»Wir marschieren in Richtung Zweidrittel-Demokratie«

Wolfgang Merkel ist einer der renommiertesten deutschen Demokratieforscher. Er ist Professor für Politikwissenschaft an der Humboldt-Universität und Direktor der Abteilung »Demokratie: Strukturen, Leistungsprofil und Herausforderungen« am Berliner WZB. Zudem ist Merkel parteiloses Vollmitglied der SPD-Grundwertekommission. Über den Zustand der Demokratie in Deutschland und Europa sowie die geplante innere Reform der SPD sprach mit ihm »Berliner Republik«-Redakteur Michael Miebach

Gemäß der von der Parteiführung der SPD angestrebten Organisationsreform sollen künftig auch Nichtmitglieder über die Aufstellung von sozialdemokratischen Kandidaten mitbestimmen dürfen. Die Idee ist innerparteilich heftig umstritten. Treibt es Parteichef Sigmar Gabriel mit der demokratischen Öffnung zu weit?

Nein. Zwar ist verständlich, dass Funktionäre und Parteimitglieder für sich ein Monopol bei der Kandidatenaufstellung reklamieren, schließlich haben sie auch eine stärkere Verantwortung gegenüber ihrer Partei und investieren häufig Zeit und Energie – wer etwas leistet, muss davon auch profitieren. Aber im 21. Jahrhundert können Parteien nun mal nicht mehr mit den Organisationsstrukturen aus der Mitte des 20. Jahrhunderts bestehen. Die Volksparteien als Mitgliederparteien werden kaum überleben. Außerdem hat das Ansehen von Parteien, Politikern und Funktionären einen historischen Tiefpunkt erreicht, weil unterstellt wird, dass sich die politischen Eliten abschotten und Parteien „closed shops“ sind. Auch deshalb ist die Öffnung hin zur Gesellschaft überlebenswichtig. Nichtmitgliedern Stimmrechte zu geben, ist nur ein erster Schritt. Aber sofern solche öffentlichen Wahlversammlungen gut laufen und die Partei demonstriert, dass sie zuzuhören vermag, lernwillig ist und inspirieren kann, werden sie zu mehr gesellschaftlicher Demokratie beitragen.

Welche weiteren Schritte der Öffnung sind notwendig?

Parteien sind auf enge Kooperationsbeziehungen mit Organisationen in ihrem Umfeld angewiesen. Sie sollten heute aber nicht mehr die dominante Stellung beanspruchen, die sie noch über weite Teile des 20. Jahrhunderts einnehmen konnten. Anstatt sie nur instrumentell als kollaterale Organisationen zu begreifen, müssen Parteien stärker auf unabhängige Nichtregierungsorganisationen wie Attac, Amnesty International, Umweltschutzverbände oder Transparency International hören – und von den vielen kreativen jungen Menschen lernen, die sich dort engagieren.

Derzeit debattieren Sozialdemokraten in verschiedenen Gremien grundsätzlich über das Thema Demokratie, etwa in der „Zukunftswerkstatt Demokratie und Freiheit“ des Parteivorstandes. Lockt eine solche Expertendebatte heute noch irgendjemanden hinter dem Ofen hervor?

Der sozialdemokratische Slogan „Mehr Demokratie wagen“ aus den siebziger Jahren würde heute nicht mehr verfangen, dafür ist die öffentliche Sache zu stark den privaten Interessen gewichen. Aber gerade weil das so ist, müssen wir darüber nachdenken, wie man die Demokratie unter neuen Bedingungen mit neuem Leben erfüllt. „Mehr Demokratie wagen“ ist ja unverändert richtig. Ein wichtiger Anknüpfungspunkt könnte sein, dass es in der Mitte der Gesellschaft durchaus einen Wunsch nach mehr Mitsprache gibt, etwa bei großen Infrastrukturprojekten. Diese Debatte findet bisher allerdings eher außerhalb von Parteien, Parlamenten und Exekutiven statt.

Das würde der verbreiteten These widersprechen, dass für die meisten Bürger vor allem der Output – also die Ergebnisse – demokratischer Entscheidungsprozesse zählt, während die Input-Dimension, sprich der demokratische Prozess als Wert an sich, seine Bedeutung eingebüßt hat.

Ich bestreite, dass sich die Bürger nur um die Ergebnisse von Politik scheren. Im Gegenteil: Alle Proteste, die wir heute erleben – von den „Wutbürgern“ in Stuttgart bis zu den Empörten in Griechenland oder Spanien – richten sich stark auf die demokratischen Entscheidungsmechanismen. Die Menschen wollen nicht, dass Planungsfeststellungsverfahren nur hinter verschlossenen Türen durchgeführt werden. Sie erwarten, in die einzelnen Planungsstufen eingebunden zu werden. Weil das zu wenig geschieht, blühen übrigens die Nichtregierungsorganisationen, in denen man sich unmittelbar und unbürokratisch aktiv beteiligen kann.

Welche Rolle sollten Volksentscheide künftig spielen?

Wichtiger ist die frühzeitige Einbindung von Bürgern in deliberative Prozesse. Bei Volksentscheiden gilt: Es ist ein naiver Mythos, dass das Volk als Ganzes entscheidet. In aller Regel beteiligen sich die gut situierten Mittelschichten überproportional, was der Demokratie sogar noch einen zusätzlichen Klassencharakter einhaucht, der sich mit dem fortschreitenden Ausstieg der unteren Schichten aus der politischen Beteiligung schon länger abzeichnet. Das haben die Linken oder die Grünen, die Referenden als Kernelement einer demokratischen Erneuerung betrachten, überhaupt noch nicht zur Kenntnis genommen. Ich erinnere nur an die Referenden gegen den Bau von Minaretten in der Schweiz, die „Ausschaffung“ straffällig gewordener Einwanderer oder an die Steuersenkungen in Kalifornien – zugunsten der Besitzenden, zulasten derjenigen, die auf Steuertransfers angewiesen sind. Referenden sind sozial hoch selektiv und tendieren zu konservativen Politikresultaten.

Unter Demokratieforschern scheint es zwei Lager zu geben: Die Optimisten verweisen auf den globalen Siegeszug der Demokratie und betrachten eine gewisse Unzufriedenheit mit ihr als gesellschaftlichen Normalzustand. Pessimisten wie Colin Crouch meinen, wir würden uns in Richtung einer „Postdemokratie“ entwickeln: Politische Akteure und Institutionen werden zunehmend von Privat- und Partikularinteressen beeinflusst, Wahlen verkommen zur PR-Farce, die Medien verhindern vernünftige demokratische Diskurse, globale Unternehmen bestimmen die Politik. Auf welcher Seite stehen Sie?

Beide Seiten haben Recht – aber jeweils nur teilweise. Zum Beispiel war der Siegeszug der Demokratie in den vergangenen drei Jahrzehnten weniger global, als die Optimisten behaupten. Viele neue Demokratien haben trotz formal korrekter Wahlen erhebliche Defekte im Hinblick auf Rechtstaatlichkeit und Menschenrechte – etwa in Lateinamerika, im östlichen Osteuropa oder in Afrika. Hingegen hat Crouch komplett Unrecht, wenn er behauptet, in den vierziger oder fünfziger Jahren hätten wir den demokratischen Moment gesehen, und seitdem folge eine permanente Degeneration der Demokratie.

Aber die Krisensymptome sind doch eindeutig. Um nur zwei zu nennen: Die Wahlbeteiligung sinkt seit Jahren und die Zustimmungswerte für Parlamente und Parteien sind im Keller.

Das allgemeine Krisengejammer lässt sich wissenschaftlich nicht begründen. Die Demokratie in Deutschland ist heute in einem besseren Zustand als Ende der fünfziger und Anfang der sechziger Jahre. Ich erinnere nur an die damalige gesellschaftliche Diskriminierung von Minderheiten oder die Position der Frauen: Heute beteiligen sich Frauen genauso häufig wie Männer an Wahlen, und in den Parlamenten sind sie immer mehr repräsentiert. Gleichzeitig sind Politikbereiche wie die Gleichstellungspolitik oder die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verstärkt in das Zentrum der Politik gerückt. Auch eine Spiegel-Affäre wäre heute so nicht mehr denkbar. Unsere westlichen Demokratien sind sensibler, responsiver, egalitärer geworden. Und dass die Wahlbeteiligung sinkt, ist noch kein Problem per se, zumal sie in Deutschland vergleichsweise hoch liegt. Problematisch ist nur, dass mit dem Rückgang der Wahlbeteiligung eine soziale Selektivität einhergeht: Je geringer die Wahlbeteiligung, desto niedriger die Beteiligung der unteren Schichten – mit der Folge, dass deren Interessen nicht mehr effektiv repräsentiert werden. Dagegen sind die Mittelschichten in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft überrepräsentiert. So marschieren wir in Richtung einer Zweidrittel-Demokratie.

Die SPD hat seit 1990 fast die Hälfte ihrer Mitglieder verloren – ist auch das kein Krisensymptom?

Doch, aber erstens ist der Mitgliederschwund ein europaweites Phänomen, und zweitens betrifft er nicht nur die Parteien, sondern auch Gewerkschaften, Kirchen oder Vereine. Er geht auf die gesellschaftliche Individualisierung zurück und kann von Parteien kaum gesteuert werden.

Wurden die unteren Schichten in früheren Jahrzehnten denn demokratischer repräsentiert?

Mitte des 20. Jahrhunderts bestanden die Unterschichten überwiegend aus ungelernten Arbeitern. Es herrschte häufig Vollbeschäftigung, und sie waren über den Arbeitsmarkt in Wirtschaft und Gesellschaft integriert. Zudem waren viele Mitglieder in den Gewerkschaften, in Vereinen und in der SPD zugleich. Heute sind die unteren Schichten gesellschaftlich und ökonomisch marginalisiert: Die Prekarisierten sind häufig arbeitslos, vereinzelt und an die großen sozialen Organisationen kaum noch angebunden. Sie haben es aufgegeben, sich eine organisierte kollektive Stimme zu geben. Die Volksparteien sind für diese Menschen nicht mehr attraktiv. Auch deshalb werden die unteren Schichten häufig advokatorisch an einer falschen Ecke repräsentiert. Die Debatte, ob das Arbeitslosengeld II um 20 Euro erhöht werden soll, ist einfach daneben. 10 oder 20 Euro mehr werden nichts am Lebensschicksal der Hartz-IV-Empfänger und deren Kinder ändern. Stattdessen brauchen diese Gruppen einen aktivierenden Sozialstaat und ein Bildungssystem, das Chancengleichheit zum Ziel hat. Wir brauchen mehr Angebote für den sozialen Aufstieg – gerade aus Hartz-IV-Familien.

Hat die SPD den Kontakt zu diesen Gruppen auch deshalb verloren, weil sie sich wahltaktisch zu stark zur Mitte hin orientiert hat?

Eine Volkspartei muss möglichst alle Segmente der Gesellschaft ansprechen. Die SPD ist auf die Arbeiter angewiesen – gelernte wie ungelernte – und auf diejenigen, die aus dem Arbeitsprozess hinausgedrängt wurden. Sie muss ein Standbein im linken Lager haben und die weniger Privilegierten prononciert vertreten. Zugleich braucht sie auch ein bewegliches Spielbein in der Mitte, weil der so genannte Medianwähler ausschlaggebend ist, um Wahlen zu gewinnen.

René Cuperus, Intellektueller im Umfeld der holländischen Partij van de Arbeid, vertritt die Auffassung, Sozialdemokraten müssten populistischer werden, um die sozial schwächeren Milieus noch erreichen zu können.

Dieser Ratschlag ist falsch. Populismus umfasst immer demagogische Elemente, er reduziert komplexe Probleme auf einfache Lösungen, und er hat eine Tendenz zum Autoritären und zum Ausschluss bestimmter gesellschaftlicher Gruppen. Das kann keine progressive Politik sein. Allerdings dürfen sich Sozialdemokraten nicht im Namen der politischen Korrektheit verbieten lassen, über bestimmte Probleme in der Gesellschaft
offen zu diskutieren. Das betrifft zum Beispiel Themen wie Einwanderung oder Geschlechteremanzipation, die große Teile der Bevölkerung bewegen. Es geht um einen Mittelweg zwischen der bleiernen politischen Korrektheit und populistischem Zündeln. Wie die innerparteilichen Konflikte um Thilo Sarrazin zeigen, hat die SPD diese Balance bisher noch nicht gefunden.

Ein weiterer Bestandteil der Postdemokratie-These ist die Kritik an den schnelllebigen Medien, die angeblich einen vernünftigen demokratischen Diskurs unterbinden. War es früher wirklich besser?

Zumindest haben Medien heute einen stärkeren Einfluss auf die öffentliche Meinung und damit auf die Politik. Die zunehmende Skandalisierung und Personalisierung in der politischen Berichterstattung kann man beklagen, sie ist aber angesichts der kapitalistischen Verwertungsbedingungen der Medien nicht verwunderlich: Das Interesse an politischen Diskursen lässt nach, aber zugleich sind die Medien gezwungen, ihre Produkte weiter zu verkaufen. Die Medien beeinflussen die politische Agenda und greifen bisweilen tief in die Politik ein. Das gilt nicht nur für Berlusconis Italien, sondern etwa auch für Großbritannien, als Rupert Murdoch 1997 einen impliziten Pakt mit Tony Blair und New Labour schloss. In Deutschland profitierte Gerhard Schröder 1998 von einem Medien-Hype; im Jahr 2005 drängten die großen Medien auf einen Regierungswechsel in Deutschland. All diese Trends lassen sich nicht mehr zurückdrehen.

Die aktuelle europäische Staatsschuldenkrise ist auch eine Demokratiekrise: Die Menschen haben das Gefühl, dass über ihre Köpfe hinweg entschieden wird. Getrieben von den Finanzmärkten und an den nationalen Parlamenten vorbei entscheiden die Regierungschefs über technokratische Monstren wie die „European Financial Stability Facility“. Begründung: Das Vorgehen sei alternativlos. Was muss in Europa geschehen, damit der Souverän wieder das Gefühl bekommt, tatsächlich souverän zu sein?

Die Staaten der Eurozone befinden sich in einem demokratischen Dilemma. Einerseits müssen sie mit den in Not geratenen Staaten solidarisch sein, damit diese aus der Haushaltskrise herausfinden. Andererseits sind die Bürger der meisten Geberländer mehrheitlich gegen eine solche Solidaritätsleistung – und Regierungen müssen in einer Demokratie vor allem die Interessen ihrer Bevölkerungen repräsentieren, die sie nur in gewissen Grenzen selbst formen können. Nun war die europäische Integration bislang stets ein elitengetriebener Prozess, der aber äußerst positive Ergebnisse zeitigte und deshalb von den Bürgern nachträglich auch akzeptiert wurde. Jetzt aber delegitimiert die Bundesregierung die EU hierzulande: Erst zettelt Angela Merkel einen populistischen Diskurs über die angeblich faulen Südeuropäer an, um billige Punkte zu machen. Anschließend macht sie Schritt für Schritt neue Zusagen mit dem Argument, es gebe dazu nun einmal keine Alternative. Stattdessen hätte sie genau erklären müssen, dass Deutschland ökonomisch der größte Nutznießer der Währungsunion ist. Kein Wunder, dass die Deutschen sich als reine Zahlmeister empfinden. Negativ verstärkend kommt hinzu, dass der Deutsche Bundestag in die europapolitischen Entscheidungen kaum – und wenn, nur nachtrabend ratifizierend – eingebunden wird.

Welche Auswege aus diesem Dilemma gibt es?

Im Mehrebenensystem der Europäischen Union erwächst demokratische Legitimität nicht in erster Linie aus den europäischen Organen und Institutionen, sondern immer noch primär aus den national legitimierten Regierungen oder den gewählten Abgeordneten der nationalen Parlamente. Nach wie vor ist die demokratische Legitimität der Regierungen im Europäischen Rat und in den Ministerräten wesentlich stärker als diejenige der europäischen Abgeordneten, die in Ländern wie Polen oder Großbritannien mit Wahlbeteiligungen von weniger als 20 Prozent gewählt werden. Deshalb ist es legitimatorisch ein problematischer Weg, dem Europäischen Parlament mehr Kompetenzen zu geben. Ich glaube, dass nationale Parlamente stärker eingebunden werden müssen. Sowieso erleben wir gerade nicht den richtigen Zeitpunkt, um auf europäischer Ebene weitere Demokratisierungsschritte voranzutreiben. In nahezu allen Mitgliedsstaaten wäre die Bevölkerung extrem skeptisch, wenn Kompetenzen aus dem demokratisch einigermaßen gesicherten nationalen Raum in den ungesicherten europäischen Raum abgegeben würden. Wer mehr Demokratie für die EU fordert, wird sich in politikwissenschaftlichen Oberseminaren Freunde machen. Aber er blendet vollkommen aus, was der Souverän will. Dies kann schwerlich als Demokratie bezeichnet werden.

Herzlichen Dank für das Gespräch. «

zurück zur Ausgabe