Was die SPD nach vorn bringen kann

Jeder Wahlkampf ist ein Unikat. Aber im Wahljahr 2017 werden die Erfahrungswerte vorangegangener Kampagnen noch viel weniger wert sein als sonst üblich. Die SPD muss strategisch umdisponieren, um unter den veränderten Bedingungen erfolgreich zu sein

Der Countdown läuft, es sind nur noch zwölf Monate bis zur nächsten Bundestagswahl. Höchste Zeit für die SPD, sich strategisch so aufzustellen, dass sie die Chancen nutzt, die die gegenwärtige Lage bietet. Realismus ist die Grundlage jeder erfolgreichen Strategie. Das bedeutet, die absehbaren Rahmenbedingungen des Wahljahres zu berücksichtigen, um jene Stärken und Schwächen zu identifizieren, die darüber entscheiden, ob die SPD ihre Wählerbasis halten oder sogar wieder ausbauen kann.

Seit 1998 hat die SPD zehn Millionen Wähler verloren und damit ihre Wählersubstanz halbiert. Bei der Bundestagswahl 2013 glückte es ihr, bescheidene 2,3 Millionen wieder hinzuzugewinnen. Bis Anfang 2016 verharrten die Umfragewerte der SPD bei rund 25 Prozent – trotz gewichtiger Schlüsselressorts in der Hand der SPD und trotz einer sozialdemokratischen Regierungsagenda. Die Union hatte sich derweil bei mehr als 40 Prozent Zustimmung festgesetzt. Erst die Flüchtlingskrise hat die Wählerlandschaft erschüttert: Bei den Landtagswahlen im März brachen die Umfragewerte von CDU und CSU auf circa 35 Prozent ein. Die Popularität der Kanzlerin schwand deutlich. Anders als erhofft verlor auch die SPD bei den Landtagswahlen an Zustimmung; in Umfragen unterschritt sie zeitweise die 20-Prozent-Marke. Angesichts des Aufstiegs der AfD kann eine anhaltende Baisse nicht ausgeschlossen werden.

Bei der Wahl 2017 wird ein Wettstreit um die Regierungsmacht ausgetragen, bei dem die Spielanordnung und die Gewinnaussichten bislang unbekannten Gesetzmäßigkeiten unterworfen sein werden. Früher bewährte Kampagnenmuster werden kaum die erhoffte Wirkung erzielen. Mindestens vier Einschnitte verlangen nach strategischer Umdisposition, um aus der neuen Situation politisches Kapital schlagen zu können.

Warum die Lagerlogik ausgedient hat

Erstens: Das Ende der Koalitionswahlkämpfe ist besiegelt. Künftig werden sechs Parteien im Bundestag sitzen, bedingt durch den Wiedereinzug der FDP und den parlamentarischen Durchbruch der AfD. Entsprechend schrumpft der Stimmenanteil der ehemaligen Großparteien, die sich mit kaum mehr als der Hälfte des Wählerkuchens werden begnügen müssen. Bei einem Sechs-Parteien-Parlament wird die regierungsfähige Mehrheitsbildung dermaßen erschwert, dass sich die Logik des Lagerwahlkampfs oder des Koalitionswahlkampfs ausschließt. Der üblichen Praxis der Parteien, Seite an Seite einen rot-grünen oder schwarz-gelben Koalitionswahlkampf zu führen, ist damit die Grundlage entzogen. Unter dieser Bedingung werden es die Parteien vermeiden, sich im Vorfeld auf bestimmte Koalitionen festzulegen, um sich nicht die Beteiligung an einer lagerübergreifenden Dreiparteienkoalition zu verbauen, die für die Mehrheitsbildung notwendig sein könnte.

Zweitens: Taktisches Wählen ist auf dem Vormarsch. Traditionell entscheiden sich die Wähler für eine Partei, wenn sie fest an diese gebunden sind oder ihre individuellen Wünsche mit den Positionen der Partei möglichst weitgehend übereinstimmen. Da Koalitionswahlkämpfe wegfallen, wird die Stimmabgabe einem Lotteriespiel gleichen. Es wird auf das Zufallsergebnis des Wahlausgangs ankommen, welcher Koalitionskonstellation wahlarithmetisch eine Regierungsmehrheit zugespielt wird. Infolgedessen gewinnt das taktische Wählen an Bedeutung. Das Kalkül, Erfolgschancen einer nicht genehmen Partei zur Regierungsübernahme zu durchkreuzen, wird entscheidend sein. Vielen Wählern wird es darum gehen, eine unerwünschte Partei zu verhindern. So gründete der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann seinen Wahlerfolg in Baden-Württemberg wesentlich auf Leihstimmen, die von der SPD abflossen. Viele dieser Wähler wollten vor allem eine unionsgeführte Regierung verhindern. Oder nehmen wir den Wahlsieg Malu Dreyers in Rheinland-Pfalz: Ihn mussten die dortigen Grünen mit einem starken Wählerabfluss bezahlen. Durch das taktische Wählen gehen den Parteien einstmals loyale Wähler ins Unberechenbare verloren.

Drittens: Die Medien sind kein Freund und Helfer. Die Rolle der Medien für die öffentliche Meinungsbildung und das Meinungsklima im Wahlkampfjahr 2017 wächst. Als politische Akteure werden die Medien ihre eigene politische Agenda verfolgen. Sogar liberale Leitmedien aus Hamburg und München werden die Kanzlerin schonen, nicht aber die SPD. Die Medien bevorzugen tendenziell Schwarz-Grün, während Rot-Rot-Grün mit Bedenken und Antipathien zu rechnen hat.

Viertens: Die Flüchtlingskrise hält ihren Spitzenplatz auf der Themenagenda. Wenn auch keine der Parteien (ausgenommen die AfD) ein Interesse an einem Flüchtlingswahlkampf hat, wird das Thema dominieren. Die innere Sicherheit sowie die Bekämpfung von terroristischer Bedrohung und Ausländerkriminalität wird einen weiteren Schwerpunkt der medialen Aufmerksamkeit und öffentlichen Debatte bilden. Es wird schwer werden, andere Themen und Probleme in den Mittelpunkt des Wahlkampfs zu rücken. Die Flüchtlingskrise steht mit weitem Abstand an erster Stelle der Problemliste der Wähler; klassische Themen wie die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit oder die Sicherung der Renten fallen unter „ferner liefen“. Obendrein werden die Präsidentenwahlen in Österreich, Frankreich und den Vereinigten Staaten sowie die Brexit-Verhandlungen in den Vordergrund der Medienaufmerksamkeit rücken. Auch die Außenpolitik wird in der öffentlichen Debatte ein herausgehobenes Gewicht einnehmen, solange kein Ende der Ukraine-Krise oder des Bürgerkriegs in Syrien in Sicht ist. Hinzu kommt die Frage nach der künftigen Beziehung zwischen Europa und der Türkei und – damit verknüpft – die Zukunft des Flüchtlingsabkommens.

Die Neigung zur selbstquälerischen Nabelschau bindet enorme Energien

Wie sollte sich die SPD bei dieser strategischen Ausgangslage verhalten? Zunächst muss geklärt werden, was die SPD realistisch erreichen kann. Mit Umfragewerten um die 25 Prozent verfügt sie nicht mehr über ein XXL-, sondern nur noch über ein „medium sized“-Format. Keinesfalls kann die SPD darauf spekulieren, stärkste Kraft zu werden. Auf Zahlenspiele darf sie sich nicht einlassen, wohl aber ihren Anspruch auf Bildung einer Regierung offensiv geltend machen. Bekanntlich reicht wahlarithmetisch ein rot-rot-grünes Parteienbündnis mit voraussichtlich etwa 40 Prozent Wählerrückhalt nicht aus. Nur müssten CDU und CSU selbst wieder deutlich Punkte wettmachen, um eine nicht sehr wahrscheinliche Zweierkoalition aus Schwarz-Grün oder Schwarz-Gelb zuwege zu bringen. Ob dies bei sechs Parteien glücken kann, hängt maßgeblich vom Abschneiden der AfD ab.

Es ist notwendig, dass die SPD den Glauben an ihre Reputation und das Selbstvertrauen in ihr gesellschaftliches Gewicht wiedergewinnt. Ihre Neigung zur selbstquälerischen Nabelschau bindet enorme Energien und schadet ihrem Image. Spitzenleute der Partei äußern sich defätistisch und geben öffentlich zu Protokoll, die Partei sei chancenlos. Die SPD muss ihr Verlierer-Image durchbrechen, etwa indem sie ihre Vormachtstellung in vielen Ländern und Städten betont.

Wofür die SPD steht, für wen sie eintritt, wohin sie Deutschland führen will, was sie als Alleinstellungsmerkmal unverwechselbar macht – das alles ist nicht klar erkennbar. Die SPD ist zur Partei ohne markantes Profil geworden. Auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene rackert sie sich fleißig ab, jedoch ohne inspirierenden ideellen Überbau und ohne einen narrativen Deutungsrahmen, der politische Gestaltungskraft vermittelt. Dass die SPD die kulturelle Hegemonie innehatte und den Zeitgeist verkörperte, ist 40 Jahre her. Die SPD ist eine solide politische Handwerkspartei, die aber nicht die notwendige Weitsicht ausstrahlt, um Deutschland zu führen.

Diese Profilverwässerung hat auch mit der Marke SPD selbst zu tun, von der etwas Verschlissenes und Vergilbtes, etwas Dröges und Langweiliges ausgeht. Die SPD hat zwar kein Image als Ruhestands- und Sofakissenpartei, aber ihre Schaffenskraft beschränkt sich in der Wahrnehmung der Menschen weitgehend auf staubtrockene politische Sachbearbeitung. Dazu passen der typische Politikersprech und Technokratenjargon. Nichts erinnert mehr an den Charakter einer politischen Schicksals- und Kampfgemeinschaft. Nirgends ist jugendlicher Flair, Esprit und Pep erkennbar; eine spritzige Ideenwerkstatt ist die Partei schon lange nicht mehr. Und was das Personal an der Spitze angeht, ist die Generationsverengung auf ergraute Endfünfziger frappierend.

Das nie erloschene Feuer einer Utopie solidarischer Gerechtigkeit

In ihrem Kern ist die SPD eine unverzichtbare Kümmererpartei für die Alltagsnöte der breiten Massen. Den Normalbürgern gibt sie das Gefühl, mit ihren Sorgen bei der SPD gut aufgehoben zu sein. Nur darf sie sich nicht auf eine pragmatische Dienstleistungsagentur für die Alltagssorgen der normalen Menschen beschränken. In ihr brennt das über 150 Jahre hinweg nie erloschene Feuer einer Utopie solidarischer Gerechtigkeit und gleicher Lebenschancen für alle. Hierdurch vermag die alte Tante SPD nach wie vor Menschen mit dem glaubwürdigen Versprechen anzuziehen, die Gesellschaft vor ökonomischer Gier, sozialer Kälte, einer Ellenbogenmentalität und der Entwertung von Arbeit zu schützen. Gegen Ungerechtigkeiten, die die Lebenschancen beeinträchtigen und den sozialen Frieden gefährden, kämpft sie an. Wichtig ist, dass die SPD zu ihrem Charakter als mutige, tatkräftige Partei zurückfindet. Dass sie vorprescht, klar Position bezieht und dem Druck der Medien standhält. Dass sie der Wirtschaft und mächtigen Interessengruppen die Kante zeigt. Und dass sie der Politik wieder zu ihrem Recht verhilft, der Wirtschaft und dem Finanzkapital Grenzen aufzulegen.

Die SPD musste in der Bundesregierung und in verschiedenen Landesregierungen erneut die enttäuschende Erfahrung machen, dass sie auf dem Gebiet der Wirtschaftskompetenz keine leistungsgerechten Meriten einfährt. Es ist wie verhext: Nicht die SPD, die den Wirtschaftsminister stellt, sondern die Union heimst die Wertschätzung für die sozialdemokratische Wirtschaftspolitik ein. Auch auf dem Gebiet der inneren Sicherheit, ist der traditionelle Kompetenzvorsprung der Konservativen schwer zu verringern. Umgekehrt ist der SPD die im Wählerbewusstsein verankerte Zuschreibung von sozialer Gerechtigkeit nicht zu nehmen.

Die gute Nachricht: Die Bürger wünschen sich mehr soziale Gerechtigkeit. Die SPD muss ihre Politik deshalb immer von der sozialen Gerechtigkeit herleiten. Weil der Begriff vieldeutig und abstrakt ist, muss er auf konkrete politische Projekte heruntergebrochen werden. Allerdings sollte sich die SPD nicht auf die soziale Gerechtigkeit beschränken. Die gewandelte internationale Krisenagenda spielt der SPD die zusätzliche Profilierungschance zu, ihren seit Willy Brandts Zeiten existierenden Markenkern der Friedenspartei zu revitalisieren. Deutschlands Rolle in der Welt als Land der guten Nachbarschaft ist eine Kernidee, die eine Abgrenzung gegenüber der Union ermöglicht. Und schließlich bietet sich für die SPD als weiteres Profilierungsfeld die Geschlechtergleichstellung. Manuela Schwesig hat mit dem Familiengeld, der Entgeltgleichheit und der paritätischen Besetzung von Unternehmensvorständen die geeigneten Themen bereits besetzt. Auf diesen Gebieten besteht die Chance, familien- und geschlechterpolitische Kompetenz zurückzuholen und das Frauendefizit in der Wählerschaft der SPD auszubügeln.

Die SPD und die Mitte – eine komplizierte Geschichte

Grundsätzlich lässt das Wahlprogramm der SPD kein Politikfeld aus. Der durchschnittliche Wähler nimmt davon allerdings kaum etwas zur Kenntnis. Die Wähler bringen nur diejenigen Themen mit der SPD in Verbindung, die ihnen unter den Nägeln brennen und bei denen sie der SPD Lösungskompetenz zutrauen. Vor diesem Hintergrund muss das Agenda-Setting vom Kompetenzprofil der Partei her gedacht werden. Dabei sollte sich die SPD auf jenen Feldern profilieren, auf denen sie über Reputation verfügt und auf denen sie sich von ihren Konkurrenten am deutlichsten unterscheidet. Wenn die Wähler dann noch ihre Interessen von der SPD vertreten fühlen, werden sie die Partei auch wählen. Sachkompetenz allein wird der SPD keine zusätzlichen Stimmen einbringen. Es muss immer auch deutlich werden, für wen sie Politik macht und wessen Interessen sie dabei vertritt – und wessen gerade nicht. Ross und Reiter müssen klar benannt werden, auch wenn dies Gegeninteressen auf den Plan ruft. Diese schaffen neue Möglichkeiten der Abgrenzung und Eigenprofilierung.

Derzeit wird in der SPD eine imaginäre, von der Wirklichkeit losgelöste Debatte über die „Mitte“ geführt, die am Alltag und Erfahrungshorizont großer Teile der sozialdemokratischen Wählerschaft vorbeigeht. Die Parteiflügel tragen einen strategischen Richtungsstreit aus. Während die einen darauf zielen, ehemalige Mitte-Wähler der CDU zurückzuholen, plädieren die anderen dafür, Solidarität mit den Schwachen der Gesellschaft zu üben. Den Protagonisten geht es dabei gar nicht primär um den Wiederaufstieg in der Wählergunst; in Wirklichkeit handelt es sich um eine Auseinandersetzung um das Verhältnis der SPD zur gesellschaftlichen und politischen Mitte, die Identität der Partei und ihre Grundausrichtung. Die Mitte als Catchword semantisch zu okkupieren, ist allerdings nur insoweit sinnvoll, wie sie einen Anziehungspunkt für die Mainstream-Gesellschaft bildet. Das tut sie aber nicht mehr. Die Mitte ist längst enthomogenisiert und driftet auseinander – nach oben und nach unten.

Als Selbstbeschreibung und Zielgruppe hat die Mitte innerhalb der SPD eine bewegte Geschichte hinter sich, wobei die CDU bis heute den Alleinvertretungsanspruch erhebt, die „Partei der Mitte“ zu sein. Deshalb warf die SPD Anfang der siebziger Jahre unter Willy Brandt erstmals den Fehdehandschuh mit dem Begriff „neue Mitte“ in den Ring. Damit verband sich ein inhaltliches Reformprojekt, mit dem eine politische Allianz zwischen dem demokratischen Sozialismus und dem sozialen Liberalismus geschmiedet werden sollte. Später griff Franz Müntefering die Mitte als Kampfbegriff gegen die Union wieder auf: Während die SPD seit 1998 strukturell, inhaltlich und habituell ins Zentrum des Parteiensystems gerückt sei, so Müntefering, wäre die CDU an den „Rand“ gedrängt worden. Unter Gerhard Schröder wurde erneut auf die „neue Mitte“ als Zielgruppenkonglomerat aus herausgehobenen Berufsgruppen rekurriert, für die sich die SPD im Zusammenhang mit dem „Dritten Weg“ stark machen wollte. Die SPD als „Schutzmacht der kleinen Leute“ fiel dabei unter den Tisch. Angesichts des Wahldesasters von 2009 ließ es sich Sigmar Gabriel auf dem Dresdner Parteitag desselben Jahres nicht nehmen, die Mitte der Schröder-Ära als „neues Gespenst“ abzuqualifizieren.

Ihrer Nachfolgerin, der „solidarischen Mitte“, war nur ein kurzes Leben beschieden. Schon kurz darauf hob die Parteispitze die „arbeitende Mitte“ aus der Taufe, die der „neuen Mitte“ aber wie aus dem Gesicht geschnitten schien. Seit den Landtagswahlen im März ist von der „arbeitenden Mitte“ nicht mehr die Rede – völlig zu Recht. Denn die arbeitende Mitte ist als strategische Wählergruppe einerseits zu amorph und disparat. Andererseits schließt der Begriff die vielen Rentner und Sozialleistungsempfänger wie auch nicht erwerbstätige Frauen und Jungwähler aus.

Überhaupt ergäbe das Bestreben der SPD, sich als Partei einer wie auch immer gearteten Mitte aufzuschwingen, nur dann Sinn, wenn sie diese auch verkörpern würde: Die umworbenen Zielgruppen müssten sich in der Partei wiedererkennen und sich mit ihr identifizieren. Die Crux ist allerdings, dass sich die Mittelschicht in Bezug auf die Berufsstrukturen sowie politische Selbsteinschätzungen und Präferenzen heterogen zusammensetzt. Eine Scheidelinie besteht etwa zwischen den Beschäftigten im staatlichen Sektor und in der privaten Wirtschaft.

Mitte und Arbeiterschaft ziehen nicht mehr am selben Strang

Die Mitte spiegelt noch die heile Welt des „Wohlstands für alle“ wider, bevor die soziale Ungleichheit drastisch anstieg. Seit den achtziger Jahren kam es zu einer vertikalen Spaltung zwischen ökonomischen Modernisierungsgewinnern und -verlierern sowie später zwischen Globalisierungsgewinnern und -verlierern. Die Folge: Eine wachsende Schicht ökonomisch prekarisierter und sozial abgehängter Menschen fühlt sich von der SPD nicht mehr vertreten und hat sich abgewendet. Dass die alte Mitte-oben- und Mitte-unten-Koalition nicht mehr trägt, zeigt sich am Abfluss von Teilen des oberen Wählersegments zu den Grünen und am Einbruch der SPD im „Kleine Leute“-Milieu – sowie unter den Arbeitern. Städtische Wählerhochburgen der SPD gingen vor allem deshalb verloren, weil die Wahlbeteiligung in Brennpunktquartieren drastisch sank. Und viele Wähler, die sich vor dem Abstieg sorgen, wandten sich der Linkspartei oder CDU/CSU zu.

Seitdem sich selbst die besseren Gesellschaftskreise um den Erhalt ihres Status sorgen, ziehen Mitte und Arbeiterschaft nicht mehr an einem Strang. Entsolidarisierungstendenzen tragen dazu bei, dass es zur distinktiven Abgrenzung der bessergestellten bildungsbürgerlichen Kreise von der unteren Mittelschicht und den ökonomisch abgehängten Angehörigen der Unterschicht kommt. In der unteren Mittelschicht haben sich Ängste eingenistet, die um den Erhalt des bescheidenen Wohlstands und den Abstieg in prekäre Beschäftigungsverhältnisse oder Arbeitslosigkeit kreisen. Darüber hinaus ist für die SPD traditionell die arbeitende Bevölkerung strategisch von Gewicht, die sich nach wie vor der Arbeiterschicht zurechnet.

Angesichts dieser breiten sozialen Streuung SPD-affiner Zielgruppen ergibt es wenig Sinn, die Gruppen allesamt über einen Kamm der „solidarischen“ oder „arbeitenden“ Mitte zu scheren. Wie es bereits Willy Brandt mit seiner „neuen Mitte“ vormachte, sollte sich die SPD für ein Wählerbündnis stark machen, das mithilfe einer zündenden, verbindenden Idee heterogene Gruppen zusammenschweißt. Diese Heterogenität muss sich auch personell ausdrücken. Es geht um ein Spitzenensemble der SPD, zu dem der Typus des Arbeiterführers ebenso zählen muss wie der Mann der Wirtschaft, der Robin Hood wie der Parteiintellektuelle, die starke Frau wie das ostdeutsche Schwergewicht, die Reinigungskraft wie die Wortführer der Parteiflügel.

Grundlegend für die weiteren Erfolgsaussichten der SPD wird es sein, ob sie mit den jüngeren kulturellen und ideologischen Umschichtungen und Spaltungen des sozialdemokratischen Wählerlagers auf sensible Weise umgeht. Aufgebrochen durch die Flüchtlingskrise frisst sich ein weiterer Spaltpilz durch die SPD-Wählerschaft hindurch, der von Wolfgang Merkel auf den Begriff der „kommunitaristisch-kosmopolitischen Spannungslinie“ gebracht wurde. Es geht um einen Wertekonflikt zwischen Anhängern linkslibertärer und autoritärer Wertvorstellungen. In dieser Hinsicht verkörpert die sozialdemokratische Wählerschaft mental wie auch kulturell-habituell etwas höchst Ungleichzeitiges. Das eine Lager wird nicht zuletzt durch die SPD-Mitgliedschaft selbst repräsentiert, die weitgehend aus Angehörigen des linksliberalen und progressiven Bildungsbürgertums besteht. Für diese Schicht ist nicht so sehr die alte soziale Frage virulent. Im Vordergrund stehen kosmopolitische Werte wie Weltoffenheit und die Gleichstellung von Minderheiten sowie das tolerante Zusammenleben. Hiervon grenzt sich eine kulturell segregierte Gruppe ab, die sozial mit der unteren Mittelschicht und der Arbeiterschicht verbunden ist. Während es beim klassischen Links-rechts-Konflikt eine stark gerechtigkeitsbetonte und eher linksstehende Position einnimmt, präferiert es kulturell eher autoritäre Haltungen. Dieses Segment betrachtet den Zustrom von Flüchtlingen als eine Bedrohung für seine ökonomische Existenz und als einen Prozess der kulturellen Überfremdung. Sigmar Gabriel hat dieses Empfinden auf die drastische Formel gebracht: „Für die Flüchtlinge tut ihr alles, für uns nichts.“

Im Souterrainmilieu der SPD machen sich die Rechtspopulisten breit

Die graduelle Verbreitung fremdenfeindlicher, ausgrenzender, antiislamischer und sozialchauvinistischer Einstellungen im Untergeschoss der sozialdemokratischen Wählerschaft dient der AfD und anderen rechtspopulistischen Parteien als Ansatzpunkt. Dies ist für die SPD von Brisanz, weil sie nun von einer Entwicklung erfasst wird, wie es sie in anderen Ländern West- und Nordeuropas schon länger gibt, wo rechtspopulistische Parteien gerade im Souterrainmilieu sozialdemokratischer Parteien große Wahlerfolge erzielt haben. Angesichts dieser Gefahrenkulisse die SPD auf eine progressiv linksliberale Mitte-Partei zu verengen, könnte dazu führen, dass sie nicht mehr in der Lage ist, ihre Stammklientel kulturell einzubinden und bei der Stange zu halten. Kleinbürgerliche Wähler und Angehörige der Arbeiterschicht, die sozial der SPD nahestehen, aber gleichzeitig links-autoritäre Werthaltungen präferieren, werden dem Sirenengesang der AfD folgen. Bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt konnte die AfD unter Arbeitern bereits einen Spitzenplatz erklimmen. Zudem wird die SPD in ein Glaubwürdigkeitsproblem verstrickt, wenn sie sich die Alltagssorgen derjenigen Menschen zu eigen machen will, bei denen es „manchmal riecht, gelegentlich auch stinkt“ (Sigmar Gabriel), die aber von links-libertären und weltoffen-humanitären Vorstellungen in der Flüchtlingsfrage abgeschreckt werden.

Um eine weitere Wählerabwanderung zur AfD zu verhindern, muss die SPD Verbindungslinien zwischen den beiden Lagern ziehen. Der Ratschlag von Olaf Scholz, die AfD nicht zu dämonisieren, sondern in der politischen Auseinandersetzung zu stellen, liefert einen wichtigen Ansatzpunkt. Dabei muss die SPD auch in der Praxis den Nachweis erbringen, dass ihre Integrationspolitik gegenüber den Flüchtlingen nicht einseitig auf dem Rücken und zu Lasten der einheimischen einfachen Leute betrieben wird.

Unter Angela Merkel ist die CDU zum Kanzlerinnen-Wahlverein geschrumpft. Ohne Impulse aus der Partei wird Merkel voraussichtlich eine Neuauflage des erfolgreichen Kanzlerinnenwahlkampfes von 2013 inszenieren. Jedoch fällt erschwerend ins Gewicht, dass die von ihr betriebene Flüchtlingspolitik unter der konservativ ausgerichteten Wählerschaft der Union einen Bruch herbeigeführt hat, der maßgeblich den Wiederaufstieg der AfD als rechtskonservativer Konkurrenzpartei fördert. Der Slogan: „Sie kennen mich, vertrauen Sie mir“ verfängt nicht mehr.

Breite Bündnisse schmieden. Früh anfangen. Und bis zum Schluss flexibel bleiben

Die Kanzlerin wird alles daransetzen, durch Agenda-Cutting die Folgeprobleme der von ihr zu verantwortenden Flüchtlingszahlen von sich fernzuhalten. Ihr Sensationsergebnis von 2013 wird sie aber kaum wiederholen können, schon weil sich die FDP einen Teil der zur Union abgewanderten Wähler zurückholen wird. Wie gehabt wird sich die Kanzlerin dem Streit um innenpolitische Entscheidungen entziehen und die Rolle der international gefragten Krisenkanzlerin einnehmen. Diese Strategie könnte durchkreuzt werden, sollte der Flüchtlingsdeal mit der Türkei scheitern.

Das abgebröckelte Wählerniveau der Union und die geschrumpften Sympathiewerte für die Kanzlerin machen die Konservativen angreifbar. Unter Fachleuten war schon immer strittig, ob man eine international prestigeträchtige Amtsträgerin im Wahlkampf offen oder besser subtil attackieren sollte. Im Jahr 2017 hat die SPD aber kaum eine andere Wahl, als die Kanzlerin nicht persönlich, sondern in Bezug auf ihre politische Haltung zu stellen. Sie zu schonen würde der Selbstinszenierung der Kanzlerin als dem politischen Streit enthobene Politikerin in die Hände spielen. Umso weniger nachvollziehbar ist es, wenn Spitzenvertreter des sozialdemokratischen Regierungsflügels sich schützend vor die Kanzlerin stellen, sobald sie von Vertretern der CSU persönlich attackiert wird. Besser wäre es, deutlich zu machen, in welchem Ausmaß sie in die Streitfragen involviert ist und Verantwortung trägt.

Die SPD muss sich nicht neu erfinden. Sie muss sich auf ihre Stärken besinnen. Sie ist keine volksparteiliche Großpartei mehr, sondern auf ein Mittelmaß geschrumpft. Um überhaupt bei Wahlen reüssieren zu können, ist sie darauf angewiesen, ein sozial und kulturell breit aufgestelltes Wählerbündnis zu schmieden. Nur dann wird sie das weitere Auseinanderdriften ihrer potenziellen Wählerschaft verhindern. Klar ist: Der „frühe Start“ macht den Meister. Traditionell schaltet die SPD erst dann in den Wahlkampfmodus, wenn der Kanzlerkandidat ausgerufen wurde und dieser sein Team (samt Werbeagentur) zusammengestellt hat. Aber zu diesem Zeitpunkt müssen die Vorleistungen für die Profilschärfung, die Marschrichtung und das Agenda-Setting bereits längst erbracht worden sein. Übrigens wird der Wahlkampf misslingen, wenn sich die SPD starr an die Regieanweisungen hält und nicht die Flexibilität besitzt, auf unerwartete Ereignisse und Volten der Konkurrenz intelligent zu reagieren. Diese ist bis zum letzten Tag des Wahlkampfs für Überraschungen gut, um die wachsende Zahl von Unentschlossenen für sich zu gewinnen.

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