder im Umkreis der Opfer zu finden. Was müssen diese Ermittler für eine Einstellung gegenüber den betroffenen Leuten haben, dass sie einen solchen Ehrgeiz entwickeln und sich über 14 Jahre fast ausschließlich auf eine Tat unter „kriminellen Türken“ konzentrieren? Was steckt da für eine Energie dahinter? Ich denke, diese Energie speist sich aus der Verachtung für die Opfergruppe. Das zeigt sich dutzendfach in den Akten und auch darin, wie über die Opfer berichtet wurde und wie die Polizei mit ihnen umgegangen ist. Anders kann ich mir das nicht erklären. Nur mit dieser Energie der Verachtung konnten sich Polizisten ohne echte Anhaltspunkte jahrelang so dahinterklemmen. Und das besonders Erschreckende ist, dass dies keine Einzelfälle sind. Es trifft auf ein ganzes Geflecht von Sicherheitsbehörden und Ermittlern zu.

Steckt noch mehr dahinter als latenter Rassismus? Schließlich kann man bei all den Pannen den Eindruck bekommen, dass Teile des Staatsapparats etwas vertuschen wollen.

Das eine ist: Woraus speist sich die Verachtung? Da muss man die, die verachten, fragen: Warum denkt ihr, dass ihr etwas Besseres und die Saubermänner des Staates seid? Warum betrachtet ihr die Verachteten als kleinkriminellen Abschaum, als „Elemente“, die ihr auffliegen lassen wollt? Hinter diesem Denken steckt immer auch ein Herrschaftsgefälle. Und die Quellen der Verachtung haben sicherlich viel mit unserer Geschichte zu tun und damit, wie wir über „die fremden Anderen“ zu sprechen lernen. Zum anderen: Vertuschen ist ein großes Wort. Selbstverständlich versucht jede Behörde, den Vorwurf von sich zu weisen, nicht alles getan zu haben. Ich sage: Ja, sie haben alles getan und versucht, aber aus dieser Energie der Verachtung heraus mit dem Ziel, „den Türken“ etwas nachzuweisen, um diese endlich hinter Gitter bringen oder ausweisen zu können. Aber wer will das schon zugeben? Wer möchte der Erste sein und sagen: „Okay, offenbar haben wir ein Problem mit Türken und zwar nicht nur in der Bevölkerung, sondern auch unter unseren Polizisten.“

Gibt es aufgrund der einseitigen Ermittlungen und falschen Verdächtigungen einen Vertrauensverlust bei Migranten, speziell bei Deutsch-Türken gegenüber dem deutschen Staat?

Ja klar, natürlich gibt es den!

Wie kann das verlorene Staatsvertrauen zurückgewonnen werden? Genügt dafür die Aufklärung, wie sie momentan durch parlamentarische Untersuchungsausschüsse geschieht oder braucht es weitere Gerichtsprozesse?

Das Vertrauen kann man nur zurückgewinnen, wenn wirklich ermittelt wird und entsprechende Ergebnisse präsentiert werden. So dass die Leute merken, die Verantwortlichen haben es kapiert und wollen tatsächlich etwas anders machen. Aber momentan ist genau das Gegenteil der Fall: Befragte in den Ausschüssen machen kaum den Mund auf, Akten verschwinden weiterhin oder werden zurückgehalten. Viele Verantwortliche in Politik und Behörden haben die Notwendigkeit der Aufklärung also offensichtlich immer noch nicht verstanden. Oder sie haben es sehr genau begriffen, wollen aber der Bevölkerung und ihren Wählergruppen die Wahrheit darüber nicht zumuten, was in diesem Land durch Verachtung möglich ist.

Erwarten Sie, dass der Abschlussbericht des NSU-Untersuchungsausschusses im Bundestag daran etwas ändern wird?

Nein. Es hätte schon einiges verändert werden können, aber abgesehen vom koordinierenden „Terrorabwehrzentrum“ ist doch nichts passiert.

Glauben Sie an eine tatsächlich umfassende Aufklärung?

Nein. Denn es gibt einfach zu viele Leute, die kein Interesse daran haben, weil dadurch ihre Karriere und Reputation beschädigt werden könnte. Und das würde auch politischen Interessen von Parteien zuwider laufen, die jahrzehntelang Stimmung gegen Einwanderer gemacht haben, aber jetzt zugeben müssten, dass es auch viele Deutsche gibt, die sich nicht integrieren und an die Gesetze halten. Dadurch würde deren Politik vollkommen unglaubwürdig.

Müssen wir die Sicherheitsstrukturen trotzdem verändern?

Was es vor allem braucht, in den Medien und den Sicherheitsbehörden, ist der Besuch von Rassismus-Kursen, wo alle lernen: Was ist Rassismus und wo beginnt er? Wo fängt mein rassistischer Blick, mein Vorurteil an? Welchen Einfluss hat das auf mein Denken und Handeln? Das wäre ein Anfang.

Was halten Sie von Barbara Johns Vorschlag, ein „Institut gegen rechte Gewalt“ zu schaffen, das sich um die Prävention, Dokumentation und die Berücksichtigung der Opferperspektive kümmern soll, sowie als Beschwerdestelle für polizeiliches Fehlverhalten bei rechtsradikalen Gewalttaten agieren könnte?

Ich dachte eigentlich, eine solche Institution hätten wir bereits und zwar in Form der Bundeszentrale für politische Bildung. Sie wurde schließlich vor 60 Jahren gegründet, um in Deutschland die Demokratie zu stärken und Stigmatisierungen von Bevölkerungsgruppen vorzubeugen. Sollte nicht eigentlich die Bundeszentrale, die dem Innenministerium unterstellt ist, diese Aufgaben übernehmen und über rechte Gewalt aufklären?

Ansonsten sind die notwendigen Strukturen doch alle vorhanden. Wie viele Behörden und Institutionen will man denn noch gründen? Was machen eigentlich die Kultusministerien oder die Antidiskriminierungsstelle? Was sagt das Familienministerium zu der Frage, wie wir Kinder gegen Rassismus weitgehend immunisieren können? Es ist alles vorhanden, die Strukturen müssen nur genutzt werden. Aber mit dem aktuellen Regierungspersonal wird da nichts passieren – mit einer Familienministerin, die von Deutschenfeindlichkeit faselt, oder einem Innenminister, der inmitten des NSU-Debakels und der Einweihung einer Gedenkstätte für ermordete Roma im Nationalsozialismus davon spricht, dass zu viele Roma nach Deutschland kämen. Mit solchen Leuten können wir keine antirassistische Gesellschaft hinbekommen. Dafür brauchen wir gebildetes und seriöses Personal.

Tragen die öffentlichen Debatten über mangelnde Integration zum latenten Rassismus bei? Gibt es vielleicht sogar einen Zusammenhang zwischen „Wortgewalt“ und „Tatgewalt“?

Ich finde, das muss man differenzierter ausdrücken, denn es gibt einen Unterschied, ob man über jemanden abfällig spricht oder eine Person ermordet. Bei beidem spielt aber Enthemmung eine Rolle und die kann durch die stattfindenden Debatten befördert werden – besonders durch Gesprächsdynamiken, die dazu beitragen, anderen Menschen mit weniger Empathie und größerer Distanz gegenüberzutreten. Wenn zum Beispiel in den Medien andauernd ein negatives Bild von „Türken“ oder „Arabern“ gezeichnet wird, sinkt die Hemmschwelle, Angehörige dieser Gruppen schlecht zu behandeln und sie auszugrenzen, selbst wenn ihnen etwas Schlimmes widerfährt. In anderen europäischen Ländern oder auch den USA läuft das anders ab. Dort würden die Menschen zusammenrücken, wenn sie mit etwas Ähnlichem wie der NSU-Mordserie konfrontiert wären. In Norwegen etwa, nach dem rechten Terror von Anders Breivik, sagte das ganze Volk: „Wir lassen keinen Keil zwischen uns treiben“. Diese Reaktion bleibt in Deutschland jedoch aus.

Warum ist die Reaktion der deutschen Zivilgesellschaft nach Bekanntwerden des NSU-Terrors so verhalten ausgefallen?

Weil die meisten Deutschen so genervt sind von Türken. Da herrscht das Gefühl, millionenfach überrollt zu werden: „Die nehmen uns unser schönes Land weg und machen alles kaputt. Wenn dann ein paar von denen sterben, dann sollen die sich mal nicht so anstellen, die bringen uns ja auch ständig um.“ Diese Argumentation fand sich zum Beispiel in Leserbriefen an mich, als ich über den NSU schrieb. Da hieß es, ich solle doch auch über die Taten berichten, die „meine Leute“ verüben. Aber genau das tue ich: Ich berichte doch über „meine“ Leute, wenn ich als deutsche Staatsbürgerin über den NSU schreibe. Auf genau dieser Ebene betrachten die so genannten Türken das Problem. Sie fühlen sich als Bürger angegriffen und wollen wie Bürger behandelt werden. Die wollen gar kein besonderes Mitleid, sondern bloß eine faire Behandlung.

Die Reaktion der betroffenen migrantischen Bevölkerung war übrigens extrem ruhig. Ich hätte mich nicht gewundert, wenn Jugendliche mit Migrationshintergrund in unseren Städten mit Gewalt auf den NSU-Komplex reagiert hätten. Stattdessen tritt das Gegenteil ein und die meisten Leute resignieren. Es ist wie eine kollektive Depression, die über der migrantischen Community liegt. Dies hängt auch damit zusammen, dass die Mehrzahl der türkischen Einwanderer kein Wahlrecht hat. Sie nehmen nicht am politischen System teil und bleiben passiv.

Sie sprachen von mangelnder Empathie gegenüber Migranten. Wie oft haben Sie selbst das Gefühl, auf ihren migrantischen Hintergrund reduziert zu werden?

Das erlebe ich permanent. Vielen fällt es schwer zu sagen: „Das ist eine deutsche Publizistin, die sich mit einem innerdeutschen Problem beschäftigt, nämlich Rechtsterrorismus.“ Stattdessen werde ich oft als diejenige vorgestellt, die sich mit Integrationspolitik beschäftigt, was nicht stimmt. Andererseits habe ich das Gefühl, dass viele es brauchen, den Migrationshintergrund zu erwähnen. Die Leute halten es gar nicht aus, mich ohne dieses Etikett vorzustellen.

Was muss sich in Deutschland ändern, damit das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft stärker von Empathie und Solidarität geprägt ist?

Man kann Solidarität und Empathie nicht verordnen. Ich glaube, die Gewährleistung einer guten humanistischen Bildung ist eine wichtige Bedingung. Abgesehen davon wäre schon viel erreicht, wenn Politiker, Beamte und Journalisten einen guten Job machen würden. Sie müssen den Ehrgeiz haben, eigene Fehler und fachliche Defizite zu beheben. Dazu gehört auch, selbstkritischer zu sein und sich intensiver über die Themen Rechtextremismus und Migration zu informieren.

Herzlichen Dank für das Gespräch.

(Im Unterschied zu unserer Printausgabe handelt es sich hierbei um eine längere Version des Interviews)

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