Auf der Suche nach dem besseren Leben

In seinem aktuellen Buch »Die ungleiche Welt« analysiert der renommierte Ökonom BRANKO MILANOVIC den Zusammenhang zwischen Ungleichheit und Migration. Mit dem Experten für Einkommensverteilung und früheren Mitarbeiter der Weltbank sprach »Berliner Republik«-Redakteur Benjamin Triebe

Sie beschreiben die zunehmende Einkommensungleichheit als ein globales Problem. Wie wirkt sich die ungleiche Verteilung von Einkommen auf Migrationsbewegungen aus?

Das Phänomen der globalen Ungleichheit setzt sich formal aus zwei Teilen zusammen: erstens aus den Ungleichverteilungen innerhalb der einzelnen Staaten und zweitens aus den Unterschieden zwischen den Durchschnittseinkommen verschiedener Länder, etwa zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko oder zwischen Deutschland und Libyen. Die zwischenstaatlichen Einkommensunterschiede erklären fast zwei Drittel der gesamten globalen Ungleichheit – und sie sind verantwortlich für den Anreiz auszuwandern und erzeugen Migrationsdruck. Man muss verstehen, dass sich Wirtschaftsmigration – im Gegensatz zur Flucht vor Krieg – nicht plötzlich und aus heiterem Himmel vollzieht. Vielmehr ist sie ein wesentlicher Bestandteil der Globalisierung, die nun mal unter den Bedingungen großer Einkommensunterschiede zwischen den Ländern stattfindet. Mal angenommen, die Welt wäre in Bezug auf die Einkommen relativ homogen, etwa wie die 15 EU-Staaten vor der Osterweiterung 2004, dann würden Menschen zwar immer noch aus kulturellen oder klimatischen Gründen ihre Heimatländer verlassen, aber nicht so viele wie heute. Dasselbe würde gelten, wenn es zwar Einkommensunterschiede gäbe, aber keine Globalisierung und keine Kenntnisse über die weltweite ökonomische Lage. So wie im 19. Jahrhundert, als die Chinesen fast nichts vom Einkommensniveau in Europa wussten. Erst niedrige Transportkosten, große Unterschiede bei den Durchschnittseinkommen und das Wissen darum entfesseln die Kräfte großer Migrationsbewegungen.

In Deutschland wird derzeit viel über Flüchtlinge und ihre Gründe, nach Europa zu kommen, gestritten. Stellen die zwischenstaatlichen Einkommensunterschiede in Ihren Augen eine wichtige Ursache dar?

Ja, denn sie beeinflussen den Zielort der Migration. Auch Kriegsflüchtlinge versuchen, dorthin zu reisen, wo sie mehr verdienen und ein besseres Leben führen können. Das ist auch nichts -Besonderes oder Einzigartiges, in der vorangegangenen Phase der Globalisierung zwischen 1850 und 1914 fanden ähnliche Prozesse statt: Menschen aus Süd- und Osteuropa sowie Irland emigrierten massenweise in die Vereinigten Staaten, nach Kanada oder Lateinamerika; Chinesen gingen nach Südostasien oder kamen in die USA, bevor sie durch den Chinese exclusion act davon abgehalten wurden; außerdem gab es die Inder, die nach Ostafrika, Südostasien und in die Karibik auswanderten. Warum verließen diese Menschen ihre Heimatländer und wurden oft zu Vertragsarbeitern, um die Kosten ihrer Reise bezahlen zu können? Weil sie hofften, in ihren Zielländern ökonomisch besser dran zu sein als zuvor. Und so ist es auch heutzutage.

Erwarten die Migranten, die nach Europa wollen, womöglich zu viel davon – auch angesichts der Ungleichheit innerhalb der reichen Länder?

Wahrscheinlich unterschätzen wir bei jedem radikalen Ortswechsel in unserem Leben die damit verbundenen Schwierigkeiten, aber letztlich klappt es irgendwie. Der Wirtschaftswissenschaftler Albert O. Hirschman hat dieses Phänomen das Prinzip der hiding hand genannt: Viele ökonomische Projekte wären niemals in Angriff genommen worden, wenn man alle Schwierigkeiten vorausgesehen hätte. Aber letztlich ist es gut, dass wir sie angepackt haben, denn nur so wurden die auftretenden Probleme gelöst. Dies gilt wahrscheinlich auch für Migranten: Sie mögen unrealistische Vorstellungen haben und eine Phase der Desillusionierung erleben, aber am Ende werden die meisten von ihnen in ihren Zielländern bleiben wollen.

Warum fühlen sich Teile der europäischen Mittelschicht von Zuwanderung dermaßen bedroht, dass sie sich Populisten und Nationalisten zuwenden?

Dafür gibt es meines Erachtens drei offensichtliche Gründe. Erstens, ganz allgemein, war Europa bisher kein Kontinent der Einwanderer, sondern der Auswanderer. Es gab seit der Völkerwanderung in der Spätantike oder der mongolischen Invasion keinen großen Zufluss „fremder“ Bevölkerungen nach Europa. Vielmehr waren es die Europäer gewöhnt, ihren Kontinent zu verlassen, um den Rest der Welt zu erobern. Zunächst einmal fehlt also die Vertrautheit mit der Idee, dass Fremde unter den europäischen Einheimischen leben könnten. Zweitens kann sich der Wettbewerb mit den neu Zugewanderten auf die Löhne und Arbeitsplätze der Mittelschicht auswirken. Darüber wird unter Ökonomen stark debattiert. Insgesamt fallen die wirtschaftlichen Effekte von Migration leicht positiv aus, doch für manche Gruppen von Arbeitern können sie nachteilig sein. Dadurch entstehen natürlich Probleme – wie bei jeder ökonomischen Verschiebung. Drittens kommt ein kulturelles Element hinzu. Viele Europäer sind zufrieden mit bestimmten Errungenschaften der Aufklärung: der Trennung von Staat und Kirche, der Gleichberechtigung der Geschlechter, dem Diskriminierungsverbot aufgrund von Religion oder Aussehen. All diese Grundsätze geraten unter Druck, besonders durch manche muslimische Immigranten, die weder die Trennung von Religion und Staat noch gleichberechtigte Geschlechter akzeptieren. Dies bringt die westlichen Länder in ein riesiges ideologisches Dilemma: Akzeptieren sie, dass ihre fundamentalen Regeln relativiert werden – oder versuchen sie, ihre Regeln Menschen aufzuzwingen, die diese Grundsätze womöglich ablehnen? Entweder die egalitären säkularen Überzeugungen werden untergraben, oder der Staat wandelt sich vom schutzversprechenden Akteur zum Zwangsapparat. Es gibt dafür keine einfache Lösung und die Leute erkennen das – auch wenn viele Angehörige der Eliten so tun, als gäbe es dieses Problem nicht.

Abschottung ist auch keine Lösung. Wie können Europa und Deutschland besser mit der Zuwanderung umgehen?

Ich denke, die Europäische Union sollte in dieser Frage als eine Einheit agieren, indem sie multilaterale Zuwanderungsquoten für die Länder vereinbart, aus denen derzeit Migranten nach Europa kommen. Dieser Prozess sollte idealerweise alle wichtigen Staaten und Regionen umfassen: die EU, einen Großteil Afrikas, den Nahen Osten, aber auch Länder wie Afghanistan, Pakistan, Indien oder Bangladesch. Das Ziel müsste es sein, länderspezifische Quoten sowohl für abgebende als auch für aufnehmende Staaten festzulegen. Alles über diesem Niveau würde dann nicht akzeptiert werden. Zusätzlich sollte die EU Afrikas Bedürfnis nach wirtschaftlicher Entwicklung viel ernster nehmen als bisher. Gelingt das nicht, wird der Migrationsdruck angesichts der demografischen Trends nur noch schlimmer werden, so dass Europa jährlich mit großen Einwanderungsbewegungen zu kämpfen hätte. Denn in Afrika wird in den nächsten 35 Jahren die Hälfte des weltweiten Bevölkerungswachstums stattfinden.

Was können reiche Länder wie die europäischen Staaten tun, um die Situation in Afrika und im Nahen Osten zu verbessern? Die Vorschläge reichen von einer Ausweitung der Entwicklungspolitik bis hin zu Subventionen für afrikanische Waren.

Ja, das beides kann auf jeden Fall helfen. Europa sollte eine längerfristige, historische Perspektive einnehmen. Das Schicksal Europas, Nordafrikas und des Nahen Ostens sind seit fast 4 000 Jahren miteinander verflochten – die heutige Kluft bei den Einkommen sowie die zunehmende religiöse Trennung rund um das Mittelmeer stellen geschichtliche Anomalien dar. Europa kann nicht isoliert von seinen Nachbarregionen leben. Es muss den afrikanischen Ländern helfen, wirtschaftlich schneller zu wachsen. Noch wichtiger ist zudem eine Stabilisierung des Nahen Ostens. Ich befürchte, diese historische Einsicht haben einige europäische Staaten nicht gehabt, als sie die amerikanische Invasion im Irak oder die Zerstörung Libyens unterstützten. Nun steht fast die gesamte Region in Flammen, die Kriege und Konflikte dort verbinden sich mit einem Mangel an ökonomischen Perspektiven sowie einer überwältigenden Bevölkerungsmehrheit an jungen Menschen. Ist es so verwunderlich, dass sie ein besseres Leben wollen? Doch leider können sie dieses bessere Leben derzeit nur bekommen, wenn sie auswandern.

Herzlichen Dank für das Gespräch.


Branko Milanović, Die ungleiche Welt: Migration, das eine Prozent und die Zukunft der Mittelschicht, Berlin 2016: Suhrkamp, 312 Seiten, 25 Euro

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